Vergangene Zeit atmen

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Auf der Tribüne steht ein specki­ger Sessel aus abge­grif­fe­nem, brau­nem Leder, schwer und unbe­irr­bar, und strahlt die Gewichtigkeit von Zeit aus. Was hat sich an und in ihm über die letz­ten Jahrzehnte an Geschichten ver­sam­melt? Was kann er erzäh­len über das Früher und das Jetzt, ja viel­leicht über­haupt über das Fortschreiten der Zeit und das sich Entfalten des Menschen in ihr?

Dreizehn nam­haf­te Autorinnen und Autoren aus dem deut­schen Sprachraum lies­sen sich von einem oder meh­re­ren Objekten des Zürcher Brockenhauses zu Kurzgeschichten inspi­rie­ren, die in Form einer Audiotour durch alle Etagen des Hauses zu erle­ben sind. Dabei geht es um ein Erfahren auf meh­re­ren Ebenen, denn «strecken Auge und Ohr ihre Fühler gemein­sam aus, so ani­mie­ren sie das Innere des Menschen». Es geht also nicht zuletzt dar­um, auch in sich selbst die (Ge-)Schichten der Zeit zu betrach­ten. Dass dies in der Brockenhaus Ausstellung auf beschwingt-leich­te Weise und mit Witz gesche­hen kann, ist erfreu­lich.

Ungewöhnliche Vernissage in unge­wohn­ter Umgebung

Montag Abend, kurz nach Ladenschluss: die ersten Besucher und Besucherinnen des Eröffnungsabends tref­fen ein. Die Vorbereitungen sind noch in vol­lem Gange, Kerzen wer­den ange­zün­det, man wird auf­ge­for­dert, es sich auf einem der zum Verkauf aus­ge­stell­ten Sofas bequem zu machen. Gedämpftes Licht, leicht scher­beln­de Musik — ein ein­la­den­des Setting, um sich auf das Atmosphärische gebrauch­ter Gegenstände ein­zu­las­sen.

Knapp zwei Stunden spä­ter: Sechs der drei­zehn Autoren und Autorinnen haben ihre Kurzgeschichte vor­ge­tra­gen. Mal wur­de herz­lich gelacht, mal lei­se geschmun­zelt. Es herrsch­te hei­te­re Stimmung. Nach jeweils nur zwei Geschichten gab es eine Pause. Das war im Verhältnis zu den teil­wei­se sehr kur­zen Texten zu viel und scha­de, weil die auf­ge­bau­te Spannung abflach­te und der Lesung der gros­se Bogen fehl­te. Im Ganzen gese­hen aber war es ein sehr ver­gnüg­li­cher Abend — und er weck­te die Lust auf die Audiotour.

Ausstellung mit Verkaufsobjekten

Am näch­sten Tag also zurück ins Brockenhaus. An der Kasse bezie­he ich ein klei­nes Audiogerät sowie den Etagenplan. Ein Teil der Objekte wird in Glaskästen aus­ge­stellt, ande­re ste­hen an ihrem gewohn­ten Verkaufsplatz und sind kaum als Ausstellungsobjekte zu erken­nen. Es wird klar: hier wer­den nicht Geschichten über das aus­ser­ge­wöhn­lich Schöne und Wertvolle erzählt, son­dern Geschichten über das Alltägliche. Ich set­ze mich in Bewegung und wer­de so Teil eines sich stän­dig in Veränderung begrif­fe­nen Ortes — eines Ortes, an dem die Fäden von Zeiten und Menschen zusam­men­lau­fen.

Und was für Fäden wer­den in der Handvoll Geschichten gespon­nen, aus denen die Audiotour besteht? Es sind sehr eige­ne, per­sön­li­che Zugänge, wel­che eröff­net wer­den. Ein kur­zer Überblick: Von der Magie, wel­che die unbe­kann­te Biographie eines Gegenstandes aus­strahlt, erzäh­len etwa Silvio Huonders «Die Reitstiefel» und Linus Reichlins «Die Geige». Ein Weihnachtsmärchen, das von Versöhnung und List han­delt und durch sei­nen fei­nen Humor besticht, schrieb Thomas Hürlimann mit «Die Wasserwaage». In «Der Hut» spricht Annette Mingels vom Ernst und der Phantasielosigkeit unse­res Alltags und den Möglichkeiten, die­se zu durch­bre­chen. Warum nicht mit rosa Hut und getupf­tem Kleid in ande­re Identitäten, Zeiten, Leben schlüp­fen und damit dem Alltag ein biss­chen Poesie abrin­gen? So ergeht es auch der Protagonistin von Franz Hohlers «Der Schrank», als ihr ein­tö­ni­ger Alltag plötz­lich durch­bro­chen und sie unver­mit­telt mit einer Gefühlsregung kon­fron­tiert wird. Tim Krohn wür­digt mit «Die Kaffeebüchse» einen wert­los gewor­de­nen Gegenstand, eine «Spur des Zerfalls, den heu­te nie­mand mehr will». Ilma Rakusa beschreibt in «Das Rechenbrett» einen Gebrauchsartikel als Teil des mensch­li­chen Selbst.

Einige Autorinnen und Autoren (Stephan Pörtner: «Der Sessel», Beat Sterchi: «D‘Lampe», Ruth Schweikert: «Der Föhn und das Kostüm», Roger Graf «Die Kinderschnecke») spre­chen über das Symbolhafte von Objekten und wie die­se zu Sinnbildern für getrof­fe­ne Entscheidungen und ver­pass­te Chancen, zu stum­men Zeugen inti­mer Momente und unab­ding­ba­ren Voraussetzungen wer­den. Das kann lustig wer­den, so bei­spiels­wei­se, wenn Isolde Schaad in «Das Standtelefon» mit erfri­schend-ehr­lich hel­ve­ti­schem Akzent den aben­teu­er­li­chen Weg eines weis­sen Telefons nach­zeich­net. Mit Fabulierlust und Phantasie ver­knüpft sie mei­ster­haft Pop-Art und schwei­zer Lokalkolorit. Und dann erzählt da noch Gion Mathias Cavelty in einer ziem­lich abstrus-gru­se­li­gen Geschichte («Der Spiegel»), war­um man es sich gut über­le­gen soll­te, bevor man sich auf einen gebrauch­ten Gegenstand ein­lässt.

Nachdenklich und beschwingt

Dies sind die Fäden, wel­che das Brockenhaus in sei­ner Audiotour ver­wo­ben hat. Sie las­sen einen nicht kalt, son­dern schaf­fen viel­fäl­ti­ge Anknüpfungspunkte an per­sön­li­che Erinnerungen. Wer kennt es nicht, das freu­dig-ner­vö­se Gefühl, wenn man einen längst ver­ges­sen geglaub­ten Gegenstand sei­ner Kindheit plötz­lich wie­der in Händen hält. Was ist es, das uns in dem Moment berührt? Vielleicht, dass Zeit plötz­lich und unmit­tel­bar erleb­bar wird? Dass das Ich von damals und das jet­zi­ge Ich für einen Augenblick ver­bun­den sind? Ich ver­las­se die Ausstellung in ver­gnüg­ter Stimmung — und das, obwohl hier über ele­men­ta­re Fragen des Lebens nach­ge­dacht wird. Vieles in den Texten ist Andeutung und nur zwi­schen den Zeilen zu lesen. Es sind lei­se, unauf­ge­reg­te Töne, die hier ange­schla­gen wer­den. Und doch — oder gera­de des­halb — rühr­ten sie an etwas in mei­nem Inneren.

Obwohl nicht jede Geschichte über­zeugt und in sich schlüs­sig ist, bil­den sie gemein­sam mit den Gegenständen und als Audiotour ein har­mo­ni­sches Ganzes. Am inter­es­san­te­sten sind die­je­ni­gen Kurzgeschichten, die in Form einer mit Leichtigkeit skiz­zier­ten Alltagsbeobachtung, eines Märchens oder einer augen­zwin­kern­den Phantasie daher­kom­men.

Bei mei­nem Besuch war ich als ein­zi­ge auf der Audiotour unter­wegs. Schade, weist das Personal nicht aktiv auf die Ausstellung hin. Viele Menschen, die im Brockenhaus ein­kau­fen, besu­chen sel­ten Ausstellungen. Wenn nun gebrauch­te Alltagsgegenstände Thema einer Ausstellung sind, soll­te die­se auch so ver­kauft wer­den, dass Kulturgenuss zum Alltag für jede und jeden wird.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

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