Zur Poesie der Hässlichkeit: Eine Reise in die Tiefen der Menschlichkeit

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Von Dr. Regula Stämpfli – Jede Gesellschaft gibt sich ech­te Bilder, die Menschen und deren Körper falsch machen. Der Grund des Unglücks ist in unse­ren bio­po­li­ti­schen Gesellschaften in unse­ren Körpern gela­gert. Deshalb hier eine war­me Empfehlung für das Buch der Künstlerin Moshtari Hilal zur «Hässlichkeit».

Foto: Moshtari Hilal foto­gra­fiert von Andreas Sibler www.andreas-sibler.com

Hässlichkeit macht wütend. Ein weib­li­ches Substantiv ohne Happy End. Das Buch «Hässlichkeit» von Moshtari Hilal ist den­noch umwer­fend. Die Autorin ist ein Multitalent: Künstlerin, Schriftstellerin mit afgha­ni­schem Hintergrund, wohnt in Hamburg und in Berlin. Sie ist Co-Founder der «Afghan Visual Arts and History», lei­tet ein Forschungsprojekt zu «Conflict with Care». 2022 ver­öf­fent­lich­te sie zusam­men mit der poli­ti­schen Geografin Sinthujan Varatharjah einen Gesprächsband über glo­ba­les Leben.  Beide haben dafür den Preis der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel gekriegt. Hilal ist eine die­ser umwer­fend begab­ten jun­gen Frauen, die von den Medien gese­hen und geför­dert wer­den – mal abwar­ten, was mit ihr pas­siert ist, wenn sie mal 45 Jahre alt ist. Hilal schreibt über die Geschichte der pla­sti­schen Chirurgie, dass bspw. Nasen-OPs sich nicht um die Nase dre­hen, die kor­ri­giert wer­den muss, son­dern es dar­um geht, die Existenz der Person, die die­se Nase trägt, abzu­leh­nen. Erst kürz­lich mein­te Laura Berman, die jüdisch-ame­ri­ka­ni­sche Intendantin des Theaters Hannover, lachend zur «Zeit»: «Wo ich auf­ge­wach­sen bin, haben eini­ge Väter ihren Töchtern zum 16. Geburtstag eine Nasen-OP geschenkt, damit sie ihre ‚jüdi­schen Nasen‘ los­wer­den.» Well – here we are, mit­ten in Hilals Buch und ihrer poe­tisch-wüten­den Abrechnung mit west­li­chen Schönheitsidealen.

Hilal beginnt ihr Werk bio­gra­fisch. Sie schafft sich ein Bild von sich sel­ber, sie ent­kommt ihrer bit­te­ren Wirklichkeit durch die Visualisierung eines Traumkörpers: «In Gedanken, sofort wenn ich die Augen schloss, wur­de ich zu die­ser ande­ren Frau, die mei­ne Mutter nicht kann­te.» Ihre Tagträume wer­den zu Bauplänen, zu Schlachtfeldern. «Ein dür­res Kind über­schlägt sich. Es ohr­feigt sei­ne Schenkel, hängt sich an sei­nen behaar­ten Achseln auf. Es kratzt sich die stopp­li­gen Arme und bläht sich die klei­nen Brüste auf. Es nimmt das Beil und hackt sich die Nase in zwei Teile.»
Hilal bezieht sich auf die Bibel aller Postkolonialistinnen: «Schwarze Haut, weis­se Masken» von Frantz Fanon, der abgrund­tief unge­recht und wütend die psy­cho­lo­gi­schen Folgen der fran­zö­si­schen Kolonisation beschreibt, dies schon 1952. «Hässlichkeit ist bei Fanon das Trauma, in einem Körper leben zu müs­sen, den man zu has­sen lernt», zitiert Hilal, und spä­te­stens hier hät­te sie auf alle Frauen hin­wei­sen kön­nen, die, mit Ausnahmen, ihren eige­nen Körper has­sen, mal­trä­tie­ren, begra­di­gen, fast ver­hun­gern las­sen, stän­dig bewe­gen, kon­trol­lie­ren und knei­fen. Die Entfremdung der Menschen durch die Blicke der ande­ren, durch ideo­lo­gi­siert pro­gram­mier­te Bilder, ist nicht ein­fach eine weis­se Kulturtechnik, son­dern eine urmensch­li­che und fürch­ter­lich ver­werf­li­che über­all dort, wo soge­nann­te Schönheit mit Liebe, Anerkennung und Dazugehören gleich­ge­setzt wird.

«Hässlichkeit wäre ober­fläch­lich, wenn es in Wahrheit nicht um Hass gin­ge, um den Wunsch, nicht gehasst zu wer­den, sich selbst nicht zu has­sen. Die Wahrheit ist, wir wol­len nicht schö­ner sein, son­dern voll­kom­men Mensch. Je näher wir einen Menschen an der Schönheit ver­mu­ten, desto näher muss er an einer voll­kom­me­nen Erfahrung sein, die man uns vor­ent­hält. Für den Mythos erschaf­fen wir die Hässlichkeit, die­ses Regime, und alle sei­ne Uniformen.»
In den Tiefen der Begriffe, der Geschichte zur Hässlichkeit, zwi­schen den Zeilen ver­steckt, liegt bei Hilal ein Buch, das eigent­lich um Liebe, Anerkennung und Sichtbarkeit fleht. «Es schnei­tet klaf­fen­de Wunde in eure Blicke. Dort, wo der Schmerz das Nachdenken anregt» – so lau­tet das lite­ra­risch her­vor­ra­gend umge­setz­te Programm von Moshtari Hilal. Sie lädt uns ein, dort hin­zu­ge­hen, wo die Ängste und die Schwachen sind, die­se zu umar­men, zu akzep­tie­ren und zu zele­brie­ren: Hässlichkeit ist genau­so inte­gra­ler Bestandteil unse­res Daseins wie die Sonne, die am Horizont auf­geht.

«Ihre Blicke lägen mir zu Füssen, mit roten Sohlen wür­de ich sie ein­fan­gen, unbe­rührt durch die Menge hin­durch, nie­man­dem aus­wei­chend, kei­ne Schulter, die mei­ner kei­nen Raum liess, kein uner­wi­der­tes Lächeln.» In der Tradition einer Joan Didion, der Meisterin der intro­spek­ti­ven Prosa, offen­bart die­ses Werk die Brutalität des Menschen ent­lang der radi­kal sozi­al defi­nier­ten Schönheitsideale. Sie tut dies poe­tisch, poli­tisch, nur ab und an etwas inkon­se­quent. Denn statt Schönheit für alle zu for­dern im Sinne einer voll­kom­me­nen Vielfalt – denn auch mein kras­ses, rot glän­zen­des, domi­nan­tes Muttermal mit­ten in mei­nem Gesicht ist schön – for­dert sie radi­ka­le Hässlichkeit – was nichts ande­res ist als ein­fach die Negation von Schönheit. Das kann nun wirk­lich nicht alles sein!

Das Buch ist aber nicht wegen der dar­in ver­steck­ten Politik bemer­kens­wert, son­dern wegen der lite­ra­ri­schen Qualität. Hilal führt uns durch ein Labyrinth von Gedanken, Bildern und Gefühlen, in dem die Grenzen zwi­schen Gut und Böse, zwi­schen Licht und Dunkelheit ela­bo­riert wer­den. Sie ver­webt ihre per­sön­li­chen Erfahrungen der eige­nen Hässlichkeit – die Nase ist ein Schmerz, der bleibt. Ihre Kapitel erin­nern uns an eine unmensch­li­che Vergangenheit und brin­gen uns dazu, die häss­li­chen Aspekte der Welt mit Klugheit, Poesie und Transformationslust zu betrach­ten. Hilals Sätze sind wie die Spiegel unse­rer eige­nen Dämonen, des­halb ist ihr Werk kein ein­fa­ches. Die Künstlerin zwingt uns dazu, die Hässlichkeit nicht nur als Risse unse­rer Gesellschaft, son­dern als die Grundlage der­sel­ben zu inter­pre­tie­ren. Es geht um zer­split­ter­te Träume und gebro­che­ne Hoffnungen auf dem Weg in die Abgründe der mensch­li­chen Existenz. Die Worte sind kunst­voll inein­an­der­ge­wo­ben, wie ein Gemälde, das aus den Farben der Melancholie und der Verzweiflung, aber auch der Wut ent­steht.
Was schön und nicht schön ist, bestim­men lei­der immer die ande­ren. Ich ken­ne kei­ne Frau, die sich schön fühlt. Es gibt Momente, in denen ist sie in ihrem Körper zu Hause. Doch schön sind Frauen nur durch Blicke ande­rer. Ältere Frauen erzäh­len davon. Sie füh­len sich unsicht­bar, weil die Blicke feh­len, die sie als jun­ge Frauen so oft belä­stigt haben. Als radi­kal sozia­le Wesen brau­chen Frauen die Blicke der ande­ren, weil sie aus sich sel­ber, als Frauen NICHTS sind. Übrigens so NICHTS, dass «Frau» als Begriff, Biologie und Wirklichkeit ja auch ver­nich­tet wer­den soll. Darüber denkt die Autorin lei­der nicht nach, obwohl sie mit ihrer femi­ni­sti­schen Kritik an der herr­schen­den Frauenfeindlichkeit so nah kommt. Sie reflek­tiert nicht, dass die Abhängigkeit vom Blick, also die Sichtbarkeit, in der Digitalisierung schon längst durch Codes und Sprechakte ver­mil­lio­nen­facht wird.  Oberflächlichkeit, die digi­ta­len Self-ful­fil­ling Prophecies, die Produktewerdung der Menschen las­sen alle «Ichs» zu einer Stelle des Nichts wer­den. Wer hat das Recht, von wem gese­hen zu wer­den, ist eine immens poli­ti­sche Frage, die vor allem Frauen betrifft. Davon ist im Werk Hilals lei­der viel zu sel­ten die Rede.

«Welch eine Verschwendung, wenn sich das schwar­ze Haar immer wie­der im Abfluss sam­melt. Welch ein Widerstand, wenn es sich immer wie­der erhebt, um der Klinge zu begeg­nen. Im Schatten mei­ner Nase befin­det sich ein Ort, an dem Anderssein erlaubt wird, alle Anpassung zu über­schrei­ben. Ein Ort, an dem das Ich an Stelle des Nichts unse­re, eure Blicke ent­larvt haben wird.»

«Hässlichkeit» ist Körpererfahrung als Weltendeutung. Daher rührt auch mein Bedenken an der Politik des Werkes. Denn die Autorin denkt nicht aus ihrem Körper hin­aus; sie sieht kei­nen Fortschritt allein in der Tatsache, dass sie nur hier und nicht in Kabul schön sein kann im Sinne des Dazugehörens. Sie ver­kennt die Schönheit der demo­kra­ti­schen Öffentlichkeit – wie so vie­le ihrer Zeitgenossinnen. Sie endet des­halb lei­der ihr wun­der­schö­nes Buch extrem wütend – mit der Überschrift «Versöhnung». Damit zer­stört sie ganz kurz nur ihr Werk als Weltliteratur. Dennoch: Ein wirk­lich gros­ses Werk, und ich freue mich auf Hilals näch­ste Bücher eben­so sehr wie auf ihre Ausstellungen.

Moshtari Hilal, Hässlichkeit,
Hanser 2023; ISBN 978–3‑446–27682‑6

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