Literarische Fragmente 19: Seit jeher unter­wegs

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Von Konrad Pauli – Nein, schön waren sie seit lan­gem nicht mehr: Mutters Geranien. Dennoch wur­de das hal­be Dutzend Stöcke Jahr für Jahr sorg­fäl­tig ein­ge­win­tert im Keller, her­vor­ge­holt im Frühling und auf die immer glei­chen Plätze und Plätzchen ver­teilt. Ein paar Stöcke waren nur­mehr Gerippe, den­noch streng­ten sie sich an, beschei­de­ne Triebe zu mobi­li­sie­ren, aus letz­ten Reserven her­vor­zu­ho­len und sie der Sonne ent­ge­gen­zu­strecken. Das küm­mer­lich­ste Exemplar, alters­schwach und aus­ge­laugt, fand stets an den bevor­zug­ten Platz hoch über der Holztreppe zurück, so dass der Zustand, bezie­hungs­wei­se die zähe Hinfälligkeit der Pflanze von wei­tem schon ein­seh­bar, zu wür­di­gen oder zu bekla­gen, zu bewun­dern oder zu belä­cheln war. Niemals mehr wur­de die Pflanzenerde ergänzt, gar aus­ge­tauscht; eine kräf­ti­ge Moosschicht ver­sie­gel­te den Topf, ent­zog, auf­grund des eige­nen Lebens- und Wachstumstriebes, der erschöpf­ten Erde die letz­ten spär­li­chen Energien. So war das Kränkelnde zum Dauerzustand gewor­den, aber die ver­hut­zel­te, auf halb­ver­holz­te Stengel und dürf­ti­ge Blättchen zurück­ge­stutz­te Geranie ent­wickel­te in ihrer Ergebenheit eine gewal­ti­ge Sturheit und Ausdauer, hat­te kei­nes­wegs im Sinn, Saft und Geist auf­zu­ge­ben und trotz­te dem Zugriff aller Zerstörung. Regnete es, fie­len ein paar Tropfen in den Topf, was wohl genug Nahrung war zum Weiterleben, bezie­hungs­wei­se zum Nicht-ganz-Absterben. Saisonaler Höhepunkt war, wenn zag­haft, unter enor­men Geburtswehen, ein neu­es grü­nes Blatt ent­stand und neben­an eine win­zi­ge Blüte sich halb­wegs öff­ne­te.

Die Schönheit des Kümmerlichen, weit­ge­hend sich selbst Überlassenen war eine Wohltat im Vergleich zur aus­wech­sel­ba­ren Üppigkeit, der strot­zen­den, mit ihrer Herrlichkeit gera­de­zu prah­len­den Gesundheit ande­rer Balkonpflanzen, die oft bloss dem Wettstreit und Ehrgeiz der Blumenhalter ent­spran­gen und dem Vorzeigezwang gehorch­ten.

Unterdessen sind die Texte von Konrad Pauli gesam­melt als Buch erschie­nen:

Foto: zVg.
ensuite, September 2011

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