Observatio VIII

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Er stell­te sich eine Tontaube vor. Die klei­ne, töner­ne Scheibe schim­mer­te im Sonnenlicht matt. In Gedanken dreh­te und wen­de­te er sie in der Hand, liess die Reflexion der Sonne auf der Oberfläche krei­sen, lang­sam zunächst, dann etwas schnel­ler, als ob die Scheibe erst noch ler­nen müss­te, sich in die Luft zu schrau­ben, oder also ob sie sel­ber aus­ho­len könn­te, oder als ob sie ein letz­tes Mal tor­keln dürf­te, oder als ob in Bodennähe die Elemente ande­ren Gesetzen folg­ten als in der Höhe. Orangefarben, ähnel­te die Scheibe einem Untersatz für Blumentöpfe, erzeugt, um am immer­glei­chen Ort eine Last zu tra­gen – sie war dazu bestimmt, in die Luft geschleu­dert und in schnell fal­len­de Stücke geris­sen zu wer­den. Jetzt schoss sie aus der Maschine und gewann schnell an Höhe, ihre Bahn elip­tisch. Sie kehr­te nicht zurück. Er dach­te nicht dar­an. Er liess sie in Luft auf­ge­hen, jemand hat­te die Flinte die läng­ste Zeit im Anschlag, viel­leicht er selbst; nein. Das Mädchen mit der blau­en Jacke pfiff durch die Zähne. «Noch ein Mal», sag­te sie lei­se, «noch­ma, noch­ma».

Sie woll­te damit nicht eine wei­te­re Tontaube auf­flie­gen sehen. Sie deu­te­te mit ihrem aus­ge­streck­ten Arm auf die Displays in den Fluren der ZHdK, die Vitrinen, Monitore, Plakate, aller­lei Objekte. Er öff­ne­te die Augen. Vor ihm tat sich eine Welt der Imagination auf, aus der die Studierenden mit Beute zurück­ge­kehrt waren. In der Vertiefung Interaction Design fiel ihm eine unter einer Vielzahl inspi­rier­ter Arbeiten auf, sie bestand im Wesentlichen aus zwei mit dunk­lem Schaumstoff beleg­ten klei­nen roten Schalenkoffern, die meh­re­re Handgeräte bar­gen; im Populärtechnik-Design der 50er Jahre gehal­ten, lagen ein Epilierer, Teile eines Stetoskops, ein Art Massagestab und eine Hörmuschel mit ein­heit­li­chen Kabeln sowie, im zwei­ten Köfferchen, zwei Plastikgehäuse, mit Schaltern und Buchsen ver­se­hen. Eine gra­fi­sche Anleitung klär­te auf: Es han­del­te sich um ein elek­tri­sches Set, mit des­sen Hilfe die elek­tro­ma­gne­ti­sche Strahlung eines Gegenstands in sicht­ba­re (LED), hör­ba­re (Ton) und fühl­ba­re (Vibration) Signale umge­wan­delt wer­den konn­te («Wavekit»). Dabei, so der Student Riccardo Lardi, inter­es­sie­re ihn vor allem die Reaktion der Leute – wo legen sie die Messgeräte an (ein klei­ner Ventilator, ein Wecker und ein Föhn ste­hen zum Erfassen bereit), was geschieht in ihnen, wie inter­agie­ren sie mit den Dingen?

Bachelor-Diplomarbeiten wur­den auch an ande­ren Orten in der Nähe der Ausstellungsstrasse gezeigt. Nadine Wintsch, Studierende in der Vertiefung Bildende Kunst, stell­te klein- und gross­for­ma­ti­ge Gemälde aus; Porträts, bei denen sie das Augenmerk auf den Blick leg­te, den Blick der Porträtierten. Ihr abge­klär­tes Verständnis von Farbe und Strich fiel auf. Auch ihm, der das klei­ne Mädchen in der blau­en Jacke im Ideengestöber ver­lo­ren hat­te. Er ver­mu­te­te sie bei den Videospielen. Sie stand bei einem für Kinder; meh­re­re Arbeiten in der Vertiefung Game Design hat­ten, ver­blüf­fend genug, Industriestandard.

Das galt auch für die Videos und Videowebsites in der Vertiefung Cast/Audiovisuelle Medien. Mitch Bekk prä­sen­tier­te ein inter­ak­ti­ves Musikvideo («Tell Me What You See»), bei dem der Betrachter aus­wäh­len konn­te, womit ein Gefesselter bewor­fen wird (wahl­wei­se mit einem Ei, einem Fisch, Federn, einer Krake u.a.). Ironisch gebro­chen, hat­te die­se rei­fe Arbeit nichts Menschenverachtendes.

Er fand den Ausgang des Gebäudes. Draussen schien die Sonne. Wieder stell­te er sich jene Tontaube vor. Er dreh­te und wen­de­te sie in der Hand, als ob die Scheibe erst noch ler­nen müss­te, sich in die Luft zu schrau­ben, oder also ob sie sel­ber aus­ho­len könn­te, oder als ob sie ein letz­tes Mal tor­keln dürf­te, oder als ob in Bodennähe die Elemente ande­ren Gesetzen folg­ten als in der Höhe.

Im Juni zeig­ten über 300 Diplomandinnen und Diplomanden der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK aus den Bereichen Design, Fine Arts, Art Education und Transdisziplinarität ihre Abschlussprojekte. Besuch am 13. Juni 2012.

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