Simonetta Sommaruga, Pianistin und Bundesrätin

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Von Karl Schüpbach und Lukas Vogelsang – Karl Schüpbach: Nach den ver­hee­ren­den, auf­wüh­len­den Ereignissen in Fukushima und den anhal­ten­den Umwälzungen im ara­bi­schen Raum gibt es für mich nur die impe­ra­ti­ve Forderung: die Welt muss inne­hal­ten, Atem schöp­fen, neu gewich­ten. Doch es mel­den sich Zweifel: ande­re schwer­wie­gen­de Krisen wer­den aus­ge­ses­sen, viel­leicht Flickwerk ein­ge­setzt, aber tota­les Umdenken – nein (Finanz- und Bankenkrise!). Daher mei­ne Frage: ist die Menschheit über­haupt noch lern­fä­hig?

Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Ja sicher. Auch wenn man manch­mal einen Moment lang dar­an zwei­felt. Aber die Menschheit muss immer wie­der ler­nen.

Wenn es einen Strohhalm gibt, könn­te sich die Kultur – nach einer völ­li­gen Neugewichtung – als Rettungsanker anbie­ten?

Die Kultur war schon immer ein zen­tra­ler Motor in der Entwicklung der Menschheit, das wird sie auch blei­ben. Den Stellenwert der Kultur muss sich die Politik immer wie­der neu über­le­gen. Als Kulturschaffende, als ehe­ma­li­ge Kulturschaffende, ver­fü­ge ich dafür über eine beson­de­re Sensibilität.

Das hat es in der Schweiz noch nie gege­ben: ein Musiker darf einer aus­ge­bil­de­ten Pianistin und gewähl­ten Bundesrätin Fragen stel­len. Diese Einmaligkeit hat sich nach der Wahl auch in der Presse in einer gewis­sen Unsicherheit der Kommentare wider­spie­gelt: Obwohl Sie schon län­ge­re Zeit in der Politik tätig sind, ist die Kombination Politikerin auf höch­ster Ebene / Pianistin ein Novum. Ein Journalist hat die­se Besonderheit mit der eiser­nen Disziplin, die einer Künstlerin eigen ist, als Privileg zu defi­nie­ren ver­sucht. Aus fach­li­cher Sicht ist dies mei­ner Ansicht nach inso­fern falsch, als eine Vertreterin eines belie­bi­gen Berufes die­se Voraussetzung als Bundesrätin erfül­len muss. Wo also liegt in Ihren Augen das Geheimnis, das einer Musikerin im Bundesrat Erfolg ein­brin­gen kann? Kreativität? Die Kunst des Zuhörens?

Es gibt kei­ne Ausbildung, um Bundesrätin zu wer­den – viel­leicht einer der weni­gen Berufe, für den es kei­ne typi­sche Ausbildung gibt. Ich bin über­zeugt, und das ist auch mei­ne Erfahrung, dass der Beruf einer Musikerin für eine Politikerin eine sehr geeig­ne­te Voraussetzung ist. Wer Musik macht, kann zuhö­ren, hat das auch geübt. Er kann sich sel­ber zuhö­ren, auch ande­ren selbst­ver­ständ­lich, das ist wich­tig. Disziplin ist in der Musik und in allen Künsten, zusam­men mit der Begabung, eben­falls eine wich­ti­ge Voraussetzung. Auch das kann man in der Politik gut gebrau­chen. Vor allem aber, und das ist für mich das Wichtigste, steht die Kreativität, in der Tat. Politik ist eine höchst krea­ti­ve Tätigkeit: Man ver­sucht, für die Gesellschaft Lösungen zu fin­den, die für mög­lichst vie­le oder für alle gut sind, und von den mei­sten mit­ge­tra­gen wer­den kön­nen. Da bin ich eben über­zeugt, dass die Kreativität, die man in der Musik übt, pflegt und aus­bil­det, aus­ser­or­dent­lich wert­voll ist, um in der Politik gute Lösungen zu fin­den.

Übrigens, einen Satz möch­te ich noch anfü­gen: Eine gute Bundesrats-Sitzung ist wie Kammermusik. Und es gibt immer wie­der auch Kammermusik in den Bundesrats-Sitzungen.

Diese Frage noch ver­tieft: ich bin der festen Überzeugung, dass ein­zig eine gewal­ti­ge Aufwertung der Kultur im wei­te­sten Sinne, die Welt aus der heu­ti­gen, lebens­be­droh­li­chen, Situation her­aus­füh­ren kann. Dies gilt vor allem für die rei­chen Nationen, also auch für die Schweiz. Gerade hier aber stiehlt sich die Regierung unse­res Landes weit­ge­hend aus der Verantwortung und über­lässt die Kulturförderung den Kantonen. Ist das noch zu ver­ant­wor­ten? Ist hier der Föderalismus nicht zum Scheitern ver­ur­teilt?

Die Kultur braucht sicher das Engagement der Politik. Aber ich glau­be, man soll­te die Erwartungen an die Politik auch nicht zu hoch schrau­ben. Die Kultur braucht auch Freiräume, die Kultur braucht eine Gesellschaft, die bereit und auch fähig ist, sich in der Kultur zu enga­gie­ren, um nicht zu sagen, sie zu kon­su­mie­ren. Die Kulturförderung, ganz spe­zi­fisch poli­tisch gese­hen, wird häu­fig mit der Vorstellung ver­knüpft, Gesetze zu machen oder Geld zu spre­chen. Ich glau­be, das wäre zu eng gefasst. Also: Die Kultur muss einen hohen Stellenwert haben in der Gesellschaft, und die Politik kann und muss dazu einen Beitrag lei­sten, aber sie kann nicht die allei­ni­ge Verantwortung über­neh­men, um Kultur in einer Gesellschaft zu för­dern.

Sie haben sich kürz­lich in einer Radiosendung (Samstagsrundschau) zu eben die­sem Föderalismus bekannt, es ging um eine enge Zusammenarbeit mit den Kantonen in der Frage einer all­fäl­li­gen Flüchtlingswelle aus dem nord­afri­ka­ni­schen Raum. Es gibt Sachgebiete, die in der allei­ni­gen Kompetenz des Bundes lie­gen, zum Beispiel der National-Strassenbau. Kann es wahr sein, dass dem­ge­gen­über huma­ni­tä­re Fragen und die Kultur Probleme von unter­ge­ord­ne­ter Bedeutung sind?

Ich bin wirk­lich eine Anhängerin des Föderalismus. Ich habe die Erfahrung gemacht – ich war ja auch lan­ge Gemeinderätin, und in der Regierung einer gros­sen Gemeinde –, dass vie­le Entscheidungen, die in den Gemeinden nahe bei den Leuten gefällt wer­den, gute Entscheidungen sind. Dieses föde­ra­le System lässt die Möglichkeit der Kreativität zu, die Möglichkeit, dass etwas an einem klei­nen Ort ent­wickelt und dann aus­ge­wei­tet wird. Die Meinung, dass nur gut geför­dert, gut unter­stützt und einen hohen Stellenwert hat, was vom Bund orga­ni­siert ist, die­se Meinung tei­le ich über­haupt nicht. Daher wäre es aus mei­ner Sicht auch falsch zu sagen, wenn sich der Bund nicht um die Kultur küm­mert, sie zen­tral steu­ert, dann hat Kultur einen zu klei­nen Stellenwert. Das wäre, so glau­be ich, zu kurz gegrif­fen. Aber der Bund hat natür­lich eine Mitverantwortung, des­halb gibt es ja auch den Kulturförderungs-Artikel in der Bundesverfassung. Aber ich glau­be, wir soll­ten nicht unter­schät­zen, was gera­de im schwei­ze­ri­schen System auf der Ebene der Gemeinden und Kantone mög­lich ist und auch tat­säch­lich gere­gelt wird.

Die ursprüng­li­che Idee des Ständerates war ein­leuch­tend: es soll in unse­rem Regierungssystem eine Kammer geben, wo der Kanton Nidwalden über das glei­che Gewicht ver­fügt wie der Kanton Zürich. Allein, ist ein solch par­ti­ku­lä­res Denken heu­te im Zeitalter ganz­heit­li­cher Denkweise noch ange­bracht? Und noch ein­mal zurück zum Ständerat: der Nationalrat hat die Initiative «Jugend und Musik» mehr­heit­lich ange­nom­men. Diese Initiative ver­langt, dass die Förderung musi­scher Fächer durch die Schule in der Verfassung ver­an­kert wird. Der Ständerat aber ver­langt einen Gegenvorschlag, was erfah­rungs­ge­mäss zu einer Verwässerung einer Initiative führt. Was hal­ten Sie von die­ser Entwicklung?

Der Ständerat hat als Rat die Aufgabe, die Sicht der Kantone stär­ker zu berück­sich­ti­gen, das hängt mit unse­rem poli­ti­schen System zusam­men. Der Ständerat hat sicher bei sei­nen Überlegungen zur Initiative «Jugend und Musik» die Sicht der Kantone und die Kompetenzverteilung zwi­schen Bund und Kantonen stär­ker gewich­tet als der Nationalrat. Der Bundesrat lehnt die Initiative «Jugend und Musik» ab, er ist der Meinung, dass die Kompetenzen heu­te rich­tig ver­teilt sind, dass eben der Bildungsbereich in der Zuständigkeit der Kantone liegt, dass sich der Bund hier nicht ein­mi­schen soll, auch nicht par­ti­ku­lär und spe­zi­fisch für die Musik. Ich habe als ehe­ma­li­ge Musikerin grund­sätz­lich sehr gros­ses Verständnis dafür, dass man den Bereich der Musik und der musi­ka­li­schen Bildung grund­sätz­lich stär­ker gewich­tet als bis­her, ähn­lich wie man das ja im Bereich Jugend und Sport tut, die Initiative lehnt sich ja dar­an an. Und ich bin als ehe­ma­li­ge Musikerin auch über­zeugt davon, dass es sich für die Gesellschaft lohnt, dass unse­re Kinder und Jugendlichen Zugang haben zu musi­ka­li­scher Bildung, dass sie ein Instrument ler­nen kön­nen. Es ist wis­sen­schaft­lich nach­ge­wie­sen, Untersuchungen bele­gen es, dass eine musi­ka­li­sche Bildung, die Ausbildung an einem Instrument, die Entwicklung des Gehirns för­dert, indem eben die lin­ke und die rech­te Hirnhälfte bes­ser mit ein­an­der in Kontakt sind, und die intel­lek­tu­el­len und emo­tio­na­len Fähigkeiten, wie man so sagt, bes­ser in einen Ausgleich gebracht wer­den. Das sind Entwicklungen, die für die Gesellschaft sehr wich­tig sind.

Um auf die Initiative zurück zu kom­men: Ich ver­tre­te die Meinung des Bundesrates, in mei­ner heu­ti­gen Funktion. Der Bundesrat ist der Meinung, dass es die­se Initiative nicht braucht. Er hat sich damit aber nicht gegen das Anliegen aus­ge­spro­chen, das die Initiative ver­tritt, son­dern der Bundesrat möch­te die jet­zi­ge Kompetenzverteilung nicht ändern. Das bedeu­tet, dass die Bildung und die Musik, die Ausbildung, in die Kompetenz der Kantone gehö­ren. Dort wo der Bund, im Bereich der musi­ka­li­schen Kulturförderung, sei­nen Beitrag lei­sten will, sind die Grundlagen dazu bereits gelegt.

Abschliessend noch eine Frage an die Pianistin: spü­ren Sie manch­mal, wenn es Ihre Zeit zulässt, das Bedürfnis, Ihre Stimmung mit Musik aus­zu­drücken? Können Sie uns ver­ra­ten, wel­ches Meister-Werk der Klavierliteratur steht Ihnen denn am näch­sten? Lässt sich die­se Wahl erklä­ren?

Ich spie­le noch regel­mäs­sig Klavier, immer wie­der, manch­mal abends, oft nur eine Viertelstunde. Nicht unbe­dingt um eine Stimmung aus­zu­drücken, son­dern um mich wie­der zu kon­zen­trie­ren und um zurück zu fin­den zum Wesentlichen. Dann spie­le ich Bach, eigent­lich immer Bach. Und zwar momen­tan haupt­säch­lich aus dem «Wohltemperierten Klavier»; das ist ein Kosmos, in den ich mich hin­ein bege­ben kann, da hat es immer etwas dabei, je nach Stimmung oder Bedürfnis. Ich kann dort auch immer wie­der Neues ler­nen. Ich spie­le vie­le Präludien, und die Fugen muss ich mir immer wie­der hart erar­bei­ten. Ich ver­su­che auch immer wie­der Neues zu ler­nen aus dem «Wohltemperierten Klavier», um mich gei­stig und tech­nisch eini­ger­mas­sen fit zu hal­ten. Wenn ich wirk­lich wenig Zeit habe, spie­le ich manch­mal nur eine ein­zi­ge Variation aus den «Goldberg Variationen». Dazu gibt es übri­gens ein sehr schö­nes Buch von Anna Enquist, das ich gera­de lese. Das Buch wid­met jeder Variation ein Kapitel. So kann ich die Literatur und die Musik, die mir bei­de sehr nahe ste­hen, mit ein­an­der ver­bin­den.

Frau Bundesrätin, wir dan­ken Ihnen sehr herz­lich für die Beantwortung unse­rer Fragen. Mögen Sie wei­ter­hin den rich­ti­gen Fingersatz, den idea­len Anschlag und die gute Pedal-Mischung für die Dur- und Moll-Tonarten in Ihrer täg­li­chen Arbeit fin­den!

Foto: Kapuli Dietrich
ensuite, Juni/Juli 2011

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