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Zurück zum Film

Von Thomas Kohler – In einem Siegeszug, der nur mit dem Wechsel vom Vinyl zur CD zu ver­glei­chen ist, hat die digi­ta­le Knipserei in den ver­gan­ge­nen zehn Jahren die ana­lo­ge Fotografie vom Tisch gefegt. Auch im pro­fes­sio­nel­len Einsatz ist die digi­ta­le Fotografie heu­te abso­lut unent­behr­lich. Doch: ist die Analogfotografie gänz­lich ver­schwun­den? Nicht wirk­lich: Ein welt­weit ver­netz­tes Grüppchen von Liebhabern che­misch basier­ter Bilder bleibt dem Film als Trägermaterial treu.

Es sind welt­weit wohl nur noch ein paar Millionen Aufrechte, die das Fähnlein der Bilder auf her­kömm­li­chem Film noch auf­recht hal­ten. Aber sie freu­en sich inzwi­schen wie­der über ste­ten Zulauf. Bemerkbar wird das unter ande­rem an den leicht stei­gen­den Preisen, die die Liebhaber alter Kameras auf Internetmärkten wie Ebay oder Ricardo.ch für ihre Präziosen hin­blät­tern müs­sen. Eine Hasselblad, einst der Traum eines jeden Profifotorafen, gab es vor einem oder zwei Jahren für 300 bis 500 Franken (Body mit Sucher und Magazin, aber ohne Objektiv) zu kau­fen. Hin und wie­der fin­den sich auch jetzt noch ana­lo­ge «Blads» zu solch tie­fen Preisen. Aber gut erhal­te­ne Modelle kosten heu­te min­de­stens das Doppelte. Ähnlich geht es mit wirk­lich alten Kameras ab Nikon. Objektive aus ech­tem Glas und mit Messing- oder Aluminiumgehäuse wer­den kaum noch ange­bo­ten. Und wer gar eine «Film»-Leica erste­hen will, muss mit hor­ren­den Sammlerpreisen rech­nen.

Dabei ist der­zeit nicht ein­mal klar, wie lan­ge es noch Filme geben wird. Der Bankrotteur Kodak ver­spricht zwar, die haus­ei­ge­ne Filmherstellung wer­de en bloc an einen Interessenten ver­kauft, der die Produktion der berühm­ten Filme in der ocker­gel­ben Packung in Zukunft gewähr­lei­ste. Und Klassiker wie der Schwarzweissfilm «Tri‑X» sind tat­säch­lich immer noch zu haben. Auch Ilford stellt wei­ter­hin ein viel­fäl­ti­ges Sortiment an Schwarzweissfilmen her. Einige Hersteller ande­rer Marken zie­hen eben­falls noch mit.

Aber es gibt auch Probleme. «Die gröss­te Schwierigkeit bei der heu­ti­gen Filmherstellung ist die Beschaffung geeig­ne­ter Fotogelatine», sagt Jean-Noel Gex, tech­ni­scher Leiter von Ilford in Fribourg. Der Grund: Fotogelatine her­zu­stel­len erfor­dert sehr viel Erfahrung und gros­ses Wissen im Umgang mit den ent­spre­chen­den Maschinen. Gute Fachleute sind ver­gleich­bar mit erfah­re­nen Braumeistern bei der Herstellung von Bier. Jean-Noel Gex: «Diese Leute sind mitt­ler­wei­le alle pen­sio­niert. Und Nachfolger wur­den kei­ne aus­ge­bil­det.» Ilford kann die Filmherstellung im bis­he­ri­gen Umfang zwar noch gut zehn Jahre auf­recht erhal­ten. Doch falls die Nachfrage nach Filmen bis dahin wei­ter besteht – oder sogar ansteigt –, könn­te es kri­tisch wer­den. Ein ande­res Problem betrifft die Schwarzweissfilme, deren licht­emp­find­li­che Schicht aus Silberhalogeniden besteht. «Es ist nicht mög­lich, die­se Komponente des Films zu erset­zen», sagt Jean-Noël Gex. «Damit sind die Filmpreise von den Kosten des Silbers abhän­gig. Der Silberpreis stieg in der Zeit von 1991 bis 2001 von 4.50 auf 30 Franken pro Unze.»

Der Absatz von Filmen in den ver­gan­ge­nen zehn, fünf­zehn Jahren ist stark gesun­ken. «Die Verkäufe lie­gen der­zeit bei etwa zehn Prozent der ursprüng­li­chen Stückzahlen», hält Jean-Noel Gex fest. «Aber seit etwa zwei Jahren sind sie auf die­sem tie­fen Niveau sta­bil.» Der japa­ni­sche Hersteller Fujifilm, der einst den US-Fotoriesen Polaroid schluck­te, wirft sogar wie­der eine gan­ze Anzahl neu­er Instantfilme auf den Markt.

Neuentwicklungen gibt es auch im Bereich der Labortechnik. Die heu­ti­gen Entwickler zum Beispiel ermög­li­chen die Steigerung der Filmempfindlichkeit in einem Mass, das noch vor 20 Jahren undenk­bar war. Ilford revo­lu­tio­nier­te die Dunkelkammerarbeit 1979 mit den Multigrade-Papieren. Jedes Multigrade-Blatt ist mit drei Emulsionen beschich­tet, die unter­schied­lich sen­si­bi­li­siert sind. Die Folge: Beim Vergrössern ste­hen so dank einer abge­stuf­ten Magentafilterung bis zu elf Gradationen zur Verfügung. Vorher hat­ten Fotolabore und Amateure Papiere in fünf ver­schie­de­nen Gradationen an Lager hal­ten müs­sen, um jeweils das rich­ti­ge Material zur Hand zu haben.

Inzwischen wur­den die Möglichkeiten der Multigrade-Technik wei­ter ent­wickelt. Das Zauberwort heisst Splitgrade: Jede Vergrösserung wird in meh­re­ren sepa­ra­ten Schritten kurz belich­tet. Dabei kann die Gradation per Filterwechsel wäh­rend dem Belichten geän­dert und auf das jewei­li­ge Negativ abge­stuft wer­den. Selbstverständlich kann der Printer, also der Vergrösserungsspezialist, auch wei­ter­hin abwe­deln oder nach­be­lich­ten.

Wer sich die Handarbeit mit den etwas fum­me­li­gen Filtern erspa­ren will, kann sein Vergrösserungsgerät auf moder­ne Elektronik umrü­sten. Der deut­sche Hersteller Heiland in Wetzlar bie­tet neu­er­dings ein System für die Splitgrade-Technik an. In der Schweiz soll das System bei Ars-Imago im Kanton Zug erhält­lich sein. Bei der Zuger Firma sind – neben sämt­li­chen Chemikalien für die Dunkelkammerarbeit – auch prak­tisch alle noch pro­du­zier­ten Filme (Color und Schwarzweiss) erhält­lich. Ars-Imago hat auch alle Instantfilme und sogar Tönungen für Schwarzweiss-Vergrösserungen im Katalog.

Wer auf die Fotografie mit Film umstei­gen will, aber kei­nen Vergrösserer besitzt, kann im Internet für extrem klei­nes Geld exzel­len­te Occasionsgeräte fin­den. Kürzlich erstei­ger­te ein glück­li­cher Freund der ana­lo­gen Fotografie bei ricardo.ch für knapp 160 Franken gar eine voll­stän­di­ge Dunkelkammer-Ausrüstung inklu­si­ve eines Durst-Vergrösserers Laborator 138 – ein manns­ho­hes Profigerät, das neu in den 1980er Jahren meh­re­re tau­send Franken koste­te. Warum die­se Apparate zu Billigstpreisen ver­schleu­dert wer­den, ist klar: Sie neh­men sehr viel Platz in Anspruch. In einer Zeit, in der Lagerhaltung teu­er ist, und in der im pri­va­ten Bereich stän­dig von «ver­dich­te­tem Wohnen» gefa­selt wird, ist Platz Mangelware. Die «Dunkelkammer» der digi­ta­len Fotografie besteht aus einem Computer und einem Drucker. Die brau­chen zwar auch Platz. Aber weil sie in prak­tisch allen Haushalten ohne­hin vor­han­den sind, fällt das nie­man­dem auf.

Da stellt sich schon die Frage, wie es über­haupt zur Renaissance des Films in der Fotografie kom­men konn­te. Schliesslich ist es mit der digi­ta­len Technik um eini­ges ein­fa­cher, auf ein recht ansehn­li­ches Niveau zu kom­men, ohne die gering­ste Ahnung von Dingen wie Blende, Zeit oder Filmempfindlichkeit zu haben. Um all dies küm­mert sich in moder­nen Kameras ja die Automatik. Sogar fokus­sie­ren braucht der digi­ta­le Knipser nicht mehr selbst.

Kunstfotografen haben den Wechsel vom Film zur digi­ta­len Fotografie frei­lich gar nie mit­ge­macht – von eini­gen weni­gen Akteuren ein­mal abge­se­hen. Einer der wich­tig­sten Gründe dafür liegt in der Tatsache, dass bei allen Prozessen mit Film immer viel von Hand gesteu­ert wird. Der Künstler selbst beein­flusst das Ergebnis, das fer­ti­ge Bild, prak­tisch Schritt für Schritt. Ausserdem liegt ein Negativ vor. Das stu­fen vie­le moder­ne Kunstkritiker heu­te als Unikat ein. Abzüge davon spie­geln sehr oft den Stand der Aufnahme- und Dunkelkammer-Technik einer bestimm­ten Epoche wie­der. Ein vom ame­ri­ka­ni­schen Landschaftsfotografen Ansel Adams (1902–1984) in den 1950er Jahren selbst ver­grös­ser­tes Foto wur­de mit Hilfe ande­rer Entwickler und Papiere geschaf­fen, als ein nach Adams Tod ent­stan­de­ner Abzug. Wer glaubt, das sei­en Nuancen, die letzt­lich kaum einen Unterschied aus­ma­chen, der soll­te eine aus der Zeit der Aufnahme stam­men­de Vergrösserung mit einer moder­nen ver­glei­chen. Er wird fest­stel­len, dass die Grauwerte unter­schied­lich sind, der Kontrast ein ande­rer ist, ja, dass sogar die Tönung des gan­zen Bildes jeweils eine ande­re ist. Auch hap­tisch sind die Bilder nicht iden­tisch. Das alte Bild auf Barytpapier wirkt in der Hand wei­cher und wär­mer als das Bild auf moder­nem, küh­lem PE Papier. Kein Wunder: PE Papiere sind genau genom­men nicht aus Papier, son­dern haben eine Kunststoff-Folie als Trägermaterial der licht­emp­find­li­chen Silber-Gelatineschicht. Ein ver­sier­ter Fotosammler kennt die­se Unterschiede und legt Wert auf das «Original».

Doch der Film kann noch mehr. Fotos, die auf Film auf­ge­nom­men wur­den, wei­sen ein «Korn» auf – eine fei­ne Struktur, die bei star­ker Vergrösserung sicht­bar wird. Wer je den 1966 gedreh­ten Spielfilm «Blow up» von Michelangelo Antonioni gese­hen hat, kennt die­se Struktur des Films gut. «Blow up» erzählt die Geschichte eines Londoner Fotografen, der zufäl­lig einen Mord foto­gra­fiert – und spä­ter kla­re Hinweise auf das Verbrechen auf sei­nen stark ver­grös­ser­ten, ergo etwas ver­schwom­me­nen Schwarzweissbildern ent­deckt. Das Korn wur­de in der Blütezeit der Fotografie auf Filme oft als stö­rend emp­fun­den, weil es die Schärfe beein­träch­tig­te. Heute gilt es gera­de­zu als Gütezeichen, das ein Bild als klas­si­sche Fotografie aus­weist. «Ich weiss, dass ich mei­nem Stil ähn­li­che Bilder ganz leicht am Computer her­stel­len könn­te», sag­te der bri­ti­sche Landschaftsfotograf Michael Kenna Reportern des japa­ni­schen Fernsehens, die sei­ne Arbeit in einem Film doku­men­tier­ten. «Aber mei­ne Reisen auf die win­ter­li­che japa­ni­sche Insel Hokkaido sind für mich wie eine Therapie.»

Digitale Bilder haben kein Korn. Ihre Grau- oder Farbtöne sind ohne jede Struktur. Das ver­leiht ihnen den Eindruck opti­scher Schärfe, lässt sie aber auch kalt und leb­los erschei­nen. Der Effekt erin­nert ein wenig an das Gefühl, das die Hörer der ersten CD’s erschreck­te, wenn sie die unna­tür­lich «tote» Stille zwi­schen den auf­ge­nom­me­nen Musikstücken ver­nah­men. Natürlich gibt es in neue­ren Versionen von digi­ta­len Bildverarbeitungsprogrammen auch künst­lich zuschalt­ba­re Imitationen von Korn. Aber den natür­li­chen Eindruck kön­nen sie nicht ver­mit­teln. Sie ent­spre­chen dem Original wie ein ewig halt­ba­rer Orangensaft aus dem Supermarkt: Der sieht aus wie frisch gepresst. Aber er schmeckt nicht so.

«Wer ein Negativ oder ein Dia auf Film auf­nimmt, erschafft ein klei­nes Abbild der Natur», sagt dazu Allan Porter, US-Fotokritiker und lang­jäh­ri­ger Chefredaktor des renom­mier­ten, inzwi­schen ein­ge­stell­ten Fotomagazins «came­ra». «Anders in der digi­ta­len Fotografie: Die erschafft kein Abbild, son­dern zeich­net Daten auf.» Porter weist damit nur auf einen grund­le­gen­den Unterschied der bei­den Techniken hin. Werten will er sie nicht. «Ich lie­be die Fotografie auf Film, habe aber auch nichts gegen die digi­ta­le Technik.»

Als Gegner der digi­ta­len Fotografie sieht sich auch ein ande­rer Amerikaner nicht. Ralph Gibson ist der­zeit wohl einer der berühm­te­sten Kunstfotografen. Seine Fotos fin­den sich in jeder Fotosammlung von Format und hän­gen in vie­len bedeu­ten­den Kunstmuseen. Bei einem Vortrag über­rasch­te er sei­ne Zuhörer mit der Bemerkung: «Im Laufe der ver­gan­ge­nen fünf Jahre wur­den weit­aus mehr digi­ta­le Bilder auf­ge­nom­men, als her­kömm­li­che Fotos seit Erfindung der klas­si­schen Fotografie um 1800. Aber wir erin­nern uns an kein ein­zi­ges die­ser digi­ta­len Bilder als bedeu­ten­des Werk …»

Wie Michael Kenna bleibt auch Ralph Gibson der Fotografie auf Film treu. Und wie Kenna, der mit einer Hasselblad foto­gra­fiert, bevor­zugt er ein Arbeitsgerät, das in der Mitte des ver­gan­ge­nen Jahrhunderts ent­wickelt wur­de: Gibson schiesst sei­ne Bilder mit einer Leica. Immerhin nahm Gibson im Laufe sei­ner lan­gen Karriere eini­ge weni­ge Bilder in Farbe auf. Kenna hin­ge­gen ver­zich­tet gänz­lich dar­auf. «Ich brau­che kei­ne Farbe», sag­te der Brite kürz­lich in einem Porträt des korea­ni­schen Fernsehens. «Ich erle­be die Welt ja stän­dig in Farbe. Ich will auch kei­ne hohe Auflösung und muss nicht schnell sein. Ich mag es nicht, wenn ich gehetzt wer­de. Meine Aufnahmen sol­len eine per­sön­li­che Interpretation der Welt sein. Ich will, dass sie ein biss­chen mystisch erschei­nen.»

Die Jagd vie­ler Digitalfotografen nach grösst­mög­li­cher Schärfe in ihren Bildern kann der bekann­te Schweizer Kunstfotograf Jean-Marc Erard auch nicht ver­ste­hen. «Diese Sucht ist eine Falle für Idioten», kom­men­tiert der in St. Imier JU und im Wallis leben­de Künstler den Trend. «Ich will den Leuten die Welt so zei­gen, wie ich sie sehe. Makellos glat­te Oberflächen benö­ti­ge ich dazu nicht.»

Dass älte­re Fotografen – Kenna wird die­ses Jahr auch schon 60 – Freude an Aufnahmen auf Film haben und bei die­ser Technik ver­har­ren, leuch­tet ein. Erstaunlicher ist schon eher, dass auch sehr jun­ge Fotografen die Filme schät­zen – selbst wenn sie in ihrer Jugend stets mit digi­ta­ler Fotografie kon­fron­tiert waren. Am Umstand, dass Filme und Vergrösserungen auf Barytpapier bedeu­tend län­ger halt­bar als es digi­ta­le Bilder sind, kann das nicht lie­gen: Jugend pro­du­ziert sel­ten für die Ewigkeit. Auf Haltbarkeit legen bloss die Museen und Sammler gros- sen Wert. Junge Fotografinnen und Fotografen stür­zen sich aber seit Jahren mit eini­ger Begeisterung auf alles, was sich unter dem Begriff «Lomografie» zusam­men­fas­sen lässt. Gemeint ist damit das Fotografieren auf Film mit Billigst-Kameras aus rus­si­scher oder chi­ne­si­scher Fertigung. Die tech­ni­schen Unzulänglichkeiten die­ser Geräte erge­ben Fotos, deren Reiz gera­de im Mangel an Schärfe und motiv­treu­er Wiedergabe lie­gen.

Einen Weg in die ent­ge­gen­ge­setz­te Richtung beschrei­tet der bekann­te Schweizer Kunstfotograf Gilbert Mayer. Der in Riehen bei Basel leben­de Filmer und Künstler beschloss vor Jahren, die 40 bis 120 Jahre alten Fotoapparate sei­nes Vaters und Grossvaters wie­der­zu­be­le­ben und damit zu foto­gra­fie­ren. «Die Bilder die­ser Kameras bau­en für mich eine Beziehung zu den Motiven und Erinnerungen auf, die ich nicht mehr mis­sen möch­te», sagt Mayer. «Sie ermög­li­chen mir die visu­el­le Interpretation mei­nes sehr indi­vi­du­el­len Weltbildes. Diese Interpretation bis zum Barytprint zu trans­por­tie­ren, gibt mir ein unbe­schreib­li­ches Glücksgefühl. Und Glück macht süch­tig.»

Bild: Alt aber noch nicht aus­ran­giert: Teure Kameras für die Fotografie mit Film fin­den immer noch Abnehmer / Foto: zVg.

ensuite, Februar 2013