«Viel kom­mer­zi­el­ler geht’s nicht mehr»

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Von Antonio Suárez Varela - Am 11. November macht der blin­de Sänger und Gitarrist Raul Midón auf sei­ner Europatournee Halt im Zürcher Kaufleuten. Im Interview spricht der 41-jäh­ri­ge Musiker aus New Mexico über Blindheit, sei­ne bis­he­ri­ge Karriere und sei­ne Sicht auf die Popmusik.

 Worin unter­schei­det sich Ihr neu­es Album «A World Within A World» vom Debütalbum («State Of Mind»), das von der Kritik hoch gelobt wor­den ist?

Sie unter­schei­den sich nur in weni­gen Dingen. Die Produktionswerte sind auf die­sem Album anders gewich­tet. Auf «State Of Mind» leg­te ich prak­tisch ein exem­pla­ri­sches Zeugnis ab für mein Gitarrenspiel, aber auf der neu­en Platte ste­hen die ein­zel­nen Songs im Vordergrund, so haben wir es zumin­dest ent­wor­fen. Und was die Produktion betriff, so ist sie etwas viel­fäl­ti­ger: Es gibt A‑cappella-Songs, Songs mit einem com­pu­ter­ge­steu­er­ten Mix ech­ter Instrumente und es hat Streicher auf die­sem Album. Ich den­ke, dass es lyrisch, ein per­sön­li­che­res Album ist als «State Of Mind», denn die mei­sten Songs haben wir wäh­rend den Aufnahmen geschrie­ben. Die neu­en Songs wider­spie­geln, was ich zu jenem Zeitpunkt fühl­te. In die­sen Gesichtspunkten sind sie ohne Zweifel ver­schie­den.

 Eine wich­ti­ge Bezugsgrösse für Sie ist Stevie Wonder. Mit ihm haben Sie auf ihrem letz­ten Album auch zusam­men­ge­ar­bei­tet. Inwieweit ver­dan­ken Sie ihm Ihre künst­le­ri­sche Entwicklung?

Ich den­ke, dass Stevie Wonder zu jener Sorte Musiker gehört, unter des­sen Einfluss man zwangs­läu­fig steht, wenn man in den letz­ten dreis­sig Jahren mit Musik zu tun hat­te wie ich. Er hat mich gewiss inspi­riert. Ich weiss nicht, ob ich mei­ne Entwicklung not­wen­di­ger­wei­se mehr ihm zu ver­dan­ken habe als ande­ren Künstlern. Natürlich ist er eine gewal­ti­ge Inspiration für mich, weil er ein blin­der und erfolg­rei­cher Singer-Songwriter ist in der Soul-Tradition. Gerade in der Soulsänger-Tradition ist Stevie Wonder einer der Grössten aller Zeiten. Aber mich haben auch ande­re Dinge beein­flusst: Die Lateinamerikanische Musik, auch Donny Hathaway ist für mich eine gros­se Inspiration, beson­ders in der Art und Weise wie er singt, und selbst­ver­ständ­lich der Jazz in all sei­nen Ausprägungen.

 Ihre Blindheit und die Ihres Zwillingsbruders sind zurück­zu­füh­ren auf man­gel­haf­ten Augenschutz wäh­rend der sta­tio­nä­ren Brutkastenbehandlung im Spital. Dasselbe pas­sier­te schon bei Stevie Wonder. Wie kom­men Sie damit zurecht? Hadern Sie mit Ihrem Schicksal und haben Sie dem Spital schon Vorwürfe gemacht?

Ich habe stets den Standpunkt ver­tre­ten, dass ich nicht so dar­über den­ken möch­te. Ich den­ke nicht, dass mei­ne Familie je dar­über nach­dach­te, das Spital zu ver­kla­gen. Trotzdem bin ich gegen­über der Medizin sehr miss­trau­isch. Dieses all­ge­mei­ne Misstrauen hat viel­leicht teil­wei­se auch damit zu tun. (Lacht) Doch ich den­ke nicht so dar­über nach. Die Blindheit ist für mich fast ein Segen, wenn ich mir aus­ma­le, wie mein Leben mit Sehvermögen gewor­den wäre. Es gibt viel Unterstützung von Blindenorganisationen, die Blinden dazu ver­hel­fen, das Beste aus ihrem Leben zu machen.

 Sie wur­den 1966 in der Kleinststadt Embudo im Rio-Grande-Tal im Norden des Bundesstaates New Mexico gebo­ren. Wie war Ihre Kindheit in die­ser eher länd­li­chen Gegend im Südwesten der USA?

Ich wur­de zwar dort gebo­ren, aber als Kind war ich oft unter­wegs. Ich besuch­te ein Internat für Blinde. Das bedeu­te­te, dass ich an ver­schie­de­nen Orten län­ge­re Zeit ver­brach­te. Ich den­ke, dass es mir ande­re Sichtweisen eröff­net hat. Die Tatsache, dass ich dort gelebt habe, gibt mir auf uner­klär­li­che Weise oft neue Eingebungen. So ist vie­les davon in ver­schie­de­nen Bildern im Album ent­hal­ten. Der Song «Caminando» han­delt von Embudo und des­sen Umgebung und von der Wachsamkeit gegen­über der Natur. Es han­delt von Dingen, zu denen ich zur­zeit den Bezug fast ein wenig ver­lo­ren habe, weil ich im Moment stän­dig von Flugzeug zu Flugzeug und von Hotel zu Hotel hin- und her­pend­le.

Sie haben einen argen­ti­ni­schen Vater und eine afro­ame­ri­ka­ni­sche Mutter. Haben Sie bei­de Einflüsse ver­in­ner­licht?

Ja, durch­aus. Ich weiss nicht, in wel­chem Masse die­se Einflüsse ver­erbt sind und inwie­weit sie durch die sozia­le Umgebung vor­ge­ge­ben waren. Aber wenn ich an mei­ne Musik den­ke, dann sind bei­de Einflüsse sehr stark vor­han­den. Soul und Jazz sind dem afro­ame­ri­ka­ni­schen Erbe und die kuba­ni­sche und argen­ti­ni­sche Musik natür­lich dem Latino-Erbe geschul­det. Ich höre mir oft Tango-Musik an, auch wenn dies viel­leicht nicht so offen­kun­dig ist in mei­ner Musik.

 Was hat sich eigent­lich in Ihrem Leben ver­än­dert nach Beginn der Solokarriere und dem Umzug nach New York?

In der Mitte des Lebens machen eini­ge von uns grund­le­gen­de Veränderungen durch. Für mich waren die­se Veränderungen abso­lut ent­schei­dend. Ich dach­te immer, dass ich ver­su­chen soll­te, ein wah­rer Künstler zu sein, der selb­stän­dig her­vor­tritt und gera­de das tun soll­te, was sich anbie­tet. Ich den­ke, dass ich mich grund­le­gend ver­än­dert habe im Vergleich zu dem, was ich davor gewe­sen bin. Ich war schon immer Musiker, doch damals war ich bloss ein Backing-Sänger, der gele­gent­lich in Bars spiel­te. Ich kam schliess­lich zum Schluss, dass ich das ändern woll­te. Meine Kunst war zu jenem Zeitpunkt bloss ein Hobby und mein Beruf war der eines Begleitmusikers. Ich muss­te etwas ändern, bevor es zu spät war. In gewis­ser Weise hat mir die­se Erfahrung gehol­fen, das mehr zu schät­zen, was ich jetzt bin. Ein Musiker, der glück­lich ist mit dem, was er erreicht hat, und erfolg­reich dabei ist. Es ist ein­fach, in die­sem Karriere-Erfolgsspiel auf­ge­fan­gen zu wer­den, aber die Tatsache, dass ich dort­hin gelangt bin, wo ich jetzt ste­he, ist wirk­lich ein klei­nes Wunder.

 Trotz den Jazz- und Latin Einflüssen ist Ihre Musik in erster Linie Soulmusik. Nun ist es so, dass vie­le Leute der Ansicht sind, dass es heu­te kaum noch Soulmusiker gibt, die imstan­de wären, jenes sozia­le und mora­li­sche Bewusstsein zu ver­kör­pern, das Vokalisten wie Stevie Wonder oder Marvin Gaye sei­ner­zeit aus­zeich­ne­te. Wie den­ken Sie dar­über?

Da ist was Wahres dran, nicht unbe­dingt weil es nie­man­den gibt, der dazu imstan­de wäre, son­dern weil man nicht jenes Publikum zu errei­chen ver­mag, das Marvin Gaye und Stevie Wonder hat­ten. Mit ande­ren Worten, als Musiker wird man vie­le Menschen errei­chen, doch das Publikum ist jetzt viel diver­si­fi­zier­ter. Heutzutage ist es schwie­rig, sich vor­zu­stel­len, dass ein Musiker jene Art von Mainstream-Erfolg erlan­gen könn­te, den Stevie Wonder und Marvin Gaye damals hat­ten, denn es war eine ande­re Zeit. Wenn man heu­te einen Song wie «What’s Going On» schrei­ben wür­de, dann wür­de man wohl gar kei­nen Plattendeal mehr bekom­men. Das Musikgeschäft läuft heu­te ganz anders als damals. Heute hat man das Internet. Die Leute müs­sen nicht mehr Radio hören oder in einen Plattenladen gehen, um her­aus­zu­fin­den, was sie hören wol­len.

 Was für Zukunftspläne haben Sie?

Ich pla­ne von Tag zu Tag. Für die näch­sten ein­ein­halb oder zwei Jahre bin ich auf Promotionstour für die­ses Album. Danach wer­de ich bestimmt das machen kön­nen, was ich will. Es ist nicht so, dass ich das jetzt nicht auch mache, aber ich bin nicht ganz sicher, wie lan­ge ich noch bereit bin, in den Ring der Popmusik zu stei­gen. Ich den­ke, dass die Popmusik irgend­wie dabei ist, kaputt­zu­ge­hen. Um wei­ter­hin an der Musik inter­es­siert zu sein, muss ich wohl etwas ande­res tun.

 Mehr in Richtung Jazz?

Ja, mehr Richtung Jazz, aber auch mehr Richtung gen­re­freie Musik. Meine Musik ist gera­de noch so kom­mer­zi­ell wie ich sie zur­zeit hin­krie­ge. Viel kom­mer­zi­el­ler geht’s nicht mehr. Aber nie­mand weiss, was die Zukunft für einen bereit­hält.

Haben Sie eine Wunschliste von Musikern, mit denen Sie ger­ne ein­mal zusam­men spie­len wür­den?

Nun, vie­le Wünsche haben sich schon erfüllt. Ich habe mit Herbie Hancock gespielt. Ich möch­te ger­ne mit Chick Corea spie­len. Prince wäre super! Es wäre toll, mit ihm was zu machen. Prince ist ver­mut­lich einer der letz­ten gros­sen Pop-Künstler der Gegenwart. Er ist ein ech­ter Künstler, ein ech­ter Entertainer. Er hat­te ein­fach alles, was ein gros­ser Popmusiker haben muss, und auch einen Sinn für künst­le­ri­sche Identität und Vollendung. Ohne jeden Zweifel!

Vor wel­chem leben­den oder ver­stor­be­nen Musiker haben Sie den gröss­ten Respekt?

Ich weiss nicht so recht. Es gibt so vie­le. Ich glau­be nicht, dass es einen gibt, der über allen steht. In gewis­ser Weise habe ich gros­sen Respekt vor den Komponisten wie Strawinsky zum Beispiel. Ich respek­tie­re vor allem jene, die die Musik ver­än­dert haben und wirk­lich ganz neue Genres erschaf­fen haben, denn dahin­ter steckt ech­ter Weitblick.

Raul Midón, «A World Within A World» (Manhattan / EMI)

Bild: zVg.
ensuite, November 2007

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