Leonce und Lena

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Von Vesna Mlakar – Das Stuttgarter Ballet begei­stert zum Auftakt sei­nes 50-jäh­ri­gen Jubiläums mit Spucks cho­reo­gra­fier­ter Büchner-Adaption Leonce und Lena: Ein Theaterklassiker als pop­pig-unter­halt­sa­mes Gesamtkunstwerk – ohne Worte, dafür aber als Handlungsballett at it’s best: Bereits 2008 gelang Christian Spuck als Auftragschoreografie für das Aalto Theater Essen mit sei­nem sech­sten Abendfüller «Leonce und Lena» ein Überraschungscoup. Tanz kommt hier als poin­tiert iro­ni­sche Karikatur zu einer orche­ster­voll­mun­di­gen, schmis­si­gen Musikcollage (am Pult des Staatsorchesters Stuttgart: James Tuggle) aus Werken von Johann Strauß (Vater und Sohn), Léo Delibes (Pizzicato aus «Sylvia»), Bernd Alois Zimmermann, Alfred Schnittke, ein­ge­spiel­ten Schlagern und Elektrosoundzugaben von Martin Donner daher.

Georg Büchners (1813–1837) gleich­na­mi­ges, post­hum im Jahr 1838 ver­öf­fent­lich­tes und 1895 in München urauf­ge­führ­tes Lustspiel zählt zwei­fels­oh­ne zu den bizarr­sten, wort­ver­spiel­te­sten und am knif­fe­lig­sten zu insze­nie­ren­den Stücken deut­scher Theaterliteratur. Denn was der jun­ge, sozi­al­re­vo­lu­tio­när enga­gier­te Autor damals – poli­tisch ver­folgt, im Schweizer Exil und ange­spornt durch einen von der Cotta’schen Buchhandlung aus­ge­schrie­be­nen Gewinn über 300 Gulden für die beste Komödie – ersann, ist, bei allem an der Oberfläche blit­zen­den Sprachwitz und Klamauk, tief­me­lan­cho­li­sche, bit­ter-sati­risch auf­ge­la­de­ne Kritik an den gesell­schaft­li­chen Verhältnissen, nament­lich an der deut­schen Kleinstaaterei und einer in lee­ren Ritualen erstarr­ten Borniertheit des Adels.

Für bei­des fand Spuck, der sein Ballett auf einem Fundament aus Schauspielerei und tän­ze­risch über­zo­ge­nen Alltagsplänkeleien form­te, fabel­haf­te Entsprechungen. Sie bestechen, vor allem in der Wirtshausszene, die sei­ne bei­den Akte ver­bin­det, durch gro­tes­ke Einfachheit: Mehr durch Zufall denn aus Neugierde wird die Bevölkerung eines Dorfs Zeuge der Begegnung von Leonce und Lena. Anfangs auf Bierbänken sit­zend, flan­kie­ren sie mit einem Fest im Freien das Geschehen. Als sich der Vorhang nach der Pause hebt, haben sich die Paare breit­bei­nig über die Bühne ver­teilt und Männer wie Frauen, pro­vo­kant die Hand an der Hüfte, glot­zen, meh­re­re Minuten lang, mit bäu­risch bes­ser­wis­se­ri­scher Miene ins Publikum. Um sich dann lang­sam abzu­wen­den und in buck­li­ger Haltung zur Ouvertüre der Fledermaus einen rusti­ka­len Walzer im Stil des Malers Pieter Brueghel des Älteren hin­zu­le­gen. Wie die Stuttgarter Tänzer das über die Rampe brin­gen, ist hin­ter­grün­dig-irri­tie­rend – und ein­fach per­fekt in sei­nem Kontrast zum klas­sisch auf­ge­kratz­ten Hofambiente des Stücks.

Dessen mär­chen­haft anmu­ten­der Inhalt ist schnell erzählt: Im Reiche Popo am Hof des ver­gess­li­chen, kin­disch-hilf­lo­sen Königs Peter (mimisch köst­lich: Damiano Pettenella) regiert die Langeweile. Abwechslung erhofft man sich im par­ty­freu­di­gen Hofstaat (ange­führt von einer Riege roko­ko­haft her­aus­ge­putz­ter, weiß geschmink­ter Hofschranzen mit Perücken) durch die anste­hen­de Hochzeit des ver­träumt-phleg­ma­ti­schen Prinzen Leonce mit Prinzessin Lena – einem eigen­wil­li­gen Trotzkopf – aus dem benach­bar­ten Königreich Pipi. Obwohl sie ein­an­der schon als Kinder ver­spro­chen wur­den, ken­nen die bei­den sich nicht. In Begleitung eines Freundes bzw. der Gouvernante beschließt jeder für sich, aus­zu­rei­ßen. Auf ihrer Flucht tref­fen die Vier zusam­men und sowohl das Prinzenpaar wie auch der pfif­fi­ge, stets gut gelaun­te Valerio (tech­nisch gewitzt: Alexander Zaitsev) und die umtrie­bi­ge Gouvernante (Alicia Amatriain) kom­men sich näher. Ohne zu wis­sen, dass sie damit ihre Vorherbestimmung erfül­len, keh­ren Leonce und Lena nach Popo zurück, um sich vor ver­sam­mel­ter Gesellschaft ver­mäh­len zu las­sen.

Büchners drei­ak­ti­ger Plot folgt kei­ner übli­chen dra­ma­tur­gi­schen Form, ent­behrt jeg­li­cher Intrigenstruktur und nichts irri­tiert das Handeln der Personen. Eine Identifikation der Zuschauer mit den Protagonisten bleibt aus. Auch machen die Figuren im Stückverlauf kei­ner­lei cha­rak­ter­li­che Entwicklung durch, son­dern tref­fen ihre Entscheidungen ad hoc – aus dem Bauch her­aus. Womit dem Ganzen etwas Absurdes anhaf­tet. Und genau hier setzt Christian Spuck – der Vorlage fol­gend und geni­al in der Erfindung situa­ti­ons­be­zo­ge­ner Bewegungsbilder – auch bei der Neueinstudierung sei­ner ersten Ballettkomödie für das Stuttgarter Ballett an.

«Sprache hat hier nichts zu suchen», ließ er anläss­lich der Kreation ver­lau­ten. Bei der umju­bel­ten Premiere (den Damen, allen vor­an Katja Wünsche/Lena, wur­den beim Schlussapplaus hau­fen­wei­se Blumensträußchen zuge­wor­fen!) am 18. November 2010 in Baden-Württembergs Landeshauptstadt tön­ten denn auch nur die Liedtexte von Eartha Kitts «Let’s do it» oder Hank Cochrans «Little bit­ty Tear» aus einem klo­bi­gen Kassettenrekorder, den der Choreograf sei­nem am Ennui der Romantik lei­den­den Prinzen als sym­bo­li­sches Requisit für Privatsphäre inner­halb eines mario­net­ten­ar­tig star­ren Umfelds anver­trau­te.

Großartig in die­ser Partie: William Moore (blon­de Alternativbesetzung: Marijn Rademaker) als ele­gan­ter, von der Welt ange­öde­ter Beau, der sei­nen locki­gen, gänz­lich arbeits­scheu­en Kopf dan­dy­haft mal in die eine, dann in die ande­re Hand stütz­te und dabei – im Gesicht eine fast vor­wurfs­vol­le Schnute zie­hend – geschmei­dig von dem erho­be­nen Mauervorsprung einer Gartenmauer auf den Boden, in die beque­me hori­zon­ta­le Lage eines Faulenzers wech­sel­te.

Leichtes Spiel mit ihm hat nur Valerio (von Spuck cho­reo­gra­fisch an John Crankos Figur des Jokers aus «Jeu de car­tes» ange­lehnt), der mühe­los in Leonces müßi­ges Treiben ein­stimmt und alle Versuche des eil­fer­ti­gen Hofmeisters (Oihane Herrero) zunich­te macht, den jun­gen Mann in die Regierungsgeschäfte ein­zu­wei­sen. Sein Tick: das schnel­le Rückwärtsrennen. Doch in einem Staat, wo das ver­meint­li­che Happy End nur wie­der den Anfang einer ewig glei­chen Geschichte bedeu­tet, behält ein­zig er, Valerio, den Überblick!

Wie eng Spucks cho­reo­gra­fi­scher Sog mit der atmo­sphä­risch dich­ten Ausstattung (weni­ge Schauplätze, typi­sie­ren­de Kostüme) von Emma Ryott ein­her­geht, die dank einer Drehbühne das Spieltempo noch beschleu­nigt, zeigt sich unter ande­rem in Anna Osadcenkos Ausgestaltung der Rosetta, Leonces gefühls­kalt und lieb­los hin- und her­ge­wor­fe­ner Mätresse. Wie bei einer fern­ge­steu­er­ten Puppe scheint ihr gesam­tes Tun von ihrem spit­zen roten Kussmündchen aus­zu­ge­hen. Für Kenner birgt ihr Pas de deux Anklänge zu Crankos «Widerspenstiger Zähmung», aber auch Coppélia oder Olympia aus Jacques Offenbachs Oper «Hoffmanns Erzählungen» stan­den Spuck hier Pate.

Auch Büchners Vorlage strotzt vor Zitaten. Sie zu ent­schlüs­seln ist jedoch eben­so wenig maß­geb­lich wie das Wissen um cho­reo­gra­fi­sche Anklänge in die­ser kurz­wei­li­gen, gut ein­ein­halb­stün­di­gen Tanzadaption, die kaum Wünsche offen lässt. Es sei denn (aber dafür steht die­ses Stück nicht!), man ver­misst atem­be­rau­ben­de­re Sprungvariationen oder die son­sti­gen, vir­tu­os-tech­nisch nahe­zu gren­zen­lo­sen Möglichkeiten der Solisten. Ihre inter­pre­ta­to­ri­sche Brillanz in «Leonce und Lena» lässt sich jeden­falls kaum über­bie­ten.

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2011

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