Barbarisches Benehmen

Von

|

Drucken Drucken

Von Barbara Roelli – Im Alltag begeg­ne ich immer wie­der Situationen, die mir ein­mal mehr bewusst wer­den las­sen, wie ich sel­ber auf­ge­wach­sen bin, wel­che Benimmregeln ich von Kindsbeinen auf zu ler­nen hat­te. Und nach die­sen mes­se ich anschei­nend auch das Verhalten ande­rer. Besonders was das Essen und Trinken anbe­langt: da ken­ne ich die Regeln dazu, was als anstän­dig und wohl­erzo­gen gilt, seit ich den­ken kann. Sobald ich nicht mehr mit Brei gefüt­tert wur­de und mir das Essen sel­ber in den Mund zu schau­feln begann, als ich den Plastiklöffel gegen Messer und Gabel ein­tau­schen konn­te – ab jenem Zeitpunkt also soll­te ich alles Barbarische von mir able­gen und zu einem zivi­li­sier­ten Menschen wer­den der weiss, wie man sich bei Tische zu beneh­men hat: Man isst nicht mit den Fingern. Man spricht nicht mit vol­lem Mund. Man schlürft und schmatzt nicht. Und wenn einem etwas auf­stösst und man rülp­sen muss (in mei­nem Luzerner Dialekt spre­chen wir vom «Görpsä»), dann hält man sich die Hand vor den Mund und ent­schul­digt sich dis­kret.

Im Verlauf mei­ner Schulzeit jedoch, als bei mei­nen männ­li­chen Klassenkameraden das Testosteron zu wir­ken begann, bekam das Rülpsen für mich eine neue Bedeutung. Meine Kameraden tran­ken hastig Coca Cola oder schluck­ten absicht­lich Luft, damit sie laut­hals rülp­sen und damit ihr Umfeld pro­vo­zie­ren konn­ten. Ihr Rülpsen tön­te für mich wie ein Brunftgesang. Ein Zeichen das sie von sich geben muss­ten um zu signa­li­sie­ren, Männer und paa­rungs­wil­lig zu sein.

Rülpsen ist laut Wikipedia das Aufstossen von Luft aus dem Verdauungstrakt durch den Mund. Ein roher archai­scher Laut, der inhalts­los ist und damit so ganz anders, als all die for­mu­lier­ten Sätze und sorg­fäl­tig über­leg­ten Redewendungen, die wir täg­lich von uns geben. Erst vor kur­zem hat­te ich wäh­rend einer Zugfahrt Zeit, mich mit die­sem Phänomen aus­ein­an­der zu set­zen. Ein älte­rer Herr sass an einen Fensterplatz. Vor ihm auf der Ablage hat­te er ein gros­ses hell­blau­es Dosenbier ste­hen, deut­sche Marke. Der Mann war eher klein, unge­fähr 58 Jahre alt, trug Jeans und ein feu­er­wehr­au­to-rotes Hemd, an wel­chem die ober­sten vier Knöpfe geöff­net waren. Ihm schien warm zu sein, sei­ne Stirne glänz­te leicht, und die seit­li­chen Haare, die er sich über die Stirnglatze gekämmt hat­te, kleb­ten an der Haut. Es sah aus, als wäre dies nicht das erste Bier, das er sich an die­sem Abend geneh­mig­te. Er mur­mel­te vor sich hin, in einer mir unver­ständ­li­chen Sprache. Was ich jedoch sofort ver­stand waren die Laute, die er von sich gab, wenn er gera­de nicht mur­mel­te: dann rülp­ste er. Es war aber kein Rülpsen aus Inbrunst, wie es mei­ne Schulkameraden frü­her zele­brier­ten, und er mach­te auch kein unschul­di­ges «Bäuerchen», wie es Säuglinge tun. Nein, der Mann rülp­ste unüber­hör­bar vor sich hin, als benut­ze er die­se Laute zum Kommunizieren. In regel­mäs­si­gen Intervallen setz­te er jeweils zu zwei bis drei Stössen an. Es muss­te das Bier sein. Im Zug erho­ben sich Köpfe, und Augenpaare such­ten nach dem Verursacher des ver­meint­lich vul­gä­ren Geräusches. Der Passagier, der dem Mann gegen­über sass, stand auf und wech­sel­te mit einem ange­ekel­ten Gesichtsausdruck den Zugwagen. Ich hör­te die Stimme, mei­ne Kinderstube, wie sie zu mir sag­te: «Der Mann hält sich nicht mal die Hand vor den Mund. Und ent­schul­di­gen tut er sich auch nicht. Er ist unhöf­lich und kennt kei­ne Sitten!» — Ich frag­te zurück: «Vielleicht ist er einer der weni­gen Barbaren, die die Zivilisation über­lebt haben?» – Doch die Stimme schwieg.

Foto: Barbara Roelli
ensuite, Juni/Juli 2011

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo