Das Tanztheater – Die Moderne im Abseits

Von

|

Drucken Drucken

Von Kristina Soldati - Die Theater vor dem Dritten Reich war­ben um den Mann aus der avant­gar­di­sti­schen frei­en Szene: Kurt Jooss. Nach dem Dritten Reich, aus dem Exil heim­keh­rend, darf er wie­der anknüp­fen – an sei­ner pri­va­ten Schule. Mit ver­klemm­tem Lächeln emp­fängt man auch die Heimkehrer Bertolt Brecht, Erwin Piscator und Fritz Kortner. Man begeg­net den als Linke dif­fa­mier­ten miss­trau­isch und kei­ner von ihnen bekommt bis in die 60er eine bedeu­ten­de Stelle an bun­des­deut­schen Theatern. Kurt Jooss nutzt sei­ne Schule zum Aufbau des Folkwang-Tanztheaters, so dass er 1951 sein mitt­ler­wei­le welt­be­kann­tes Stück «Der grü­ne Tisch» erst­mals auch in Deutschland her­um­zei­gen kann. Wir erin­nern uns, in die­sem Tanzdrama bricht an einem lan­gen Tisch mit viel Frack die Kriegseuphorie aus, die einen lan­gen Todesreigen nach sich zieht und letzt­lich in der Anfangsszene mün­det. Drei Monate spä­ter tanzt Marika Rökk auf die­sem Tisch. Was ist pas­siert? «Sensation in San Remo» ist ein Film, der wie vie­le ande­re die Mühen der Nachkriegsjahre ver­ges­sen las­sen soll und die schö­nen Beine der erfolg­rei­chen Operettensängerin Marika Rökk zeigt – aber eben auf dem besag­ten Tisch. Mit näm­li­chem Frack und expres­sio­ni­sti­scher Gestik. Ein Gerichtsentscheid ver­fügt, 52 m sind wegen Plagiats aus dem Film aus­zu­schnei­den.

Doch der respekt­lo­se Umgang mit dem moder­nen Tanz ist damit nicht aus­ge­merzt, die Unterhaltungskultur hat auch in den Institutionen ihren Siegeszug ange­tre­ten. Wen wundert’s? Der deut­sche Bürger emsig und arbeit­sam es gilt, ein Land wie Phoenix aus der Asche stei­gen zu las­sen! – sucht die Bestätigung. Bis Ende der 50er schafft es Deutschland, sich zur zweit­gröss­ten Wirtschaftsnation der Welt nach den USA empor­zu­schuf­ten. Und die Tanzkunst lei­stet dazu ihren affir­ma­ti­ven Beitrag. Die Exzentrik und Individualität der Ausdruckstänzer wür­de die täti­ge Aufbruchstimmung einer sich neu for­mie­ren­den Gesellschaft nur stö­ren. In die­ser will jeder nur unauf­fäl­lig blei­ben, in jeder Beziehung, auch in der des Geschmacks.

 Ruf nach klas­si­schem Ballett Ein (noch heu­te) renom­mier­ter deut­scher Tanzkritiker kün­det 1957 vom «Ruf nach dem von allen Überlagerungen des Modernen Tanzes gerei­nig­ten klas­si­schen Ballett». Denn seit Balanchines Europatournee im Jahre 1952 weiss man in Deutschland plötz­lich, was man ver­pass­te hat. Das tech­nisch auf Hochglanz gebrach­te New York City Ballet prä­sen­tiert Abstraktes, ein Novum made by Balanchine. Es trifft auf Begeisterung. Sind die viel­fa­chen Formspiele schon Modernität genug, um damit den Bedürfnissen nach Fortschrittlichkeit zu genü­gen? Oder ist es viel­mehr der Kraft und Schönheit aus­strah­len­de Stil gepaart mit tech­ni­scher Hochleistung, der eine lei­stungs­sen­si­ble Nation beein­druckt? Eine wah­re Nachahmungswut packt Deutschland. Wie treff­lich, kön­nen nun die Städte auch auf künst­le­ri­schem Gebiet mit­ein­an­der wett­ei­fern. Der kom­pe­ti­ti­ve Ansporn befä­higt zu Höhenflügen, wer weiss das bes­ser als die Begründer der Wohlstandsgesellschaft. Die Grösse der Companie steht im Verhältnis zu Grösse und Frische des Ballettabends (über erhol­te Spieler auf der Ersatzbank) und der Anzahl der Pirouetten. Das erziel­te Renommee poten­ziert wie­der­um den Erfolg wie ein Zinseszins: es wirkt wie ein Magnet auf die besten Tänzer welt­weit. Und im Abglanz des Ruhmes aalen sich die (grös­se­ren) Städte. Der durch Disziplin und stren­ge Ordnung erwor­be­ne Anschein der Unbeschwertheit in der neo­klas­si­schen Dynamik ist zudem eine Ästhetik, die den Tugenden im Wiederaufbau einer zer­stör­ten Welt ent­spricht.

Das Fieber des Balletts ergreift aber nicht nur Deutschland. Zürich, Basel und Genf suchen eben­falls Anschluss. Nachdem Zürich 1950 «Schwanensee», «Dornröschen» und «Les Sylphides» aus London prä­sen­tiert bekam, kann die Stadt schon sechs Jahre spä­ter ihre eige­ne «Schwanensee»Version auf­füh­ren. Basel gar schon nach fünf Jahren. In Genf wird 1960 Balanchine künst­le­ri­scher Berater und die abstrak­te Ära kann dort begin­nen. Die klei­ne­ren Häuser dage­gen ver­leug­nen (vor­erst) nicht die flä­chen­deckend wirk­sa­men Einflüsse des moder­nen Tanzes der 20er. Oder sie kön­nen sich eine Leugnung nicht lei­sten. St. Gallen hält bis 1957 an sei­ner Ensembleleitung aus der Palucca/Jooss-Tradition fest, Bern bis 1956 an der Palucca-Geschulten und Wigman-Erprobten Hilde Bauman, der Lebensgefährtin Harald Kreutzbergs, des Stars des Ausdruckstanzes.

Theatertanz ver­sus Tanztheater Ballett und frei­er, mitt­ler­wei­le <moder­ner> Tanz kämpf­ten schon immer um ihren Einflussbereich. Kurt Jooss bemüh­te sich bereits Ende der 20er auf einem Tänzerkongress, den oft stra­te­gi­schen Kampf in eine inhalt­li­che und künst­le­ri­sche Debatte zu wan­deln. Er unter­nahm eine Begriffsklärung und ende­te mit einem kon­struk­ti­ven Vorschlag. Für ihn gab es damals am Theater zwei Extreme: Der ‚abso­lu­te Tanz’, der auf rein tän­ze­ri­sche Kompositionsgesetze gestellt war, wobei eine Handlung, falls vor­han­den, wie bei Oratorien etwa nur Beiwerk blieb. Das zwei­te Extrem war Tanz als Behelf für die ande­ren Bühnenkünste. Hier hat­te der Tanz dem gespro­che­nen oder gesun­ge­nen Drama sinn­ge­mäss zu die­nen. Eine Angemessenheit in der Form wur­de vom lei­ten­den Regisseur nicht bean­sprucht, die Form blieb so oft belie­big. Diese Tanzeinlagen über­wieg­ten am Theater, so nann­te Jooss sie Theatertanz. Ihm aber schweb­te die Synthese vor: das Tanzdrama (auch Tanztheater genannt). Es soll­te Form und Handlung in Wechselbeziehung erwach­sen las­sen, sich gegen­sei­tig bedin­gen. Die inte­gra­ti­ve Figur Kurt Jooss woll­te also den Kampf zwi­schen Klassik und Moderne ver­la­gern und for­der­te: «Schaffet auf dem Boden des Alten im Geiste und mit den Mitteln des Neuen den eini­gen Stil des Deutschen Tanztheaters!» Diesem Prinzip blieb er treu. Auch jetzt nach dem Krieg. Folgerichtig führt er nach der erneu­ten Übernahme der Leitung des Folkwang das täg­li­che Balletttraining in die moder­ne Tanzausbildung ein. ‚Der Boden des Alten’ ist somit berei­tet. Das Prinzip nimmt kon­kre­te Gestalt an in sei­ner Choreographie und der Choreographielehre in den von ihm erwirk­ten Meisterklassen. Seine Tanzdramen fol­gen nicht vor­ge­fer­tig­ten Handlungen wie einem Libretto, son­dern ent­wickeln sich zeit­gleich mit der cho­reo­gra­phi­schen Idee (ver­glei­che den Reigen in «Der grü­ne Tisch»). Die Form und der Stil der Schritte hat sich nach dem Charakter der betei­lig­ten Rollen zu rich­ten. Er stu­diert sei­ne Figuren: Welche Haltung, Geste ist spe­zi­fisch für ihr Milieu, ihren Beruf, ihre Stellung? Welcher Rhythmus ent­spricht die­sem Charakter? Jooss’ Fragen sieht man die Verwertung der Laban-Lehre, Studien zur Entsprechung von Dynamiken und Charakter, an. Jooss ent­wickel­te sie wei­ter und lehr­te die Entsprechung von Rhythmen und Charakter bzw. Ausdruck.

Pina Bauschs Tanztheater Pina Bausch, die Meisterschülerin von Kurt Jooss, gelang die mei­ster­haf­te Verwirklichung sei­nes Gedankens. Für Jooss‘ Geschmack mit der Zeit gar zu gut. Denn Pina liess nicht nur das Handlungsgeschehen zeit­gleich und in Wechselbeziehung mit dem Tanz ent­ste­hen, son­dern die­sen (ledig­lich) gleich­be­rech­tigt neben jenem bestehen. Wie kam es dazu?

Die ersten Choreographien Pinas waren noch ein­heit­lich im Stil und nach einem cho­reo­gra­phi­schen Konzept ver­fasst. Ihre getanz­te Oper «Orpheus und Eurydike», wel­che viel­leicht die Leser jüngst auf Arte ver­folgt haben, fügt sich nicht skla­visch einem Handlungsstrang. Aus der Musik und dem Mythos ent­wickelt Pina vier Themen, die ‚irgend­wie’ fol­ge­rich­tig sich an das Libretto, die Akte, und ‚gefühls­mäs­sig zwin­gend’ an den Ausdruck der Musik knüp­fen. Der for­ma­le Aspekt des Tanzes und der Stil der Tanzschritte ent­wach­sen die­sen Themen, die wie folgt lau­ten: Trauer, Gewalt, Friede und Tod.

Die Trauer biegt sich mit gewun­de­nem Torso bis zum Anschlag, Gewalt hastet mit graham’scher Wut durch den Hades, wäh­rend leich­te limon’sche Armschwünge im Elysium den Frieden dahin­tra­gen. Die Verschmelzung des Graham‑, Limon- und unpa­the­ti­schen Ausdruckstanz-Stils hat einen Stern gebo­ren, wäre er ein­sam ver­blie­ben, man hät­te ihn als leuch­ten­den Höhepunkt an die Firnis der Tanzgeschichte gehef­tet. So aber ver­blasst er hin­ter dem Ruhm, der ihm noch folgt. Indes, aktu­el­le­re Einflüsse (aus ande­ren Sparten) gewin­nen die Oberhand und in der neu ent­stan­de­nen Gattung Tanztheater schrumpft die Bedeutung des Tanzes zugun­sten des Theaters.

Brechts Episches Theater Das affir­ma­ti­ve Sprechtheater der Aufbaujahre mit sei­nem etwas kör­per­lo­sen dafür sehr lite­ra­tur- und sprach­ver­haf­te­ten Darstellungsstil wird von einem brecht’schen Sprechtheater in den 60ern (zumal an den risi­ko­freu­di­ge­ren Häusern) abge­löst. Fand der bra­ve Bürger bis­lang im Theater sei­ne Würde und Identität bestä­tigt, so will das Regietheater auf­rüt­teln. Hat sein Publikum bis­lang erfolg­reich ver­ges­sen und ver­drängt, so will das Dokumentar-Theater auf­ar­bei­ten. Wie mäch­tig die­ser Wille in der jun­gen Generation ent­flamm­bar war, sieht man in der Studentenbewegung. Die Entschlossenheit zu poli­ti­schem und mora­li­schem Engagement die­ser Zeit ist ver­ant­wort­lich dafür, dass der Eindruck eines ver­spiel­ten Happenings à la Merce Cunningham auf die jun­gen Choreographen nicht nach­hal­tig war. Hans Kresnik, ein zum Tanztheater zähl­ba­res ‚enfant ter­ri­ble’ reagiert 1968 mit einem pro­vo­ka­ti­ven Tanzstück auf die poli­zei­li­che Gewalt gegen die Studentenbewegung und die Bonner Notstandsgesetze.

In Wuppertal holt ein fort­schritt­li­cher Intendant 1973 Pina Bausch aus dem geschütz­ten Raum der Folkwang-Schule und des expe­ri­men­tie­ren­dem Folkwang-Tanzstudios an die Öffentlichkeit und ver­pflich­tet sie am Theater. Behutsam erta­stet sie sich ihre cho­reo­gra­phi­sche Handschrift. In der drit­ten Spielzeit am Wuppertaler Stadttheater macht Pina einen Brecht-Weill-Abend. Seitdem kann man von ihrer Abkehr vom ‚klas­si­schen’, da mitt­ler­wei­le eta­blier­ten, Modern-Dance-Stil spre­chen.

Pina Bausch über­nimmt die Prinzipien von Brecht: Das Publikum soll zu einem kri­ti­schen Betrachter gemacht wer­den, indem ihm ver­wehrt wird, der Illusion der Darstellung zu erlie­gen. Das (all­zu) Vertraute soll ihm in einem neu­en Licht, eben ver­frem­det dar­ge­bo­ten wer­den. Diesem Ziel die­nen die soge­nann­ten Verfremdungseffekte. Dazu zählt alles, was die Erzählung und Darstellung bricht, kom­men­tiert und auf das Spielen selbst hin­deu­tet. Beispielsweise wen­den die Tänzer sich direkt an das Publikum und kon­fron­tie­ren es mit sei­ner Erwartungshaltung: «Eine schö­ne vir­tuo­se Tanzdiagonale soll ich dir vor­füh­ren? Da hast du sie!» Eine Brechung der Darstellung wird erreicht, wenn etwa ein Handlungsablauf wie beses­sen wie­der­holt wird oder mit dem Knopfdruck eines Tonbandgeräts ein­setzt und anhält. Mit der Gewährung einer kri­ti­schen Betrachtung soll das Publikum Einblick in die Bedingtheit von Abläufen erhal­ten. Verklemmte Alltagsgewohnheiten wer­den als gesell­schaft­lich beding­te ent­larvt, wenn sie sich aus ihrem funk­tio­na­len Rahmen lösen und sich ver­selb­stän­di­gen. Männer in dunk­lem Anzug über ein wei­tes Parkett ver­streut ver­beu­gen sich bei einem fei­er­li­chen Anlass kurz und ruck­ar­tig. Wiederholt, um sich her­um, in alle Richtungen, minu­ten­lang. Es ist wie ein stocken­der Tanz (im Stück Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartoks Oper «Herzog Blaubarts Burg», 1977). Brechts ursprüng­li­ches Ziel, die Bedingtheit der jewei­li­gen Handlung einer Figur zu beleuch­ten, war, sie als ver­än­der­ba­re auf­zu­zei­gen. Das ist eine zutiefst auf­klä­re­ri­sche Idee. Ob ihm Pina Bausch so weit folgt, ist frag­lich. Im Stück «Café Müller» (1978) fällt sich ein Paar traum­wand­le­risch in die Arme. Ein aus­sen­ste­hen­der Fremder rich­tet ihre Umarmung: Mund auf Mund, dann Frau in die Arme des Mannes. Der Pose nicht gewach­sen ent­glei­tet ihm die Frau aus den Armen. Kaum am Boden ange­langt zieht eine Kraft sie hoch, und mit traum­wand­le­ri­scher Sicherheit fin­den sie sich wie­der in der ursprüng­li­chen Umarmung. Der Aussenstehende greift erneut ein: Mund auf Mund, Frau in Arme. Sie glei­tet zu Boden. Wie ein Magnet haf­tet sie wie­der in der Umarmung, der Fremde kor­ri­giert. Das wie­der­holt sich noch eini­ge Male, immer schnel­ler. Was unwei­ger­lich allem einen aggres­si­ven Anstrich ver­leiht. Beim elf­ten Mal bleibt der Fremde weg – und das Paar kor­ri­giert sich selbst. Feiert Pina Bausch hier­mit die Veränderbarkeit oder weist sie sie als neue Bedingtheit aus? Pina Bausch teilt nicht platt Brechts didak­ti­sche Aufklärungsambitionen. Je viel­fäl­ti­ger die Bedeutungen, die man aus ihren Szenen her­aus­le­sen kann, desto glück­li­cher ist sie.

Improvisieren las­sen Ein berühmt gewor­de­nes Merkmal ihrer cho­reo­gra­phi­schen Vorgehensweise ist das anfäng­li­che Befragen ihrer Tänzer. Z.B.: «Was seht Ihr an Kindern, das Ihr bedau­ert, nicht mehr tun zu kön­nen?» Antworten kön­nen gespro­chen, geschrien, geweint oder vor­ge­macht wer­den.

Wozu dient das Improvisieren? Wenn weder ein Handlungsfaden noch Musik die Choreographie tra­gen, kann Pina anhand ihrer Fragen (und Gegenfragen) Themen für die Choreographie eru­ie­ren und ein­krei­sen. Anhand der Antworten trifft sie auf Gefühle, die man gar nicht rich­tig ein­ord­nen kann. Diese inter­es­sie­ren sie beson­ders. Sie von vie­len Seiten aus­zu­leuch­ten wird in sol­chen Gesprächen mög­lich. «Die Schritte sind immer woan­ders her­ge­kom­men; die kamen nie aus den Beinen. Und das Erarbeiten von Bewegungen – das machen wir immer zwi­schen­durch. Dann machen wir immer wie­der mal klei­ne Tanzphrasen, die wir uns mer­ken. Früher habe ich aus Angst, aus Panik, viel­leicht noch mit einer Bewegung ange­fan­gen und habe mich noch gedrückt vor den Fragen. Heute fan­ge ich mit den Fragen an.» Die Improvisation scheint die authen­tisch­ste Art zu sein, die Tänzer eines Ensembles in das über den Ausdruckstanz ver­erb­te Prinzip ein­zu­bin­den: Jede Bewegung hat eine Motivation. Die Pioniere des frei­en Tanzes Isadora Duncan und Ruth St. Denis leb­ten und tanz­ten es vor.

Derart moti­vier­te Bewegungen her­auf­zu­be­schwö­ren ist schon nicht jeder­manns Gabe. Sie zu Bildern zu arran­gie­ren (denn Tänze sind es immer sel­te­ner), mit­ein­an­der in Bezug zu set­zen und über ein beein­drucken­des Montage- und Collageverfahren zu kon­tra­stie­ren ist Pina Bauschs zusätz­li­che und gänz­lich ori­gi­nel­le cho­reo­gra­phi­sche Arbeit. 

Fazit Es lässt sich fra­gen: was ist mit der Einbindung brecht’scher Darstellungsmethode im Tanz gewon­nen? Der Tanz selbst lernt mit ihrer Hilfe eine Menge über einen sou­ve­rä­nen Umgang mit Handlung und einem Ausleuchten von Themen. Das Sprechtheater lernt wie­der­um vom Tanztheater eine Menge über Rhythmisierung und Verfremdungsmöglichkeiten von Geste, Haltungen und Bewegungen und deren Anbringung im Raum. Das Sprechtheater berei­chert sich also um kom­po­si­to­ri­sche Elemente. Seine Wertschätzung zeigt sich in öffent­li­cher Anerkennung: Das Wuppertaler Tanztheater oder sein jün­ge­res Pendant in Bremen, das Tanztheater Reinhild Hoffmans, wird bei den Berliner Theatertreffen wie­der­holt zu den zehn besten Regieabenden der BRD gezählt. Seine Wertschätzung zeigt sich auch in sei­nen Werken: z.B. Die Arbeit eines Christoph Marthalers ist unter dem Einfluss des Tanztheaters zu sehen, wohl auch die Arbeiten im Musiktheater von Heiner Goebbels oder gar Robert Wilsons.

Was aber ist for­mal und sti­li­stisch für den Tanz gewon­nen? Die Überwindung der Berührungsängste zu Alltagsbewegungen lei­ste­ten schon die Ausdruckstänzer. Sie lie­fer­ten eine Ausbeute, die anschlies­send in der Ballett-Ära Jahrzehnte brach lag. Erst vom Tanztheater wird wie­der Alltagsbewegung ver­wert­bar, sezier­bar, neu­kom­bi­nier­bar. Aber und das muss gesagt wer­den die Verwertung gilt nicht dem Tanz. Nicht der Bereicherung des Bewegungsrepertoires und auch nicht der Mehrung cho­reo­gra­phi­scher Operationen am gewon­nen Material. «Wieso redet man allein vom Tanz? Ich ver­ste­he nicht, war­um die Welt über­haupt nicht dazu­ge­hört. Es gesche­hen unend­lich vie­le Dinge im Leben, und es ist inter­es­sant, wie­so das alles geschieht. So ist auch beim Tanz das wirk­lich Wichtige der Grund, wes­we­gen man tanzt» meint dazu Pina. Aber wir fra­gen sie nicht. Und im letz­ten Winkel sei­nes Herzens haben wir in Dominique Mercy, Gründungsmitglied des Tanztheaters, einen Verbündeten: «Ja klar wür­de man sich manch­mal gern mehr bewe­gen, um ehr­lich zu sein, – ich bin ja ein Tänzer. Der Tanz ver­flüch­tigt sich, um rei­cher den grösst­mög­li­chen Ausdruck zu erwir­ken.» Die immense Entwicklung – und ihr wei­te­res Potential – in den raren Tanzsequenzen Pina Bauschs her­aus­zu­le­sen ist wohl die Aufgabe der kom­men­den Choreographen-Generation. Und wehe dem bil­li­gen Plagiator, der sich nur um die Effekte müht.

Spannbreite des Tanztheaters Neben Pina Bausch gab es zwei Tänzer des Tanztheaters, die sich aus der Mary Wigman-Linie des Ausdruckstanzes ent­wickel­ten: Susanne Linke und Gerhard Bohner. Linke kam aus Wigmans letz­ter Diplom-Klasse und erin­nert sich: «Da hat man immer aus dem Stehen am Boden das Gewicht nach vor­ne, das Weltall, die Erde und das Göttliche und so gefühlt. Mit dem mage­ren Körper, mit dem, was man da hat­te, soll­te man das dar­stel­len, das Innere nach aus­sen keh­ren.» Der ‚gros­se Atem’ und der Blick nach oben sei­en ihr dabei immer schwer gefal­len. Aber dies war wohl, meint sie, für die Nachkriegsgeneration typisch. Dennoch, trotz ein­ge­hen­der Auswärtskorrektur (das ‚ende­hors’ wur­de in ihrer anschlies­sen­den Folkwang-Ausbildung wich­tig), wenn sie spä­ter ihre Solotänze ver­fasst «da kommt auf ein­mal … die Mary raus». Sie arbei­te alles aus dem Zentrum her­aus, erklärt sie. Wenn sie im Stück «Im Bade wan­nen» (1980) auf dem Rand sit­zend die Badewanne (!) wie im Walzer ein­mal um sich, genau­er um zwei ihrer alt­mo­di­schen ‚Füsse’ her­um­schwingt, ist es gera­de­zu geni­al und das mit dem Anschein des Trivialen. Auch Gerhard Bohner erin­nert sich an den Pathos im Wigman-Studio und des­sen all­ge­mei­ne Ablehnung. Die künst­le­ri­sche Ernsthaftigkeit dage­gen, die an den Tanz her­an­ge­tra­gen wur­de, beein­druck­te ihn. Hier war es, wo er sich zum Tänzer beru­fen fühl­te, und nicht in der zeit­gleich («für die Beine») besuch­ten Ballettschule. «Ich habe es damals so wie eine Talsohle emp­fun­den. Der Ausdruckstanz war nicht end­gül­tig vor­bei, son­dern eben an einem Tiefpunkt ange­langt… Und er hat­te ja was sehr Verrufenes in jener Zeit». Es wur­den Tänzer im Studio hoch­ge­zo­gen, obwohl fer­ti­ge Grössen wie «Dore Hoyer (Ex-Tänzerin der Wigman-Gruppe) oder Harald Kreutzberg es schwer hat­ten zu exi­stie­ren», erin­nert Bohner sich. Dore Hoyer setz­te auch bald ihrem Leben ein Ende. Bohners jah­re­lan­ges Engagement an Balletthäusern (moder­ne Truppen gab es nicht), färbt einst­wei­len sei­ne frü­hen Tanztheater-Choreographien noch. Als er sich der abstrak­te­ren Seitenlinie des Ausdruckstanzes, den Experimenten des Bauhaus-Lehrers Oskar Schlemmer zuwen­det, erkennt er sei­nen Weg, woher er kommt und wohin er gehen mag. Vielfältig sind die (Aus-) Wege des Tanztheaters.

Bild: Pina Bausch in Wuppertal, zVg.
ensuite, März 2008

 

 

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo