Heute hat­te ich ein Flash-Back

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Von Peter J. Betts – «Heute hat­te ich ein Flash-Back», schreibt der Geologe und Fotograf Alexander «Wolfx» Egger: «Anfangs der 70er Jahre war ich für die natio­na­le Kommission zur Erforschung und Prospektion uran­hal­ti­ger Mineralien in vie­len Kraftwerkstollen, und auch in den Tunnels der Autobahn ins Tessin unter­wegs. Die Schweiz woll­te damals eine Atommacht wer­den. Es waren haupt­säch­lich Süditaliener, die die­se Stollen gesprengt haben. Sie wer­den spä­ter wohl nur sel­ten in den Genuss, die­se Strassen zu benut­zen, gekom­men sein…» Voraussichtlich wird am 15. Oktober 2010 der Durchstich des neu­en Gotthardtunnels mit allem Drum und Dran zele­briert wer­den. Voraussichtlich, denn die Sicherheit geht vor, behaup­ten, hof­fent­lich glaub­wür­dig, die Verantwortlichen. Noch sind eini­ge hun­dert Meter mut­mass­lich har­ten Gesteins zu boh­ren, spren­gen, räu­men, und die Röhre ist abzu­si­chern. Unvorhersehbare Probleme, etwa locke­res Gestein oder Wasser, kön­nen jeder­zeit das von den Festlichkeitsorganisationen gesetz­te Ziel hin­aus­zö­gern. Hunderte von Arbeitenden sind bei und in der Baustelle Sedrun jede Nacht (im Tunnel ist es immer Nacht) wäh­rend vier­und­zwan­zig Stunden im Schichtbetrieb beschäf­tigt: unter ande­rem Menschen aus dem ehe­ma­li­gen Jugoslawien und Ostdeutschland, aus Österreich, Polen, Portugal, Italien, der Türkei, und eini­ge aus der Schweiz, die­se häu­fig in lei­ten­den Positionen; auch etwa zwan­zig Frauen (aus Administration, Küche, dem Putzteam, Ingenieurinnen, Geologinnen), gehö­ren zum Team. Die mei­sten der Arbeitenden woh­nen durch­schnitt­lich acht- bis neun­hun­dert Kilometer vom Arbeitsort ent­fernt, und die mei­sten von ihnen sind bereits auf der Suche nach einer näch­sten Tunnelbaustelle. Zwei heik­le Vertikalbohrungen sind vor­ab erfolgt: für die erste war ein Team von Spezialisten aus Südafrika bei­gezo­gen wor­den, die zwei­te (man hat­te gelernt) wur­de vom Normalteam durch­ge­führt. Während zehn Tagen arbei­ten die Leute im Loch in drei Schichten zu acht Stunden, bei auf 28 Grad Celsius her­un­ter­ge­kühl­ter Temperatur, in Staub, Dreck, Lärm und Gestank mit einer Vierzigminutenpause fürs Essen. Pro Tag erfolgt etwa eine Sprengung, die Gesteinsbrocken wer­den von einer gewal­ti­gen Maschine aus dem gespreng­ten Felsen nach hin­ten trans­por­tiert, in Mahlwerken zer­trüm­mert und ver­klei­nert – das brauch­ba­re Material wird zu Zement ver­ar­bei­tet, um die gespreng­te Röhre abzu­si­chern. Tag für Tag für Tag. Nach zehn Tagen: vier Tage Pause. Ein Süditaliener etwa fährt mit dem Auto non­stop nach Mailand, fliegt nach Neapel, wird dort von Tochter, Sohn, Frau oder Schwiegertochter mit dem Auto abge­holt, am drit­ten Tag: auf glei­che Weise zurück; die Polen fah­ren, nur mit Pausen zum Auftanken, in Fahrgemeinschaften nach Hause; auch sie sind nach vier Tagen wie­der im Tunnel. Nach der Arbeitsschicht woh­nen sie in ihren Einzelzimmern, die mei­sten haben einen eige­nen Fernseher – der gemein­sa­me Fernseher wird kaum benützt (auch nicht wäh­rend der Fussball-WM). In der Kantine gibt es für sie­ben Franken reich­li­ches und gesun­des Essen – der Grossteil ver­pflegt sich sel­ber, bringt das ein­ge­spar­te Geld nach Hause. Die Siedlung der Arbeitenden (seit über zehn Jahren ist die Baustelle im Betrieb) am Rande der Terrasse, auf der auch das Dorf Sedrun steht (Chur, der näch­ste grös­se­re Ort, fünf­und­sieb­zig Minuten ent­fernt). Ein Bähnchen führt von der Siedlung zur Baustelle hin­un­ter. Können Sie sich den Dreissigjährigen Krieg ohne Marketenderinnen vor­stel­len? Nicht weit von der Baustelle gibt es, wie es sich für einen Feldzug gehört, ein Bordell. Sehr dis­kret. Der Unia (Gewerkschaft) Vertreter, Roland Schiesser, hat­te eine Idee gehabt: mit dem Durchstich soll­ten alle Mitarbeitenden der Baustelle Sedrun (und die noch erreich­ba­ren AbgängerInnen) ein beson­de­res Geschenk erhal­ten. Die Arbeitsgemeinschaft der Unternehmer, Transco, unter­stützt die Idee: so finan­zie­ren denn UNIA und TRANSCO gemein­sam die­ses Geschenk – schon das ein klei­ner Akt der Solidarität, ein Hauch glaub­wür­di­ger Kultur. Es soll ein ganz beson­de­res Buch für alle ArbeitnehmerInnen geschaf­fen wer­den. Eine gewal­ti­ge orga­ni­sa­to­ri­sche Herausforderung und Leistung der Verwaltungsleute! Der Buchdeckel sieht täu­schend echt wie das har­te Gotthardgestein aus, Streifengneis, durch das Buch führt ein qua­dra­ti­sches Loch von Deckel zu Deckel: wohl nicht erklä­rungs­be­dürf­tig. Natürlich ent­hält das Buch sin­ni­ge Texte, sicher mit tief emp­fun­de­nen Dankesworten und einer Prise Stolz auf den eige­nen Unternehmergeist, etwa von den Herren Hämmerli und Leuenberger. Aber vor allem ent­hält das Buch, pars pro toto, rund sechs­hun­dert Porträtfotos von allen Mitarbeitenden (Crew 2010, so weit als mög­lich Abgänge 2009), mit Namen, Funktion, Herkunftsland; die Hierarchien durch das Alphabet bestimmt. So ist auch eigens einer der Abgänger aus Thüringen zum Fototermin ange­reist. Wolfx Egger hat­te den Auftrag, alle Erreichbaren zu foto­gra­fie­ren. Während sech­zehn Tagen hat er gegen zwan­zig­tau­send Bilder geschos­sen, dreis­sig bis sieb­zig pro Person. Ein ein­zi­ger Mitarbeiter ist – trotz drei­ma­li­ger Einladung – nicht erschie­nen. Fast kei­ner direkt aus dem Loch. Fast alle frisch geduscht. Wolfx hat mit jedem der Sechshundert wäh­rend drei bis fünf Minuten eine – wenn auch flüch­ti­ge, so doch beid­sei­tig glaub­wür­di­ge per­sön­li­che Beziehung auf­zu­bau­en ver­sucht; alle wuss­ten, wor­um es ging – alle vor und hin­ter der Kamera -, sie erzähl­ten etwa, woher er oder sie kom­men, etwas von den per­sön­li­chen Beziehungen. Austausch. Rund sechs­hun­dert ech­te Kurzdialoge. Nach etwa einem Drittel der Fotostrecke wuss­ten alle Bescheid, und freu­ten sich auf die Fotosession, wie sie sich auf das Geschenk sel­ber freu­en. Alle Sechshundert wur­den mit Helm (nicht dem eige­nen) abge­lich­tet: gelb für Mineure und Grundarbeiter, grün für Elektriker, blau für Mechaniker und Schlosser, weiss für Leitende und Administration. Das Team aus dem Bordell ist bild­mäs­sig aus­ge­klam­mert. Aus Diskretionsgründen. Kein Grund, dass sie auch pro Memoria das Buch erhal­ten? Wie Wolfx in sei­nem «Flashback» sagt: die wenig­sten von den MacherInnen wer­den der­einst von die­sem Loch pro­fi­tie­ren. Sicher wur­den und wer­den sie anstän­dig bezahlt, mit höhe­rem Stundenansatz als in der Baubranche sonst üblich. Aber, was sie gelei­stet haben – auch wenn die Entbehrungen und Gefahren kaum mit jenen des ersten Gotthardtunnelbaus ver­gli­chen wer­den kön­nen – stellt aus­ser­halb von Businesskalkül ein mone­tär nicht bezif­fer­ba­res Geschenk an alle Nichtbeteiligten dar. Das Buch mit Streifengneisdeckel und Loch durch die Mitte ist eine beacht­li­che kul­tu­rel­le Geste, denn nicht erzwun­ge­ner Dank ist Kultur pur. Und bei dem, was man hier ver­dankt, geht es nicht um die Erfüllung von Träumen, eine Atommacht zu wer­den, son­dern buch­stäb­lich – wenn mei­net­we­gen auch mone­tär moti­viert – um greif‑, fühl‑, erleb­ba­re und, wie es sich für die­ses Land gehört, ein­träg­li­che Kommunikation in spe. Auch ein kul­tu­rel­les Zeichen im Politalltag? Dass dann das Buch für alle ande­ren ver­schwin­den wird, also nicht in den Buchhandel kommt, macht es sehr beson­ders. So beson­ders wie die Beteiligung aller an die­sem Tunnel. Bordellbesatzungen ein­ge­schlos­sen. Andererseits, ich per­sön­lich fin­de es scha­de, nicht zu die­sem denk­wür­di­gen Werk kom­men zu kön­nen. Schade zu wis­sen, dass es wohl kaum in der Nationalbibliothek oder in ande­ren Bibliotheken zu fin­den sein wird. Eine ISBN-Nummer hät­te die­se Situation, ohne Wertschmälerung des Geschenkes, wohl ändern kön­nen. Vielleicht in der zwei­ten Auflage? Jedoch: wenn ein Geschenk nicht zum Geschäft wer­den darf, ist das poli­ti­sche Kultur auf höch­ster Ebene, mög­li­che Paradigmenwechsel sug­ge­rie­rend.

Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010

 

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