Der Hase mit den Bernsteinaugen: Ein Plädoyer für Zivilisation

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Von Dr. Regula Stämpfli - Sigmund Freud weiss wenig mit den Künstlerinnen und Künstlern anzu­fan­gen, die sich auf sei­ne Methoden stür­zen. Salvador Dalí war trotz­dem von Freud beses­sen. Eine aktu­el­le Ausstellung im Unteren Belvedere, die noch bis zum 29. Mai dau­ert und auf einer mei­ner Wiener Laufstrecken liegt, beschäf­tigt sich mit «Dalí – Freud. Eine Obsession».

Dort wird uns die Geschichte in Erinnerung geru­fen, dass Sigmund Freud Wien unter kei­nen Umständen ver­las­sen woll­te. Erst als klar war, dass sei­ne gelieb­te Antikensammlung, die Einrichtung sei­nes Arbeits- und Behandlungszimmers samt Couch, mit ihm nach London über­sie­delt wur­de, wil­lig­te er ins Exil ein. Die Behörden zwan­gen Freud, noch vor sei­ner Abreise ein Dokument zu unter­schrei­ben, das besag­te, dass er und sei­ne Familie nicht miss­han­delt wor­den sei­en. Freud unter­schrieb mit dem Kommentar: «Ich kann die Gestapo jeder­mann auf das Beste emp­feh­len.» In London kam es dann zum Treffen zwi­schen dem Frauenhasser Dalí – «manch­mal spucke ich zum Vergnügen auf das Porträt mei­ner Mutter» – und dem ange­be­te­ten Freud. Sigmund Freud ist selt­sam berührt, hält er die Surrealisten, die sich auf ihn beru­fen, «für Narren», doch immer­hin schei­nen ihm Dalís Bilder aus ana­ly­ti­scher Perspektive inter­es­sant. 1939 ver­stirbt Freud, und Dalí gibt sich sei­nen faschi­sti­schen Fantasien hin, zieht nach Francos Spanien und gra­tu­liert die­sem 1975 zur Hinrichtung von fünf Regimegegnern.

Diese Einführung ver­weist auf Elfriede Jelinek, dass sich alle Kunstwerke nach Auschwitz in irgend­ei­ner Form auf Auschwitz beru­fen soll­ten. Die Dalí-Geschichte ist mir so auf­ge­stos­sen, weil die Ausstellung in Wien dem Fascholiebhaber Dalí wie vie­len ande­ren Männer-Führerkünstlern auch auf der lin­ken Seite viel zu viel Raum gege­ben wird, obwohl längst «time is up» wäre.

Der höchst pro­ble­ma­ti­sche Dalí wütet in mir dop­pelt, drei­fach, mehr­fach, und des­halb hier das ein­zi­ge Heilmittel, auch aus Wien, näm­lich der zau­ber­haf­te Roman «Der Hase mit den Bernsteinaugen» von Edmund de Waal. Es war das Buch der Wahl bei der Aktion WIEN 2021 «Eine Stadt, ein Buch».

Die Netsuke, die klei­ne japa­ni­sche Figur aus Elfenbein, einen zucker­süs­sen Hasen zei­gend, die dem Roman auch den Namen gibt, stand in der Vitrine neben 263 ande­ren Figürchen im Palais der Familie Ephrussi an der Wiener Ringstrasse. Die Netsuke führt uns durch die Geschichte Europas, begin­nend in Paris 1871 und endend in Tokio, Odessa und London 2009. Vorangestellt ist dem Roman, des­sen lite­ra­ri­sche Qualität über die Seiten immer bes­ser wird, ein Zitat von Charles Swann, genau, von der Marcel-Proust-Figur, also vor­an­ge­stellt ein Text davon nun auch im ensuite, nicht in vol­ler Länge, aber so, dass über die Verbindung von Mensch und Ding – sie­he Freuds Eins-zu-eins-Umzug sei­nes gelieb­ten Behandlungszimmers – Auskunft gege­ben wird:

«Selbst wenn man nicht mehr an den Dingen hängt, ist es nicht unbe­dingt gleich­gül­tig, ob man dar­an gehan­gen hat, denn immer ist es aus Gründen gewe­sen, die den ande­ren ent­ge­hen … Gut. Gut. Jetzt, wo ich etwas zu müde bin, um mit ande­ren zu leben, schei­nen mir die­se alten, mir so ganz allein zuge­hö­ri­gen Gefühle, die ich durch­lebt habe, wie es nun ein­mal die Manie aller Sammler ist, uner­reich­bar an Wert.»

Charles Swann endet damit, «dass es doch sehr bedau­er­lich sein wird, alles das zu ver­las­sen». In mei­ner Vorlesung zum digi­ta­len Welt- und Wirklichkeitsverlust erläu­te­re ich die Dringlichkeit, dem Verschwinden durch Ideologien Einhalt zu gebie­ten, weil eine Demokratie unab­ding­bar an Realität, an Körper und Dinge gebun­den ist. Der Verlust von Dingen ist nicht ein­fach Pech, son­dern kommt oft dem Verschwinden wert­vol­len Seins gleich.

Marcel Proust, der detail­ver­ses­se­ne Ding-Erzähler, irrt sich des­halb gewal­tig, als er über den eige­nen Körper schreibt: «Einen Körper zu haben, ist die gros­se Bedrohung für den Geist.» Körper und Dinge sind die ein­zi­gen Garanten des Geistes, da anson­sten die Maschinen über­neh­men. Im digi­ta­len Paradigmenwechsel hören Dinge und Menschen auf zu exi­stie­ren und die Codes, die in Algorithmen gefass­te Ideologien, über­neh­men.

Deshalb hier mein dring­li­ches Plädoyer zur Sorge von Dingen.

Der Untergang von exakt der Welt, die Marcel Proust so prä­zi­se beschreibt, erzählt uns davon, was geschieht, wenn Körper und Wesen zugun­sten von Ideologien ver­nich­tet wer­den. Hören die Wesen, die Körper, die Dinge, die Palais, die öffent­li­chen Plätze auf zu exi­stie­ren, ver­schwin­den auch deren dazu­ge­hö­ri­ge Erinnerungen, Demokratien, Sozialreformen und Epochen. Die Zerstörung von Dingen macht gros­se Zivilisationen stumm; ich erin­ne­re an Plutarch: «Δοκεῖ δέ μοι καὶ Καρχηδόνα μὴ εἶναι.» («Es scheint mir gut, dass auch Karthago nicht sein soll.») Deshalb muss­te ich auch Latein und nicht Punisch ler­nen und weiss: Von Menschenhand und von der Natur geform­te Dinge gilt es zu bewah­ren. In der Gegenwart gegen die Ideologien, die 1,5‑Tonnen-SUVs tat­säch­lich Autos nen­nen, bei­spiels­wei­se.

Der Besitz von Menschen ist nicht, wie die lin­ken Wüstlinge behaup­ten, Privateigentum, das es zu ver­nich­ten gilt, son­dern Zivilisation und damit Weltbezug. Die Taliban, die Roten Garden, die Roten Khmer, Goldman Sachs et al. (die Zerstörung des Klimas als logi­sche Folge des Wirklichkeitsverlustes des Finanzkapitalismus) und neu die Wokies wis­sen davon. Alle Feldzüge zwecks Vernichtung von Erinnerung, Wirklichkeit, exi­stie­ren­den Welten begin­nen rhe­to­risch und enden auf dem Scheiterhaufen, unter der Guillotine, in Bilderstürmen und in der Auslöschung von Menschen, Tieren, Städten und Natur. Ideologien gestal­ten Welten dadurch, dass sie Deutungshoheit dar­über haben, was als Welt, Wirklichkeit, als Mensch, als Ding noch sicht­bar sein darf. Ich erzäh­le dies so dring­lich, weil sich die Totalitarismen damals und heu­te so ver­dammt glei­chen.

Wenn ich schon dabei bin: Wussten Sie, dass der Holocaust in post­ko­lo­nia­ler Rhetorik in den von Ihren und mei­nen Steuergeldern bezahl­ten Universitäten als «White Genocide» ent­sorgt wird? Wer Hautfarbe zur ent­schei­den­den Kategorie erklärt, löscht Juden und Frauen als von Herrschaft Verfolgte aus.  In sol­chen Deutungen wer­den Antisemitismus, Rassismus und euge­ni­scher Wahn der Nationalsozialisten unsicht­bar gemacht: Nicht Frauen und Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, Intellektuelle soll­ten von den Nazis ver­gast wer­den, son­dern es waren ledig­lich Morde inner­halb weis­ser Suprematisten zwecks Klärung der Vorherrschaft inner­halb der weis­sen Rasse. Aus der Sicht post­ko­lo­nia­li­sti­scher Herrendenker der Gegenwart ist dies die neue Wirklichkeit: geglaubt, ver­brei­tet und pro­pa­giert von Millionen von digi­ta­len Bilderstürmern und Geschichtsauslöschern. Schon jetzt wer­den Dissidentinnen die­ser «hor­ri­fic theo­ries», deren Name öffent­lich gemacht wur­de, mit Morddrohungen ein­ge­deckt.

Deshalb hier noch­mals: Lesen Sie Edmund de Waals «Hase mit den Bernsteinaugen». Es geht dar­in nicht um Weisse, son­dern um die Vernichtung aller Zivilisation, aller Epochen, aller Menschen. Die Vernichtung des euro­päi­schen Judentums hin­ter­lässt bis heu­te klaf­fen­de Wunden, Leerstellen: Humor, Leichtigkeit, Experimentierfreudigkeit, weib­li­che Intellektualität, ja die Kultur ins­ge­samt ist gera­de in Deutschland (wo die Theorie des «White Genocide» beson­ders gut ankommt) «gone», nach Tel Aviv, nach New York, nach London aus­ge­wan­dert. Als Kennerin der Epoche der 1920er-Jahre füh­le ich oft kör­per­lich, wie sehr deutsch­spra­chi­ge Milieus bis heu­te unter der jüdi­schen Vernichtung lei­den.

De Waals Roman schafft das poe­ti­sche Stück, gleich­zei­tig Erzählung und Sachbuch zu sein. Der «Hase mit den Bernsteinaugen» ent­blät­tert Geschichte und ermög­licht Mitgefühl-Räume. Nicht nur ist das Palais Ephrussi an der Wiener Ringstrasse ver­schwun­den, son­dern eben alles, was mit dem jüdi­schen Wohlstand in Europa finan­ziert, eman­zi­piert, geför­dert wur­de und was das Leben Europas um die Jahrhundertwende trans­for­mier­te. Die Ephrussis stam­men aus Odessa, haben es zunächst im Getreidehandel, dann im Finanzwesen zu gros­sem Reichtum gebracht.  Anhand der put­zi­gen Figürchen erzählt Edmund de Waal Assimilation, Belle Époque und Weltgeschichte: Wien spielt dabei eine wich­ti­ge Rolle, Wien ist mitt­ler­wei­le auch die Stadt, in der sich Edmund de Waal «von einer Schale Kaffee zur näch­sten» bewegt. Dies dau­er­te eine Weile – ver­ständ­lich, denn Wien hat sei­ner Familie viel gege­ben, aber alles genom­men: «Ich wuss­te am Ende nicht mehr, ob ich über Kunstobjekte schrieb, über das Schicksal mei­ner Familie, über euro­päi­sche Geschichte oder über mich sel­ber.» «Der Hase mit den Bernsteinaugen» wird manch­mal als «tra­gi­sche Familiengeschichte» ver­kauft, als ob die beab­sich­tig­te Vernichtung des euro­päi­schen Judentums «Schicksal» und nicht Politik gewe­sen wäre. 1938 plün­der­ten die natio­nal­so­zia­li­sti­schen Nachbarn das Wiener Palais, und Edmund de Waals Grossvater starb 1945 staa­ten­los in London. «Es gibt Orte, an die man nicht mit ande­ren gehen möch­te» – und doch muss, möch­te ich ergän­zen. Die Passagen zur Wiener Nachkriegszeit im Roman gehö­ren zum Bittersten, was ich je gele­sen habe. Diese selbst­ge­fäl­li­ge Bräsigkeit unkul­ti­vier­ter, wie­ne­risch par­lie­ren­der Stadtproleten mit geschis­se­nem Kulturdünkel. Gerade die­sen Kreisen war nichts pein­lich: kei­ne Plünderung, kei­ne Bereicherung, kein noch so hoch­nä­si­ges «alles ganz offen, offi­zi­ell und legal». In Paris hat ein Palais der Ephrussis über­lebt – es wur­de 1936 in ein Museum umge­wan­delt. Die Familie de Waal grün­de­te im Exil eine Bibliothek mit über 2500 Büchern, alle von Menschen auf der Flucht. Wie gesagt: Die Vernichtung des euro­päi­schen Judentums war die Vernichtung der Zivilisation.

Ganz anders unser Eingangskünstler, der Franco-Fan Dalí, der der Welt nihi­li­stisch-sur­rea­li­sti­sche Massenkunst hin­ter­las­sen hat und als ult­ra­rei­cher, kin­der­lo­ser Mann starb. Kunst ist eben nie gleich Kunst, und ich wün­sche mir, dass wir es end­lich wie­der öfter wagen, dies zu unter­schei­den.

Edmund de Waal. Der Hase mit den Bernsteinaugen. Eine Stadt. Ein Buch 2021.

Quelle zu «White Genocide» sie­he Dirk Moses https://www.dirkmoses.com/uploads/7/3/8/2/7382125/moses___white_genocide_and_the_ethics_of_public_analysis_2.pdf

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