Beeinflusst Kultur

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Von Peter J. Betts – Beeinflusst Kultur Wirklichkeit? Nur die wahr­zu­neh­men­de oder gar: nur die wahr­ge­nom­me­ne Wirklichkeit? Ist das «Wahrnehmen» in sich selbst ein kul­tu­rel­ler Akt? Ein selek­tiv bestimm­ter oder bestim­men­der? In der «NZZ am Sonntag» vom 12. Februar 2012, auf der Frontseite mit «Fahrt doch mal Zug!» ange­kün­digt, schreibt Christine Brand auf Seite 27 unter dem Titel «Zu viel Auto» (ohne Fragezeichen!) einen fas­zi­nie­ren­den Artikel. Oben rechts, vier­spal­tig, eine Winteridylle, am 10. Februar von Dominic Büttner/PICSIL auf­ge­nom­men: Schneelandschaft, zart­blau­er Himmel, rechts der Strasse ein Geländer, ein Halteverbot, vier Rottannen, dahin­ter ein jung­fräu­lich weis­ser Industriebau mit der iro­ni­schen Anschrift «Witzig», dahin­ter zwei rote Baukräne, dahin­ter (fast im Fluchtpunkt der Strasse) dunk­le mehr­stöcki­ge Häuserblocks, links der Strasse auf der sanft anstei­gen­den, schnee­be­deck­ten, zart­blau­en Böschung eine Zeile frisch ange­pflanz­ter Dählen im Gegenlicht. Die Bildlegende: «Die indi­vi­du­el­le Mobilität führt zum kol­lek­ti­ven Stillstand: Stau am ver­gan­ge­nen Freitag in der Bernerstrasse im Nordwesten Zürichs.» Etwas ernüch­ternd? Auf der lin­ken Spur zäh­le ich acht­zehn Fahrzeuge im Gegenlicht mit ein­ge­schal­te­ten Scheinwerfern. Im Fluchtpunkt der Strasse: nur der hel­le Schein der Autolichter en bloc. Auch die rech­te Spur ist blockiert, die Zufahrtstrasse neben dem Geländer eben­falls. Auf rund drei Personen in der Schweiz kommt ein Auto; 2011 sind (12% mehr zuge­las­se­ne Wagen als im Vorjahr) fast fünf­ein­halb Millionen Wagen unter­wegs, fast zwei Millionen mehr als 1990. Im Schnitt gab es im Jahr 2010 in der Schweiz täg­lich 44 Stunden Stau. Der Tag hat 24 Stunden. Im Lead schreibt Frau Brand: «…Darüber, wie der dro­hen­de Verkehrskollaps ver­hin­dert wer­den kann, ist man sich nicht einig.» Verkehrskollaps – pars pro toto? Unglücklicherweise, so Frau Brand, sei die Kapazität des öffent­li­chen Verkehrs eben­so begrenzt. Der Bund rech­ne damit, dass auch Dichte und Bedarf im Bereich öffent­li­cher Verkehr in den näch­sten zwan­zig Jahren noch deut­lich stär­ker anwach­sen wer­de als im pri­va­ten. Und aus­ge­rech­net die SBB lau­fe schon heu­te an ihrem Limit. Fahrt doch mal Zug! Ein mehr oder weni­ger from­mer Wunsch? Zynismus? Mit einem inter­es­san­ten Satz lei­tet Frau Brand ihren Schlussabschnitt »Mehr Strassen, mehr Verkehr» ein: «Die Technik kann Abhilfe schaf­fen. Lösen wird sie das Problem nicht.» Dieser letz­te Abschnitt endet mit der Wiedergabe einer Aussage des Verkehrsingenieurs und Professors an der Hochschule für ange­wand­te Wissenschaften, Jürg Dietiker: «Ein Credo der Verkehrsplanung lau­tet: Man kann die­se Probleme nicht lösen – denn jede Lösung wird von der gestei­ger­ten Nachfrage ein­ge­holt und wie­der zu einem Problem. Man kann ein­zig einen ver­nünf­ti­gen Umgang mit den Problemen fin­den.» Ein Credo… Etwas vor­her im Artikel sagt Dietiker: «Ideen wären da. Aber es han­delt sich dabei um Glaubensfragen, wir bewe­gen uns im Bereich der Religionen.» In der glei­chen Zeitung (Seite 17) besingt, ober­fläch­lich betrach­tet, Lukas Häuptli den «Ferrari Testarossa» (Übersetzen Sie doch mal das Wort!): «390 Pferde im Motor und Liebling des West- und Südschweizers … Höchstgeschwindigkeit 300 Kilometer pro Stunde, Mindestpreis 150’000 Franken. Allein im letz­ten Jahr sind im Wallis 40 (sol­cher) Wagen ein­ge­löst wor­den … Erster im Schweizer Luxusauto-pro-Einwohner-Ranking ist aber Zug … Einen Aston Martin gibts auf 1’100 Zuger, einen Maserati auf 800, einen Ferrari auf 500. Klotzen fürs Steuer und Kleckern beim Steuern, sagen sich die Leute offen­bar … Von den 35’000 Urnern, die es gibt, fährt genau einer einen Aston Martin.» Ein bewun­derns­wert bös­ar­ti­ger Text, der unter die Haut geht und nicht durch geheu­chel­tes Moralisieren geprägt ist. Ich fah­re auch ein Auto, kei­nen Ferrari. Sie? Vielleicht fah­ren sogar auch Frau Brand und Herr Häuptli ein Auto. Aber was hier via Strassenverkehr abge­han­delt wird, kann auch in einem grös­se­ren Zusammenhang wahr­ge­nom­men wer­den. Natürlich gibt es in jener Sonntags-NZZ direk­te Werbung für Autos. Im Wirtschaftsteil ein ganz­sei­ti­ges Inserat unter dem Motto (hät­te aus Frau Brands Artikel dedu­ziert wer­den kön­nen): «Shift the way you move», und der etwas kühn-sim­pli­fi­zie­ren­den Behauptung: «Wer zwei gute Ideen zusam­men­bringt, bekommt eine genia­le» wer­den zwei Nissan-Autos ange­prie­sen: Wenn Sie bei­de kau­fen (wer etwas auf sich hält, hält sich heut­zu­ta­ge einen Zweitwagen), bewei­sen Sie mit rund drei­und­vier­zig­tau­send Franken, dass Sie Geniales zu voll­brin­gen im Stande sind. Dann ein drit­tel­sei­ti­ges Inserat für Chevrolet. Im «Wissensteil» wer­den mit einem Halbseiter vier Hondas ange­bo­ten, drei Hybride (man weiss, das ist gut für die Ökologie) und ein Benziner (mit – gün­sti­gem Leasing – wer sich um Wissen küm­mert, glänzt oft nicht mit Cash). Im Sportteil lockt das Motto: «Sei der Wind und nicht das Fähnchen» einen Citroën Déesse Quatre für knapp drei­hun­dert Franken im Monat in Ihren Einstellraum hin­ein. Und jetzt kommt mir auch noch das ärger­li­che Mail in den Sinn, das – aus mir uner­klär­li­chen Gründen – am 8. Februar bei mir ange­kom­men ist: Die Firma Aerni (Haar – Kleid – Bar – Spa) ver­mit­telt mir oder mei­ner Frau unter dem Sachvermerk «Jaguar und Land Rover Angebote» den Einblick in ihren vor einem Jahr begon­ne­nen Limousinen-Service. Folgender Satz sagt – viel: «Wir freu­en uns, wenn Sie im dop­pel­ten Sinne «im schön­sten Salon der Welt» Platz neh­men … und in Ihrem per­sön­li­chen Jaguar oder Land Rover.» Wellness. Wohlbefinden im Stau? Das Leben dar­auf ein­rich­ten, dass erhöh­te Geschwindigkeit nicht zu Zeitgewinn, son­dern nur zum Zurücklegen immer grös­se­rer Distanzen führt. Mehr und immer mehr. «Ds Füfi uds Weggli» als Lebensmaxime? In Basel arbei­ten und in Hamburg leben? Globalisierung ohne Weltoffenheit im inner­sten Bereich? Mit dem Zweitwagen die Kinderchen regel­mäs­sig zur Schule, in die Klavierstunde, zum Tennisplatz, ins Pfadiheim fah­ren und immer regel­mäs­sig dort wie­der abho­len: die Gefahren des zwei Kilometer lan­gen Fussweges eli­mi­nie­ren; eben­falls den Phantasiegewinn durch ver­spiel­tes Zusammensein mit Gleichaltrigen und Entdeckungsreisen ohne Aufsicht durch Erwachsene; kana­li­sier­te Entwicklungspfade – Stau? Virtuelle Realität statt Wirklichkeit? Frau Brands oder Herrn Häuptlis Auto sind nur Metaphern für eine mensch­li­che Wirklichkeit, die uns zum all­ge­mei­nen Stau führt. Mehr weckt das Verlangen nach mehr. Die Losung von Abnahme und Einschränkung sug­ge­rie­ren? Dies immer ver­mehrt? Erfolg an der Wachstumsrate mes­sen? Sinn an der Geschäftigkeit? Den Devisenkurs zur Tageslosung machen? Glaubensfragen. Es gibt kei­ne Lösung für die Gesamtproblematik. Jeder Punkt auf der Erdkugel ist mit jedem ande­ren ver­bun­den, durch die Schwerkraft gesi­chert; wer an einem Ort ist, kann gleich­zei­tig nicht an einem ande­ren sein. Einsichten vor Heisenberg, vor Relativitäts- oder Quantentheorie. Vielleicht für das kon­kre­te mensch­li­che Leben nach wie vor gül­tig? Wie Herr Dietiker zu einem Partikel des Ganzen und stell­ver­tre­tend dafür sagt: «Ein Credo der Verkehrsplanung lau­tet: Man kann die­se Probleme nicht lösen – denn jede Lösung wird von der gestei­ger­ten Nachfrage ein­ge­holt und wie­der zu einem Problem. Man kann ein­zig einen ver­nünf­ti­gen Umgang mit den Problemen fin­den.» Könnte der Sinn kul­tu­rel­ler Anstrengungen – hier für ein­mal «Kultur» in ein­ge­schränk­ter Bedeutung gebraucht – sein, einen ver­nünf­ti­gen Umgang mit den Problemen zu fin­den, ohne dabei die Gefühle zu kap­pen? Ein Beitrag zur Wirklichkeit?

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2012

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