Landleben zwi­schen Hass und Liebe, Leben und Tod

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«Diese Schwester hat nichts als Schande über unse­re Familie gebracht!» Emile sagt das immer und immer wie­der. Seine Schwester heisst Lucie Cabrol, ist klein­wüch­sig und irgend­wie aus­ser­ge­wöhn­lich. Zumindest glau­ben das alle, und sie sel­ber auch irgend­wann. «Cocadrille» wird sie genannt, weil Emile behaup­tet, sie kön­ne mit ihren Blicken töten. Und trotz all den schau­er­li­chen Attributen, die der Lucie nach­ge­sagt wer­den, wird auch am Ende des über zwei­stün­di­gen Stücks nicht ganz klar, was an Lucie so ver­ach­tens­wert ist, dass sie den Hass aller auf sich zieht und am Ende ganz aus der Dorfgemeinschaft aus­ge­schlos­sen wird.

«Die drei Leben der Lucie Cabrol» spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer länd­li­chen Berggegend und erzählt die Geschichte einer stig­ma­ti­sier­ten Frau, die aus ihrer hexen­ar­ti­gen Rolle ihr gan­zes Leben lang nicht her­aus­fin­det – zumin­dest nicht, solan­ge sich ihr Leben im Diesseits ereig­net. Lucie wird gehasst, von ihren Brüdern eben­so wie von ande­ren Dorfbewohnern. Nur ihre Eltern ver­mö­gen ihr ein wenig Liebe zu schen­ken und als die­se ster­ben, ist Lucie end­gül­tig allein und zuhau­se der Feindseligkeit ihrer Brüder aus­ge­lie­fert. Dabei ist es ihr innig­ster Wunsch, geliebt zu wer­den. Obwohl Lucie, ein­drück­lich gespielt von Rachel Matter, im Stück nie laut jam­mert oder klagt über die grau­sa­me Ausgrenzung, die sie seit ihrer Geburt erlebt, ist ihr Wunsch nach Akzeptanz und Liebe omni­prä­sent. Trotz allen Widrigkeiten und Widerwärtigkeiten in ihrem Leben legt sie eine Willensstärke an den Tag, die ihre Brüder und Dorfgenossen in ihrer gan­zen Feigheit und Schwäche, die sich hin­ter der Machtdemonstration und aggres­si­ven Ausgrenzung ver­stecken, ent­larvt.

Nur Jean, ein Bursche aus dem Dorf, wird Lucie zu so etwas Ähnlichem wie einem Freund. Von ihm fühlt sie sich ver­stan­den, wie von nie­man­dem sonst. Aber auch er schliesst sich der Mehrheit an, distan­ziert sich von Lucie und in den lan­gen 40 Jahren, in denen sich die bei­den nicht begeg­nen, wächst sein Hass gegen sie. Aber was ist eigent­lich Hass?

Starke Darsteller

Das Theater Ariane hat aus John Bergers Erzählung «Die drei Leben der Lucie Cabrol» ein unglaub­lich ener­gi­sches und tem­pe­ra­ment­vol­les Stück gemacht. So behä­big die dar­ge­stell­te länd­li­che Welt auch ist, das Ensemble des Theaters Ariane ver­mit­telt die har­ten Gesetze die­ser Welt kraft­voll und mit gros­ser Körperarbeit. Die Inszenierung von Jordi Vilardaga lebt wesent­lich vom unge­heu­ren Körpereinsatz der Darstellenden und sie nimmt die kar­ge Sprache John Bergers gekonnt auf, in der die Aufrichtigkeit eben­so wie die Hartherzigkeit des Bauernlebens zum Ausdruck kom­men. Eine beson­ders star­ke Leistung zeigt Rachel Matter in der Hauptrolle. Trotz ihrer leib­haf­ti­gen Körpergrösse, die so nicht zur klein­wüch­si­gen Lucie pas­sen will, schafft sie es, das Andersartige und Eigenwillige die­ser Figur so dar­zu­stel­len, dass man ihre ech­te Körpergrösse ver­gisst. Keine Sekunde steht Lucie still, immer ist sie hell­wach und in Bewegung, und obwohl äus­ser­lich kei­ne Veränderungen vor­ge­nom­men wer­den, nimmt man der 40-jäh­ri­gen Matter das klei­ne Kind eben­so ab wie die alte Frau. Denn das Stück erstreckt sich über die gesam­te Zeitspanne von Lucies Leben, oder bes­ser: Ihrer drei Leben.

Lucies zwei­tes Leben spielt sich abseits der Dorfgemeinschaft ab, wo sie allei­ne leben muss. Ihr unzer­stör­ba­rer Trieb zu über­le­ben rührt schein­bar vom Wunsch her, den den Leuten zu bewei­sen, dass sie es kann. Ein Wiedersehen mit Jean ver­an­lasst sie im hohen Alter zu einem muti­gen Schritt, um sich ihren lebens­lan­gen Wunsch zu erfül­len. Doch dazu kommt es nicht mehr in ihrem irdi­schen Leben; Lucie wird Opfer einer Gewalttat, die ledig­lich der Gipfel aller Gewalt dar­stellt, die sie ihr gan­zes Leben über erlei­den muss­te.

Menschlichkeit unter den Toten

Doch auch mit den Toten lässt es sich leben. Oder viel­mehr: Mit den Toten lässt es sich erst wirk­lich leben. Denn unter ihnen fin­det sich Lucie schnell zurecht. Was sie im Diesseits nie wirk­lich erle­ben durf­te, erfährt sie end­lich in ihrem drit­ten Leben im Jenseits: Menschlichkeit. Und so erfüllt sich ihr lan­ge geheg­ter Wunsch in die­ser ande­ren, huma­nen Welt.

«Die drei Leben der Lucie Cabrol» vom Theater Ariane dau­ert mehr als zwei Stunden. Es ist nicht ein­fach, die­se viel­schich­ti­ge, ver­wor­re­ne Geschichte, die durch eine sehr lan­ge Epoche mit zwei Weltkriegen zu mäan­drie­ren scheint, nach­zu­er­zäh­len. Aber der Rote Faden geht in die­sem Stück nie ganz ver­lo­ren. Immer wie­der kommt die Erzählung auf ihren Kern zurück und führt das Publikum dezent durch Lucies Leben. Eine wun­der­ba­re Kombination von linea­rer Schilderung, die Orientierung gibt, und moder­nem Theater, das in der Zuschauerin mehr aus­lö­sen kann als die simp­le Wiedergabe einer Erzählung.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

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