Zum Sterben SCHÖN: Von der Angst, nicht zu gefal­len

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Von Dr. Regula Stämpfli - Ein Gespenst geht um: die Angst, nicht zu gefal­len. Es gibt unzäh­li­ge Bücher zum Thema, dar­un­ter lei­der kaum wirk­lich gute. «Mythos Schönheit» von Naomi Wolf ist sicher­lich ein Standardwerk, eben­so wie «Fat Is a Feminist Issue» von Susie Orbach oder «Der Preis des Geldes» von Christina von Braun. All die­se Werke feh­len im Literatur- und Kunstkanon. Ebenso wie John Bergers «Sehen», das zwar mil­lio­nen­fach gekauft, aber wenig gelehrt wird. Zitiert in den Medien wer­den unzäh­li­ge pro­fa­ne Experten und neue Autorinnen, die ent­setz­lich viel dum­mes Zeugs zum Thema ver­öf­fent­li­chen. Auch Umberto Eco mit sei­nem wun­der­schö­nen Band zur Bellezza, die typi­scher­wei­se sowohl den Überbegriff als auch eine schö­ne Frau bezeich­net, gehört dazu. Der Semiotiker ist zwar ein Gigant punk­to Zeichen in Bild und Sprache. Doch er behaup­tet die ewig gül­ti­gen Normen von Schönheit. Dabei wüss­te er es doch bes­ser! Die ästhe­ti­sche Botschaft, so Eco klu­ger­wei­se, unter­schei­de sich von der nor­ma­len Message auf dop­pel­te Weise: Sie sei sowohl Referenz als auch Mehrdeutigkeit. Kunst sei des­halb so fan­ta­stisch, weil sie, immer noch Eco, zahl­rei­che Deutungsangebote mache. Geschichten und Formen wür­den stän­dig neu gese­hen. «Wie wahr, wie wun­der­bar, lie­ber Umberto Eco!» Doch davon fin­det sich in sei­nen bei­den Bänden «Die Geschichte der Schönheit» und «Die Geschichte der Hässlichkeit» lei­der nichts. «Schön ist etwas, über das wir, wenn es uns gehör­te, glück­lich wären, aber das auch schön bleibt, wenn es einem ande­ren gehört.» (Eco) Well, nein. Schönheit bie­tet wie gute Kunst unend­lich vie­le Deutungsangebote, erzählt unter­schied­li­che Formen und Geschichten. Signifikant als auch Signifikat sind in ein­an­der so ver­strickt, dass sie auf meh­re­ren Ebenen Inhalt und Struktur ver­schrän­ken. Schönheit ist also ent­ge­gen der übli­chen Meinung nicht all­ge­mein, sie folgt nicht all­ge­mein­gül­ti­gen Codes und Zeichen, son­dern sie in der Zeit fest­ge­schnallt. Auch Silke Wichert repe­tiert Bullshit: «Dass die Menschheit schon immer vom Jungbrunnen träum­te, ist kei­ne Neuigkeit» – sor­ry, aber beim Jungbrunnen geht es um Unsterblichkeit, die die Menschheit umtreibt, nicht um Schönheit. Damals star­ben Menschen so früh, und wenn sie dies nicht taten, waren sie alt, krank und häss­lich. Auch hier fehlt völ­lig der histo­ri­sche Zusammenhang.

Es gibt kei­ne objek­ti­ve Schönheit oder einen objek­ti­ven Jugendwahn, der in allen Politiken, Zeiten und Orten gleich aus­sä­he. Es gibt eine ein­zi­ge Konstante in der Geschichte der Schönheit, und die­se lau­tet: DAS MUSS, zu gefal­len. Menschen sind radi­kal sozia­le Wesen. Gefallen sie nicht, wer­den sie aus­sor­tiert. Dies wis­sen vor allem die Frauen. Bisherige Herrschaftsanalysen unter­schät­zen die Gewalt des­sen, was sich Ästhetik, Schönheit und soge­nann­te Wahrheit nennt. Dies tun sie, weil sie den männ­li­chen Blick, den Frauen über­neh­men, weil alle west­li­chen Menschen Frauen als Objekte sehen, Objekte, die sich stän­dig mit der Norm abglei­chen müs­sen, um sich ihrer Existenz zu ver­si­chern, über­nom­men haben.

Die fehl­ge­lei­te­ten ahi­sto­ri­schen Theorien, Vorlesungen, Populärdeutungen von Schönheit der letz­ten 80 Jahre ver­füh­ren auch dazu, dass die «Ästhetik des Grauens», im Westen durch Leni Riefenstahl per­fek­tio­niert, unse­ren gesam­ten öffent­li­chen Raum zukle­i­stert und damit auch unse­re Seh- und Sinnesorgane. Das Dritte Reich mag unter­ge­gan­gen sein, des­sen Ästhetik ist es nicht: mit gra­vie­ren­den Folgen für unse­re Demokratien und unser Zusammenleben. Der lei­der in die­sem Jahr viel zu früh ver­stor­be­ne Designtheoretiker Michael Erlhoff gehör­te zu den weni­gen klu­gen Köpfen, die den hab­gie­ri­gen und zutiefst unmensch­li­chen Strukturen der Inszenierung der Gegenwart auf die Schliche kamen. «Ornamentalisierte Menschen inspi­rie­ren zum grau­sam­sten Enthusiasmus und trans­for­mie­ren sämt­li­che Politiken in Servicedesign», so habe ich Michael Erlhoffs wund­ba­ren Bass noch im Ohr.

Die Zeichensprachen des Bösen bedie­nen sich ger­ne gel­ten­der Schönheitskonzepte, so hor­rend die­se auch sein mögen. Dem schö­nen Schein ist es eben völ­lig egal, wenn er Menschenverachtung über­deckt.

All dies steckt hin­ter dem soge­nann­ten Schönheitszwang. Schön sind Menschen nicht von Natur aus, son­dern schön müs­sen alle sein, die nicht zu den Herrschenden gehö­ren. Nur die Reichen kön­nen sich Hässlichkeit lei­sten: Die Armen sind auf Gedeih und Verderben auf die Schönheit ange­wie­sen. Deshalb waren frü­her die Reichen dick, die Armen spin­del­dürr. Deshalb sind heu­te die Reichen dünn und die Armen fett – sicht­bar von der Zucker‑, Erdöl- und Industrielandwirtschaft unter­wor­fe­ne Kreaturen.

Unterworfene MÜSSEN gefal­len. Der Schönheitswahn der Frauen heut­zu­ta­ge ist das Resultat jahr­hun­der­te­al­ten Anpassungsdrucks. Schönheit war nie und nim­mer «immer so». Schönheit wird von den Herrschenden defi­niert. Frauen sind dem «Gefallen» auf Leib, Leben und Sinnlichkeit unter­wor­fen: dem von sich sel­ber, egal ob les­bisch, ase­xu­ell, poly­amor, jung, alt, mit­tel, braun, rosa, grau. Sie müs­sen Männern gefal­len, auch hier egal wel­che Farbe, Alter, Herkunft, Homo- oder Heterosexualität. Das Gefallen ist kei­ne Ästhetik, son­dern ein Herrschaftsinstrument pur oder wie es Maria Furtwängler erst kürz­lich in einem Interview so schön sag­te: «Das Patriarchat wird von der Angst der Frauen, nicht zu gefal­len, zusam­men­ge­hal­ten.» Die Tatsache, dass Frauen, und zwar expli­zit als Frauen, sich sämt­li­chen Kultur- und Schönheitstechniken unter­wer­fen und die­se nie frei­wil­lig wäh­len, ist dem Zwang, zu über­le­ben, geschul­det. Frauen, die in der Vergangenheit nicht gefie­len, wur­den patho­lo­gi­siert, in Institutionen ent­sorgt, ver­nich­tet. So sub­til Werbung schei­nen mag, die Messages schrei­en auch heu­te noch jedem weib­li­chen Kind ab Geburt ent­ge­gen: Gefalle, sonst kön­nen wir dich töten, dich aus­gren­zen, dich ent­sor­gen. Afghanistan, das Kabul im Jahre 2021, trans­por­tiert exakt die­se Botschaften in alle Welt. Frauen wer­den vor den Augen der glo­ba­len Öffentlichkeit ver­nich­tet, und die Expertenmänner fin­den dies zwar bedau­er­lich, sehen dar­in aber kei­nen staat­lich orga­ni­sier­ten Femizid, der mit dem Verbrechen des Genozids gleich­zu­set­zen ist.

Schönheit ist nicht ein­fach schön, son­dern eine sehr effek­ti­ve Kulturtechnik der grösst­mög­li­chen Gewalt. Sie kennt kei­ne Konstanten in der Form, doch immer in der gesell­schafts­po­li­ti­schen Wirkung. Sie ist DAS Disziplinierungselement gegen Frauen. Deshalb sind Frauen «gefall­süch­tig»: Sie sind dem männ­li­chen Gefallen auf Gedeih und Verderb unter­wor­fen. Jahrhundertelang ent­schie­den schma­le Männereliten, wer wie zu gefal­len hat­te. Während die Französische Revolution die weis­sen Besitzmänner befrei­te, wur­den Frauen und Sklaven als Eigentum, als Entrechtete, als Entmündigte ver­ewigt. Hannah Arendt beschreibt die vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Zustände, die Ständegesellschaft als nicht tota­li­tär, da die­se weder Frauen noch «Hofjuden» aus­schloss. Erst die Aufklärung brach­te demo­kra­ti­sche Reinheitsprinzipien, die sich bis heu­te repe­tie­ren: so auch im Entwurf des «Swiss Democracy Passport», der die direk­te Demokratie der Schweiz welt­weit rühmt, inter­na­tio­nal ver­tei­len will und von der Universität Bern, dem EDA und der Schweizer Demokratie Stiftung geför­dert wird. Ein «Pass für alle», wie dies Swissinfo lobt, ein Pass, der Frauen expli­zit als Nebensache auf­führt. Ein Pass im Jahr 2021, der die Entrechtung und die Entmündigung von Frauen bis 1971 als klei­ne Unschönheit in der schö­nen direk­ten Demokratie abhan­delt.

Frauen und Andere MÜSSEN gefal­len. 2021 kön­nen Unterschichtskinder über Pornografie oder als Influencerinnen Karriere machen. Dies nicht, weil sie dies so toll fän­den, son­dern weil die­se Kanäle die ein­zig noch ver­blie­be­nen gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Aufstiegsmodelle dar­stel­len. Alle klas­si­schen Karrieren sind näm­lich im Staatskapitalismus, der seit 2008 die glo­ba­len Hierarchien struk­tu­riert, fin­den in einem ziem­lich dicht gestrick­ten ewi­gen Gesetz der Oligarchie statt. Wir sehen dies in den Medien: Andrew Yang, der erste nicht weis­se US-Präsidentschaftskandidat 2020 beschreibt in sei­nem Buch, dass der erste Tipp, den er von sei­nem Kampagnenmanager krieg­te, war: «We need to give you a dif­fe­rent hair­cut. And update your ward­ro­be.» Gleichzeitig rea­li­sier­te der Präsidentschaftskandidat, dass, wenn er nicht den Gefallsregeln der Medien genüg­te, er kei­ne Chance hat­te, selbst wenn er die besten demo­kra­ti­schen Vorschläge mach­te, die die Welt zu einem bes­se­ren Ort machen könn­ten.

Die Bevormundung, der Filz, die trum­pi­sti­schen Medienmechanismen über­decken mit ihrer hohen Ästhetik und ihrem hohen Unterhaltungswert die extrem mör­de­risch-häss­li­chen Strukturen dahin­ter. Frauen wer­den auch heu­te noch, in den mei­sten ara­bi­schen Ländern bei­spiels­wei­se, vom Vater zum Ehemann gereicht, über­wacht von ihren männ­li­chen Verwandten von Geburt bis zu ihrem Tode. Alle Frauen ris­kie­ren bei NICHTGEFALLEN ihr Leben – in west­li­chen Demokratien sind es meist «nur» das öko­no­mi­sche Überleben und die Karriere – sie­he dazu die Ausführungen von Linda Scott in «Das weib­li­che Kapital».
Schönheit ist kein wirk­lich schö­nes Thema, und es ist höch­ste Zeit, in den Zeiten digi­ta­ler Reproduktion über die­se Hässlichkeit zu reden. Denn die Gewalt von ästhe­ti­schen Kriterien sind kei­ne künst­le­ri­schen Fragen, son­dern sind höchst poli­ti­sche Themen, zu denen übri­gens klu­ge Frauen schon sehr viel geschrie­ben haben, die aber NICHT gehört oder aktiv unter­drückt wer­den: Siehe die Geschichte des «Swiss Democracy Passport», der von einem Männergremium ver­fasst wur­de unter der Missachtung aller poli­to­lo­gi­schen Literatur von Frauen.

Deshalb: Frauen sor­gen sich um ihr Aussehen also nicht, weil sie WIRKLICH zu dick, zu klein, zu gross, zu dünn, zu far­big, zu bleich, zu alt, zu sexy, zu häss­lich, zu was auch immer wären: FRAUEN KÜMMERN SICH UM IHR AUSSEHEN, weil sie über­le­ben müs­sen. Bis 1971 stan­den Frauen in der Schweiz unter männ­li­cher Herrschaft. Erst seit 50 Jahren kön­nen sie for­mell den eige­nen Beruf wäh­len, ein eige­nes Konto füh­ren, erst seit 1992 kön­nen sie ihren Vergewaltiger in der Ehe anzei­gen. Dies im «Swiss Democracy Passport», die­sem Apartheidspass für alle, als ver­nach­läs­sig­ba­res Dilemma glo­bal, wis­sen­schaft­lich und unge­straft dar­zu­stel­len, sagt eigent­lich alles aus über den Zustand eines Feminismus, von dem die Community meint, sie sei ganz weit vor­ne. Brutal schön ist die­ser Schweizer Pass für die Welt: bru­tal schön, die­se Gewalt an Frauen, ver­packt in Theorie und Praxis ästhe­ti­scher statt poli­ti­scher Kategorien.

Dieser Essay ist der gros­sen Wut über den «Pass für alle» sowie über ein neu­es Buch zu Schönheit und Körper geschul­det. Die Autorin tut hier nichts zur Sache. Sie reiht sich ein in die lan­ge Tradition der Antifeministinnen, die vor­ge­ben, über ihre Generation Auskunft geben zu wol­len, und nur frau­en­feind­li­chen Schrott zwecks Männergefallen publi­zie­ren. Ihr Buch glänzt der­art von impli­zi­ter, nicht reflek­tier­ter, auto­ma­ti­sier­ter, repe­ti­ti­ver, sexi­sti­scher Gewalt, dass ich sie hier nur indi­rekt rezen­sie­re. Gefallen gehört zum Überleben. Und was die moder­nen Menschen so leicht in die digi­ta­le Totalität jagt, ist die allent­hal­ben zuneh­men­de Verlassenheit, geschul­det die­sem herr­schen­den Diskurs der schö­nen Oberfläche, die allen Frauen im Westen Nervengift zwecks Überleben reicht.

 

Literatur:
Regula Stämpfli: Die Macht des rich­ti­gen Friseurs. Über Bilder, Medien und Frauen.
Christina von Braun: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte.
Max Borka, Brutal schön. Brutal Beauty.
Naomi Wolf: Mythos Schönheit.
Regula Stämpfli: Die Vermessung der Frau. Von Botox, Hormonen und ande­rem Irrsinn.
Zygmunt Bauman: Das Leben als Konsum.
Linda Scott: Das weib­li­che Kapital.
Andrew Yang: Yang 2020, Journal, Diary, Notebook. Notes on the Future of our Democracy.
Michael Erlhoff: Im Schatten von Design. Zur dunk­len Seite der Gestaltung.
Neue Studie der mali­sa-Stiftung sie­he: https://malisastiftung.org/studienergebnisse-zu-sichtbarkeit-und-vielfalt-im-tv-vorgestellt

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