«Hier bin ich» – oder dann doch nicht? Zum neu­en Buch von Jonathan Safran Foer

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Von Dr. Regula Stämpfli - Es gab nur Kalorien. Das Ricotta-Brioche, der Linsensalat und der köst­li­che Brüsselersalat muss­ten für ein­mal war­ten. Immerhin: Es gab Kalorien und den fol­gen­den Dialog: «Zwei Stück Roggenbrot mit sam­ti­ger Erdnussbutter, dia­go­nal geschnit­ten, mit Liebe ser­viert.» Jacob reich­te Benjy den Teller.

«Hey, das ist meins!» fing Max den Teller ab.
«Ok. Dafür gibt es Honig-Cheerios mit Reismilch für Benjy.»
«Das sind nur ganz nor­ma­le Cheerios – mit Extra-Honig drauf­ge­schmiert» mein­te Max.
«Ja.»
«Warum lügst Du ihn dann an?»
«Danke, Max.»
«Zudem woll­te ich Toast, kein immolier­tes Stück Brot.» «Immoliert?» frag­te Benjy.
«Durch Feuer zer­stört» mein­te Deborah.
«Wie war das schon wie­der mit Camus?» frag­te Irv. Bejy: «Man darf nicht lügen.»

«Here I am» heisst das Buch von Jonathan Safran Foer. Der Dialog stammt aus dem Original, wobei ich frei über­setzt habe. Dies nicht zuletzt des­halb, weil die deut­sche Wiedergabe unglaub­lich schlecht sein soll. «Kein Wunder», dach­te ich mir beim Lesen. Wie kann man nur einen der­art wit­zi­gen, sprach­mä­an­dern­den Text vol­ler Anspielungen, Wortverspiegelungen über­haupt über­set­zen?

Deshalb war ich so frei. Foer schafft es, eine Familie, eine Zeit, einen Ort so unglaub­lich leben­dig zu erzäh­len, dass ich strecken­wei­se mein­te, die Blochs wären mei­ne Verwandten. Zugegeben: Menschen, die kei­ne Verwandten im Ausland haben oder ihr Leben aus­schliess­lich mit Schweizern zubrin­gen, mögen – beson­ders bei den Gesprächen – völ­lig über­for­dert sein. Dies wird aber den Lesegenuss nicht schmä­lern.

Vor allem, wenn sie sich ans Original wagen, egal wie gut ihre Englischkenntnisse sind. Nach der Lektüre sind sie dafür mit hun­dert­pro­zen­ti­ger Sicherheit bes­ser. Foer ist ein Sprachgigant. Ein Spieler, Wortfetischist, phi­lo­so­phi­scher Würfler, vol­ler Codes, Hinweisen und Ironie, die in die­ser Perfektion meist nur in der Muttersprache funk­tio­niert. Es sei denn, die Übersetzerin wie­se ähn­li­che Qualitäten auf wie der Erstautor, dann wür­de das Werk auch in der ande­ren Sprache zum Original. Nicht von unge­fähr sind die besten Schriftsteller gleich­zei­tig auch genia­le Übersetzer. So konn­te sich Maxim Biller vor Lob über Alex Capus gar nicht ein­krie­gen, weil die­ser den Sound des Kultautors John Fante offen­bar voll zum Klingen gebracht hat. Capus beschreibt Fante mit «ita­lie­ni­scher Leidenschaft gepaart mit cali­for­ni­scher Coolness» – tja, klingt nach Jungenroman.

Foer ist im Vergleich kein Buben-autor, son­dern schlicht ein Genie. In einem ande­ren Werk erzählt er eine Reise in den Osten Europas. Dort, wo Millionen von Europäern ver­gast wur­den. Ich sage mit Absicht «Europäer» und nicht «Juden», denn letz­te­re Kategorie behin­dert bis heu­te, den Zivilisationsbruch und die Moderne in ihrer Ambivalenz so zu deu­ten, dass «Nie wie­der Auschwitz» wirk­lich zuträ­fe. Foers Romane sind alles poe­ti­sche Gegenentwürfe und erklä­ren meist mehr als jedes Geschichtsbuch dies könn­te. Foer macht die Augen trä­nen und das Herze lachen. Schon in sei­nem Sachbuch «Tiere essen» erzähl­te er die Welt, das Leben und brach­te mich dazu, ganz anders über mein Essen nach­zu­den­ken. Mein Leben ist dank Foer sinn­li­cher, lebens­freu­di­ger, aber auch radi­ka­ler gewor­den. Denn die Dringlichkeit, die sich mit der jüdi­schen Identität zu allen Zeiten lebt, ver­schmilzt sich wäh­rend des Lesens mit der eige­nen Identität.

Foers drit­ter Roman behan­delt die wich­tig­sten Fragen die­ser Welt: Kinder, das Scheitern der Liebe, Familie, Heimat. Die ersten drei­hun­dert Seiten ver­schlang ich wie in Trance. Nichts exi­stier­te mehr aus­ser­halb. Die Dialoge – ein Zuckerschlecken mit unbe­zähm­ba­ren Lachanfällen. Die Menschlichkeit – ein im hei­mat­li­chen gut rie­chen­den Bett wüh­len­de Sinnlichkeit. Die han­deln­den Personen – ein Kabinett sämt­li­cher ver­schwur­bel­ter Familienmitglieder inklu­si­ve längst ver­gan­ge­ner Freunde. Sex, Dialog und Humor ent­füh­ren die Leserin in einen Rausch.

Und dann pas­siert was ganz Schreckliches.

Foer steigt von der Familie um auf die Politik. Völlig unver­ständ­lich. Was hat den genia­len Schreiber gerit­ten, sein Judentum, die Vergangenheit und aktu­el­le Nahostpolitik in sei­ne Geschichte zu tra­gen? Weshalb hat Foer sei­ne komi­schen Einzeiler, sei­ne gross­ar­ti­gen Innenansichten sowohl von Teenagern, Frauen und Männern ver­las­sen, um POLITIK zu schrei­ben? Und dies, dar­über hin­aus, völ­lig kon­fus?

Hat er – ganz im Thema des Buches ver­wo­ben – ver­ges­sen, was es heisst, innen und aus­sen nicht per Mikroskop fest­zu­le­gen, son­dern zu erzäh­len? Ist er von Evolutionsbiologen gepackt wor­den, die schon lan­ge ver­su­chen, alle Menschen in einer veri­ta­blen Kategorienorgie zu ersäu­fen?

Ich war erschüt­tert. 300 Seiten lösten sich in den nach­fol­gen­den 300 Seiten in einer völ­lig miss­ra­te­nen Polittherapie auf.

«Aufhören! Aufhören! Aufhören!» schrie ich die letz­ten 300 Seiten unun­ter­bro­chen, was mei­ne Familie erheb­lich irri­tier­te, war ich doch vor­her voll des Lobes gewe­sen. Trotzdem: Lesen. Foer ist der Hammer. Selbst da, wo er nicht ver­stan­den wird.

 

[Here I am. A novel by Jonathan Safran Foer, N.Y.]

 

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