Was man den Leuten so alles ansieht

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Angenommen, Sie wer­den Zeuge eines Verbrechens auf offe­ner Strasse. Wenige Tage spä­ter ste­hen Sie im Polizeirevier acht Verdächtigen gegen­über und ver­su­chen den Täter zu iden­ti­fi­zie­ren. Zu Ihrem Schutz ste­hen Sie hin­ter einem Einwegspiegel, einer Fensterscheibe, die nur in eine Richtung durch­sich­tig ist. Und nun heben Sie lang­sam den Arm und zei­gen mit dem Finger auf den Schuldigen. Die Handschellen klicken.

Alles dra­ma­ti­siert, von etli­chen Szenen aus Fernsehserien geprägt. Aber die Ausgangslage ist real, Gegenüberstellungen wur­den nicht in Hollywood erfun­den, son­dern gehö­ren in die Kriminalistik.

Das Zürcher Theaterkollektiv mer­ci­max um Karin Arnold hat dar­aus eine Performance-Installation gemacht und über meh­re­re Produktionen wei­ter­ent­wickelt. Was es nun am Theaterspektakel zeigt, trägt den Titel «8:8 – Die Gegenüberstellung». Dabei sit­zen acht Performer acht Zuschauern direkt gegen­über und erzäh­len Geschichten aus ihrem Leben. Wahre Geschichten und erfun­de­ne Anekdoten.

Stimmt, stimmt nicht

Bis die Laienperformer aller­dings begin­nen, ihre Geschichten zu erzäh­len, hat­ten die Zuschauer schon längst Gelegenheit, sich ein erstes «Bild» von ihnen zu machen. Lange sind sie vor dem Publikum gestan­den, haben sich von vor­ne, im Profil, von hin­ten gezeigt und sich den Blicken des Publikums nicht ent­zo­gen. Man hat sie betrach­tet, begut­ach­tet und stu­diert und sich unwei­ger­lich Fragen gestellt wie «Was ist der Mann mit ein­drück­li­cher Statur und Glatze wohl so für einer? Und die jun­ge, zier­li­che Frau, der die blon­den Fransen in die Stirn hän­gen, was ist sie wohl so für eine?». Und weil die­se Gelegenheit des Betrachtens so lan­ge gedau­ert hat und die Performer soviel Nähe zulies­sen, hat­te man gespürt, wie die ima­gi­nä­re Scheibe, die­ser Einwegspiegel, lang­sam und laut­los her­un­ter­ge­fah­ren und im Boden ver­senkt wur­de. Und in dem Moment war klar: Es könn­te auch umge­kehrt sein. Jeder könn­te auf die­ser oder jener Seite der Scheibe ste­hen.

Der Mann mit der Glatze beginnt: «Manchmal den­ke ich, man soll­te die Sklaverei wie­der ein­füh­ren. Es gibt ein­fach zu vie­le Menschen, die nicht wis­sen, wie sie sich beneh­men sol­len.» Stille. «Das mei­ne ich wirk­lich.» Dann kommt der jun­ge, modisch geklei­de­te Mann mit der leicht getön­ten Haut und den schwar­zen Augen. «Ich heis­se Armin Moser und kom­me aus Oberengstringen», sagt er in brei­tem Zürichdeutsch. «Das stimmt nicht ganz. Mein Name ist Ramin Mosayebi und auf der Baustelle nen­ne ich mich jeweils Armin Moser, weil das ein­fa­cher ist. Meine Eltern stam­men aus Persien, ich bin in Oberengstringen auf­ge­wach­sen.» Mosayebi sieht nicht aus, als wür­de er auf einer Baustelle arbei­ten, denkt man. Und da haben wir’s schon wie­der. «Sieht nicht aus, als…» Auch die attrak­ti­ve Dame im gesetz­ten Alter mit den war­men Augen sieht nicht aus, als hät­te sie fünf Jahre in Athens Frauengefängnis ver­bracht. Stimmt aber, sagt sie.

Urteil und Vorurteil, Schein und Sein

Sie erzählt, wie sie sich mit 42 Jahren zum ersten Mal so rich­tig ver­lieb­te. Sie hat­te Mann und Kinder und einen guten Job. Und dann kam der Grieche. «Man weiss, dass man so etwas nicht tut. Man weiss das ja. Aber man kann sich nicht gegen alles weh­ren im Leben. Es gibt Dinge, die tut man ein­fach.» Sie wuss­te: Ihr Liebhaber hat noch ande­re Frauen. Sie leb­te mit dem Gedanken jah­re­lang. Bis sie ihn erschoss.

Nicht jede Geschichte wird am Ende mit einem «stimmt» oder «stimmt nicht» auf­ge­löst. Auch die­se nicht. Aber die­se Geschichte ist schlicht nicht zu glau­ben. Man hängt die­ser Frau kei­ne Schuld an. Und als Zuschauerin spürt man eine kur­ze Erleichterung, dass man sie nicht ver­ur­teilt hat. – Und wenn nun ein ande­rer der acht Verdächtigen die­se Geschichte so oder ähn­lich erzählt hät­te? Zum Beispiel der rei­fe Herr mit tür­ki­schem Namen und soge­nannt anstän­di­gem Auftreten? Oder der bal­kan­stäm­mi­ge Jugendliche mit sei­nem Möchtegern-BMW-VW, weiss mit schwar­zen Felgen?
Warum ver­däch­ti­gen wir wen für was? Wer begeht denn in Wirklichkeit Mord aus Leidenschaft? Klassische Drogendealer und Kleinkriminelle? Oder die net­te Dame von neben­an?

Die Form, die mer­ci­max gefun­den hat, um das Thema Urteil und Vorurteil, Schein und Sein zu behan­deln, ist so nahe­lie­gend und ein­leuch­tend wie gran­di­os. Denn nicht nur gibt es den sehr direk­ten Bezug zur Realität und somit eine fast greif­ba­re Dringlichkeit, son­dern die Zuschauer wer­den auch noch mit ein­be­zo­gen. Ins Stück und in die Frage nach der eige­nen Schuld. Denn jeder Fingerzeig auf einen Verdächtigen fällt auf uns sel­ber zurück. Mercimax zeigt mit «8:8 – Die Gegenüberstellung» etwas, das wir alle längst wis­sen, aber nie­mals beher­zi­gen, weil wir immer wie­der rein­schies­sen. Weil es etwas in uns gibt, das schnel­ler ist, als die abwie­geln­de Auseinandersetzung mit allen Facetten. Wir sehen mehr als wir sehen. Und das ist mei­stens falsch.

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