Eine Tournee leben

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Von Albert le Vice – In «ensuite» von Oktober und November ver­gan­ge­nen Jahres habe ich erzählt, wie das hier­zu­lan­de so vor sich geht, wenn jun­ge Theaterleute öffent­lich zu spie­len begin­nen wol­len.

In unse­rem Fall (Anfang 1968) gelang uns dies über die ver­wirk­lich­te Idee eines eige­nen, fah­ren­den Kleintheaters, das «schie­fe Theater». Sieben Jahre waren wir damit unter­wegs, über 1’100 Vorstellungen gaben wir und in gut 60 Städten erreich­ten wir um die 90’000 Zuschauer.

Jetzt soll vom Wesen einer sol­chen Tournee die Rede sein, in die­sem Fall von einer Tournee im eige­nen Theater durch die Städte der

BASEL

Schweiz und Deutschlands, von unse­rem ein­jäh­ri­gen Gastspiel in Paris und der sechs­wö­chi­gen Teilnahme am Festival d› Avignon in Frankreich.

Tournee, sie­ben Jahre unter­wegs sein in den gros­sen Städten Europas mit einem veri­ta­blen klei­nen Theater mit 120 Sitzplätzen, das tönt ver­heis­sungs­voll und aben­teu­er­lich – und das ist es auch. Nur soll­te man sich unter einem sol­chen Unterfangen nicht Glamour und der­glei­chen vor­stel­len, son­dern eine per­ma­nen­te Auseinandersetzung mit dem Unbekannten und dem Unerwarteten, und ein bestän­di­ges Suchen nach der rich­ti­gen Lösung von kon­kre­ten Problemen, die sich einem sol­chen Unterfangen bei­na­he.

ZÜRICH

auto­ma­tisch und fort­wäh­rend in den Weg stel­len.

Gewiss, Theatertournee hört sich locker an, aber hin­ter dem schö­nen Wort ver­steckt sich eine kom­ple­xe, nicht so ein­fa­che Realität. Allein schon die Realität des fahr­ba­ren Theaterhauses; dann die Realität gros­ser euro­päi­scher Städte, die mit Sicherheit zu aller­letzt auf das Gastspiel eines Kleintheaters war­ten; natür­lich auch die Realität des Wohnens und Essens unter­wegs; wei­ter die Realität von Jahreszeit und Wetter; die Realität der Amtsstuben mit ihren Behörden und deren Vorschriften und Vorstellungen; die Realität

WINTERTHUR

der Grenzen, die Realität der Strasse, respek­ti­ve die Realität eines ton­nen­schwe­ren Vehikels mit sei­nen Tücken und den dar­aus resul­tie­ren­den Pannen.

Und dann die Realität des Eigentlichen, des Theaters, damit ver­bun­den die Realität der Presse, der Medien der Werbung und des Publikums. Und schluss­end­lich die Realität von drei bis vier Menschen, die mit all die­sen Realitäten fer­tig wer­den müs­sen und dabei eigent­lich bloss von einer Gewissheit aus­ge­hen dür­fen, näm­lich dem unge­schrie­be­nen Gesetz, dass Leute, die mit sowas in der Öffentlichkeit erschei­nen wol­len, mit allem, was sich dabei ereig­nen kann, sel­ber fer­tig wer­den müs­sen.

ZÜRICH

Und dar­an zeigt sich, dies nur so neben­bei, was ihre Kreativität wert ist.

Ein Leben aus Ideen? Das schie­fe Theater hat uns gelehrt, was Ideen-haben wirk­lich heisst. Uns? Ja, uns. Nämlich Monica und Dominique Thommy, mei­ne Frau, die damals noch Buchmann hiess, und mich. Und jetzt kon­kret die Tournee des schie­fen Theaters von 1968 bis 1975. Diese Geschichte wer­de ich nicht chro­no­lo­gisch erzäh­len, son­dern ich wer­de ver­su­chen, anhand unse­rer Erlebnisse die oben erwähn­ten

ST. GALLEN

Realitäten für Sie, die Leserin und den Leser, nach­voll­zieh­bar zu machen.

Die Realität «Behörde» Behörde ist nicht gleich Behörde. Behörde in Basel ist nicht Behörde in Zürich, ist nicht Behörde in Paris oder Behörde in Darmstadt. Diese Behörden mögen sich also stark von­ein­an­der unter­schei­den, obschon sie eigent­lich immer die glei­che Frage zu beant­wor­ten haben. Und so wer­den sie für uns, die wir ja immer das­sel­be Begehren stel­len, ver­gleich­bar, mess­bar.

SCHAFFHAUSEN

Konkret pas­siert dabei Folgendes: An irgend einem Tag in irgend einem Jahr kreuzt da in einem die­ser Behörden-Büros eine jun­ge Frau auf. In ihrem Kopf das Ansinnen, auf einem zen­tra­len und beleb­ten Platz in eben die­ser Stadt mit einem Theater, das sich mit «schief» apo­stro­phiert, öffent­lich auf­tre­ten zu wol­len.

Dazu sagt die eine Behörde: Wunderbar! Unser bester Platz ist der und der… Die ande­re ver­kün­det schroff: Für sowas, wie Ihr schrä­ges Dingsbums gibt’s in unse­rer Stadt kei­nen öffent­li­chen Grund… Die drit­te schickt die jun­ge Frau von Pontius zu Pilatus, die­se erzählt sie­ben

BADEN

ver­schie­de­nen Amtsstellen ihren Antrag, wäh­rend sich jede ein­zel­ne für unzu­stän­dig erklärt und den Ball wei­ter­reicht… Und dann gibt es auch die Behörde, mein vier­tes Beispiel, die es fer­tig bringt, fest­zu­stel­len, dass da offen­sicht­lich ein Unterlageklotz unter einer Stütze hoch­kant und nicht quer, wie auf dem Plan ein­ge­zeich­net, mon­tiert sei, was einer defi­ni­ti­ven Bewilligung im Wege ste­he… Mit sol­cher Realität muss fer­tig wer­den, wer mit einem schie­fen Theater auf Tournee gehen will. Und er muss höf­lich sein und nett; und sie muss in jeder Situation auf die ret­ten­de Idee, das über­zeu­gen­de Augenzwinkern, das erlö­sen­de Lächeln oder den genia­len Trick kom­men, um die Geschichte zu

AARAU

einem guten Ende zu brin­gen.

Die Realität „Wetter“ Normalerweise ist Wetter ja in der Kunst kaum von gros­ser Bedeutung, mit Ausnahme des Freilichttheaters viel­leicht. Direkt «match­ent­schei­dend» ist das Wetter für ein schie­fes Theater an dem Tag, an dem es auf- oder abge­baut wer­den muss. Fünfzehn Grad minus bei gna­den­lo­ser Bise am Neuenburgersee sind mit Sicherheit ein ernst-zuneh­men­der Faktor für jene zwei Figuren, die zwei Tage spä­ter im geheiz­ten Theäterchen von 120 Personen warm emp­fan­gen wer­den wol­len. Auf der ande­ren Seite, ein paar Monate spä­ter und eini­ge Breitengrade süd­li­cher (zum Beispiel im medi­ter­ra­nen Avignon) haben dann die sel­ben zwei Figuren auch dann noch fröh­lich und mun­ter vor ihrem Publikum zu bestehen, wenn die­ses vor Hitze röchelt und nach küh­ler Luft japst.

Wetter ist aber auch Schnee, der ein Theaterdach spie­lend zum Eisturz brin­gen kann, oder das fah­ren­de Gefährt von der siche­ren Fahrbahn abbringt. Und sol­ches ist dann, wenn es pas­siert, nicht bloss ein miss­li­cher Umstand, der mit einem kur­zen Telefonanruf über­wun­den wer­den kann, son­dern eine ern­ste Bedrohung des gan­zen Unternehmens. Ein schie­fes Theater ist eben nicht ein kal­ku­lier­ba­res, ver­si­cher­ba­res Risiko, son­dern eine Einmaligkeit, die

OLTEN

bereits ein hef­ti­ger Schneesturm zum Verschwinden brin­gen kann. Und das heisst mit ande­ren Worten: nichts ande­res, als dass die drei bis vier Leutchen auf ihrer Europatournee nicht nur Kälte, Wind und Hitze aus­zu­hal­ten haben, son­dern auch das Gefühl der Bedrohung und der per­ma­nen­ten Unsicherheit.

Die Realität „fah­ren­des Vehikel“ Reisen ist in der Vorstellung von uns Heutigen im 21. Jahrhundert eine beque­me Angelegenheit im kli­ma­ti­sier­ten Inneren eines Autos, eines

SOLOTHURN

Zugs oder eines Flugzeugs. Die Tournee-Realität eines schie­fen Theaters wider­spricht die­ser Vorstellung natür­lich in voll­kom­men­ster Weise. Hier reist nicht ein moder­nes Monstrum, mit allen mög­li­chen tech­ni­schen Schikanen aus­ge­stat­tet, son­dern ein poe­ti­sches Relikt aus längst ver­blass­ten Zeiten – und die­ses sieht nicht nur ver­spielt nost­al­gisch aus, son­dern es ver­kör­pert auch eine ganz ande­re Realität – eben eine, die sich auch kör­per­lich aus­drückt. Das hat natür­lich Konsequenzen fiir die, die sich dar­auf ein­las­sen.

Konkret: Ein schie­fes Theater reist lang­sam – mit maxi­mal 50 Stundenkilometern. Sein Zugfahrzeug ist eben ein alter Saurer aus dem Jahr 1933. (Wurden wir jeweils nach dem Alter unse­res Lasters gefragt, war unse­re Antwort hin­ter­häl­tig: über tau­send Jahre…

BIEL

Die histo­risch Denkenden glaub­ten uns.) Ein Saurer 1933 ist kein Iveco 2011, was zum Beispiel bedeu­tet, dass sei­ne Ersatzteile unter Umständen auf dem Autofriedhof gefun­den wer­den müs­sen. Mit einer sol­chen Realität muss man dann zum Beispiel fer­tig wer­den, wenn im Ruhrgebiet plötz­lich eine Zylinderkopfdichtung ihren Geist auf­gibt.
Und wenn ein Pneu her­un­ter­ge­fah­ren ist, liegt der Ersatz nicht im näch­sten Pneuhaus, son­dern in einer alten, aus­ran­gier­ten Remise in einem Hinterhof in Weiss-ich-nicht-wo, die zuvor erst noch gefun­den sein will.

BERN

Mit andern Worten: Hinter einer Premiere auf Berlins Leniner-Platz steckt mög­li­cher­wei­se, und vom Publikum völ­lig unbe­merkt, eine Motorenpanne in Mühlheim/Ruhr, die nur über eine Umwegreise von über tau­send Kilometern, Abschleppereien durch DDR-Gebiet, Geldtransfers aus der femen Schweiz und völ­li­ges Umorganisieren von ver­bind­li­chen Abmachungen beheb­bar ist.
Zur Erinnerung: Es geht hier um Ideen, aber eben nicht bloss um sol­che, die die Theatervorstellung bele­ben, son­dern sol­che, die die­se erst ermög­li­chen. Und dabei ist dann halt ein Theater-Vehikel mit sei­ner Realität nicht zu unter­schät­zen.

THUN

Die Realität «Werbung» Die Tournee eines schie­fen Theaters ist die Reise eines Theaters, das es nicht gibt. Das tönt kokett, ist aber tat­säch­lich so gemeint, wie es gesagt ist. Für die Bewohner jener Stadt, in der die­ses Theater zu gastie­ren gedenkt, ist ein schie­fes Theater erst Wirklichkeit, wenn es vor Ort auf­ge­baut, also sicht­bar und von den Medien vor­ge­stellt ist. Ist es dann wie­der abge-reist, hört es auf für die­se Stadt zu exi­stie­ren. Darum eben gibt es die­ses Theater irgend­wie nicht. Sowas schafft sich eine eige­ne Realität, die auf einer sol­chen Tournee eben­falls gelebt sein will:

LUZERN

Die Realität der Werbung. Ein schie­fes Theater unter­wegs muss sich per­ma­nent bekannt machen – in jeder Stadt neu. Es muss also wer­ben; und dazu ste­hen ihm durch­schnitt­lich pro Saison etwa 10’500 Fr. zur Verfügung, also unge­fähr 1’200 Fr. pro Stadt. Mit 10’500 Fr. pro Saison erreicht das schie­fe Theater rund 13’000 Zuschauer. Diesen Erfolg schafft die­ses Theater mit einem durch­schnitt­li­chen Werbeaufwand von 80 Rp. pro zah­len­de Zuschauerin. Das ist die finan­zi­el­le Realität. Hinter die­ser ver­steckt sich aller­dings eine ganz ande­re – eine geleb­te;

GENEVE

und die erzählt sich wohl weit bes­ser, als nack­te Zahlen. Davon will ich jetzt reden.
Kurz gesagt geht es bei einem Theater unter­wegs fort­wäh­rend dar­um, den Leuten der gera­de aktu­el­len Stadt ver­ständ­lich zu machen, was auf sei­ner Bühne gespielt wird. Dazu ste­hen ihm Plakate zur Verfügung, Handzettel und Inserate in den Zeitungen. Am wich­tig­sten aber sind die redak­tio­nel­len Zeitungsberichte und die Sendungen in Radio und Fernsehen. Diese kön­nen natür­lich weit dif­fe­ren­zier­ter berich­ten als die bezahl­te Werbung. Aller-dings, von allei­ne und auf eige­nen Antrieb des Mediums ent­ste­hen die­se Berichte nicht.

NYON

Der jeweils zustän­di­ge Redaktor muss folg­lich vom bevor­ste­hen­den Gastspiel erfah­ren, und er muss einen per­sön­li­chen Eindruck von die­sem Vorhaben gewin­nen kön­nen.
Aus die­sem Grund küm­mern sich im schie­fen Theater Liselotte oder Monica ganz gezielt um die­se Aufgabe. Als eine Art Botschafterinnen (sie gehen dem Theater immer um unge­fähr zwei bis vier Wochen vor­aus und kon­tak­tie­ren die Presse, das Radio, das Fernsehen, die Behörden und ver­schie­den­ste fiir das Theater wich­ti­ge Organisationen), als Vorbotinnen ver­kör­peren sie qua­si das schie­fe Theater. Mit andern Worten, sie ver­mit­teln den Medien den wich­ti­gen ersten Eindruck. Und ihnen ist es jeweils zu

MONTREUX

ver­dan­ken, wenn über unser Theater berich­tet wird.
Der Blick auf die­se Realität des schie­fen Theaters macht auch deut­lich, wie das Leben in die­ser Truppe fak­tisch abläuft, nicht line­ar und büro­kra­tisch struk­tu­riert, son­dern äus­serst agil. Denn prak­tisch bedeu­tet das Vorauseilen unse­rer Botschafterinnen, dass sie unter Tag in der näch­sten Stadt das Terrain vor­be­rei­ten, auf den Abend zurück zum Theater kom­men, den Billettverkauf erle­di­gen, die Tagesabrechnung besor­gen und uns hin­ter der Bühne wäh­rend der Vorstellung assi­stie­ren. (Unsere Aufgaben wäh­rend des Tages sind natür­lich ganz ande­re, aber davon dann spä­ter.)

LAUSANNE

Das schie­fe Theater sind nicht zwei Künstler und zwei Frauen, die ihnen zudie­nen, son­dern es ist eine Truppe von vier Leuten, die die­ses Theater leben. Und zum Leben der Realität «Werbung» gehört dann auch das Aushängen von Plakaten und das Verteilen von Flugprospekten. Das erle­digt die gan­ze Truppe gemein­sam. Und das bedeu­tet kon­kret, dass wir so unge­fähr eine Woche vor dem näch­sten Gastspiel tags­über in der näch­sten Stadt pla­ka­tie­ren und auf den Abend in die Stadt, wo wir gera­de spie­len, zurück­keh­ren für die Vorstellung. Was das heisst, kann sich viel­leicht vor­stel­len, wer weiss, was tau­send aus­zu­hän­gen­de Plakate real sind.

FRIBOURG

Hinter der Realität «Werbung» ver­steckt sich eine immense Arbeit, die von Gastspiel zu Gastspiel gelei­stet wer­den muss.

Die „Realität des Wohnens» Tournee, das heisst Unstetigkeit, Heimatlosigkeit, Ungebundenheit. Wie lebt sich das? Wo wohnt man, wenn man von September bis Ende Juni unter­wegs ist? In Wohnwagen? In Hotels? Und wo ver­kö­stigt man sich?

YVERDON

Von allem Anfang an ist uns klar, dass wir im unste­ten Leben einer Tournee auch Ruhe und Privatheit nötig haben. Also schlies­sen wir schon im Vorfeld das Reisen im Wohnwagen aus; und das Hausen in Hotels ist uns zu kon­form und zu teu­er.
Also leben wir sie­ben Jahre lang in pri­va­ten Zimmern, manch­mal in klei­nen Wohnungen, und eigent­lich immer getrennt von­ein­an­der. Daheim in der Schweiz war­tet auch bei lan­ger Abwesenheit eine Wohnung auf uns – unser rich­ti­ges Daheim, auf das wir uns, gera­de gegen Saisonende, wie Kinder auf Weihnachten freu­en.

NEUCHATEL

Doch wie wohnt es sich nun unter­wegs –real? In einem Wort: Sehr, sehr unter­schied­lich. Das ist gar nicht schlecht, denn auf die­se Weise lernt man Mentalitäten, Eigenheiten und Macken von Menschen ken­nen – meist sind es Schlummermütter. Das Schöne (und manch­mal Bemühende) dar­an: Die Zimmer sind möbliert, ein­ge­rich­tet, und spre­chen eine eige­ne Sprache: Manchmal sind sie gemüt­lich und lie­be­voll aus­ge­stat­tet; manch­mal kahl, zweck­mäs­sig und berech­nend; manch­mal trau­rig wie Menschen, die einem Verstorbenen nach­wei­nen; manch­mal frei­gie­big; manch­mal nichts als kor­rekt; manch­mal ideo­lo­gisch; manch­mal locker, fröh­lich, unkom­pli­ziert…

LA CHAUX DE FONDS

Kurz, unse­re Tournee-Zimmer sind wie die Menschen; manch­mal ver­trägt man sich gut mit ihnen, manch­mal ner­ven sie, manch­mal über­fah­ren sie einen, manch­mal wei­chen sie aus. Interessant in die­sem Zusammenhang ist dabei das Verhalten von Liselotte und mir beim Bezug des «neu­en» Daheims. (Wie es bei Monica und Dominique jeweils zuging, weiss ich natür­lich nicht.) Wir wer­fen als erstes jeweils einen kur­zen, geüb­ten Blick auf die Gesamt-situa­ti­on, stel­len das Gepäck, das wir bereits bei uns haben, in irgend­ei­ne freie Ecke, und dann wer­den die Möbel umge­stellt – hin und her, kreuz und quer. Ertappt uns

ZÜRICH

die Vermieterin dabei (Vermieter sind eher sel­ten), kriegt sie einen ersten Schock – aber das legt sich in der Regel. Unsere Umstellerei hat natür­lich ihren tie­fen, ritu­el­len Sinn: Wir ergrei­fen so qua­si Besitz «unse­res» Territoriums, wir set­zen «Duftmarken» und rich­ten uns eben in den Gegebenheiten so ein, wie es uns ent­spricht; das heisst, wir schie­ben und ändern, bis es uns eini­ger­mas­sen wohl ist. Und dann sind wir hier.

BASEL

Und wenn wir wie­der weg­zie­hen, beginnt bei Liselotte das gros­se Trauern und Jammern dar­über, dass wir schon wie­der ver­las­sen müs­sen, was uns doch so ans Herz gewach­sen ist … Ja, aber wann wohnt es sich denn eigent­lich, wenn man doch unter­wegs ist? In der Regel spät nachts nach der Vorstellung und am Vormittag, wenn kei­ne Termine wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen, oder wenn Plakatieren oder Zügeln ange­sagt ist. Und natür­lich am frei­en Wochenende, das heisst, in der Regel an Sonn- und Montagen. Das sind auch die bei­den Tage, wo wir uns die Stadt gründ­li­cher anschau­en, Kunstinstitutionen besu­chen oder ins Theater

BERN

und ins Konzert gehen kön­nen. Unser Theater und unse­re Partner sind dann weit weg, vor­aus­ge­setzt, es pas­siert nichts Unvorhergesehenes.
Das kur­ze Wohnen im pri­va­ten Abseits ist etwas wie eine Insel in der Permanenz eines sol­chen Theaterlebens. Und es ist sehr wich­tig. Wichtig ist das Private auch, weil man sich als Partner einer sol­chen Institution durch und durch kennt. Man lebt so Vieles gemein­sam und gibt so viel Persönliches in das Gemeinsame, man freut sich am Selben, fürch­tet sich vor dem Selben, man liebt und hasst oft das Selbe und beim Spielen auf der Bühne teilt man sogar die Emotionen mit­ein­an­der.
Das alles bin­det auf wun­der­ba­re Weise, aber es schafft auch emo­tio­na­le

LUGANO

Abhängigkeiten, die pro­ble­ma­tisch wer­den kön­nen. Und in die­sen Gegebenheiten tut es gut, Zeiten des ganz Privaten, Zeiten des Getrenntseins von den Partnern leben zu kön­nen. Im Wohnen wird das mög­lich.

Die Realität «Stadt» Um die sech­zig Städte haben wir auf unse­rer sie­ben­jäh­ri­gen Tour-nee mit dem schie­fen Theater ken­nen gelernt. Dieses Kennenlernen ist ein pro­fun­des, das eigent­lich emo­tio­nal von­stat­ten

LOCARNO

geht. Auf die­ser lan­gen Tournee haben wir die Stadt kul­tu­rell lesen gelernt. Damit will ich sagen, wir haben eine Art Gefühl für das Leben in der Stadt ent­wickelt. Wir wuss­ten und wis­sen immer noch sehr schnell, was mit einer Stadt los ist. Wir mer­ken es sofort: Diese Stadt ist leben­dig, die­se ver­schla­fen, die­se gemüt­lich, jene denkt nur ans Geld, die­se ist stolz, jene blufft. Und wir mer­ken auch schnell, wenn eine Stadt zu Tode moder­ni­siert ist. Dieses Gefühl hat sich natür­lich nicht ein­fach so erge­ben, es ist für eine Truppe auf Europa- Tournee lebens­not­wen­dig.

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012

 

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