- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Zum Kunstkanon und des­sen Leerstellen

Regula Stämpfli trifft Elisabeth Eberle – Elisabeth Eberle trans­for­miert wis­sen­schaft­li­che Annäherung an die Natur in digi­ta­le Abstraktion und führt die­se in sinn­lich erfahr­ba­re Objekte und Installationen über. In den letz­ten Jahren stell­te sie im Helmhaus, im Museum Ulm und in der Kunsthalle Zürich aus. Eberle sam­melt seit über zehn Jahren alle Fundstücke zu KünstlerInnen – es ist ihr Werk, das Archiv «Frauen* zäh­len.», das femmeArtchive. Darüber sowie über den Kunstkanon und des­sen Leerstellen unter­hal­ten sich zwei Zeitgenossinnen: eine füh­rend in der Politphilosophie, die ande­re Leitfigur für zeit­ge­nös­si­sche Kunst. Die Fragen stellt laStaempfli.

Zunächst mal Basics, lie­be Elisabeth Eberle. Weshalb ein
femmeArtchive?
Als ich um 2010 in Zürich einen Kunstraum lei­te­te, fiel mir auf, dass gros­se Institutionen vor­wie­gend Kunst von Männern aus­stell­ten und sich bei uns vor­wie­gend Künstlerinnen* bewar­ben. Preise und Stipendien wur­den zu etwa zwei Dritteln an Männer ver­teilt, und bei Ankäufen wur­de Künstlern im Durchschnitt das Doppelte bezahlt.
Niemand ver­trau­te mei­nem Eindruck, und so begann ich Zahlen, Zeitungsartikel und Fundstücke zum Thema zu sam­meln.

Elisabeth Eberle, jetzt müs­sen wir grund­sätz­lich wer­den: Wie oft wur­den Frauen in der Kunstgeschichte schon kopiert?
Frauen und Männer wer­den in der Kunst stän­dig kopiert und appro­pri­iert, dies allein ist kein Skandalon. Entscheidend ist die Frage, ob die Kopien und Inspirationen offen dekla­riert oder ver­steckt wer­den. Oft wur­den die Frauen, Erfinderinnen, Kunst-Neugestalterinnen bewusst aus dem Kanon geschrie­ben – bis heu­te. Erst jetzt erhal­ten eini­ge wich­ti­ge Frauen end­lich die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt: Hilma af Klint war lan­ge vor Kandinsky als abstrak­te Malerin tätig und trotz­dem gilt Kandinsky als Erfinder der abstrak­ten Malerei. Freytag-Loringhoven ist die Künstlerin des Readymade, des Pissoirs, das bis jetzt als Werk von Marcel Duchamp in die Kunstgeschichte ein­geht. Nicht nur wur­den die Frauen aus der Kunstgeschichte geschrie­ben, son­dern als soge­nann­te Musen ver­nied­licht. Dabei sind sie gros­se Künstlerinnen aus sich sel­ber her­aus. Weiter erwei­sen sich heu­te vie­le Werke der Renaissance, des Barocks, der nie­der­län­di­schen Schule etc., die Vätern und Brüdern von damals bekann­ten Malerinnen zuge­ord­net wur­den, als von Frauen geschaf­fen. Auch bei Höhlenmalereien konn­ten erst kürz­lich weib­li­che Handabdrücke zuge­ord­net wer­den, was die Vermutung nahe­le­gen könn­te, dass die ersten Künstlerinnen Frauen waren. Auch wirk­te die Tatsache, dass Heirat, Namensänderungen sowie der poli­ti­sche wie recht­li­che Nicht-Zustand von Frauen ihren Einfluss haben. Ebenfalls wir­ken die man­geln­den Ausbildungsmöglichkeiten. Dieser Teufelskreis von Abwertung, Vergessen und Unterdrückung setzt sich an gewis­sen Häusern bis heu­te fort. Dieses geziel­te Verschwinden von Frauen muss revi­diert wer­den. Gleichzeitig müs­sen wir wis­sen, dass soge­nann­te Frauenkunst sehr zieht: Hilma af Klint brach 2018 im Guggenheim Museum mit 600 000 Eintritten sämt­li­che Rekorde. Dies wider­spricht allen Museumsdirektoren, die behaup­ten, sie zeig­ten weni­ger Kunst von Frauen, weil sie nicht weni­ger Eintritte gene­rie­ren woll­ten.

Durch dei­ne Arbeit am femmeArtchive ver­fügst du eigent­lich über eine gan­ze Enzyklopädie von gros­sen Künstlerinnen. Weshalb wur­den sogar Künstlerinnen, die in ihrer Zeit sehr bekannt waren, nach ihrem Tod ver­ges­sen?
Der Kunstkanon ist stark mit dem Markt und teil­wei­se auch mit der Politik ver­floch­ten. Das Geflecht bringt ein gut gedich­te­tes und geöl­tes System her­vor. Museen kön­nen zur Wertsteigerung eines Werks bei­tra­gen. Da macht es finan­zi­ell einen Unterschied, ob ein Picasso in einer Ausstellung an einem renom­mier­ten Haus sei­nen Wert ver­viel­facht oder ob eine Sophie Täuber-Arp eher unter «fer­ner lie­fen» läuft. Wobei grad Sophie Täuber-Arp aktu­ell einen Raketenstart hin­legt. Das Preisniveau von Kunst von Frauen beträgt aber immer noch einen Bruchteil von dem von Männern. An Auktionen 2018 betrug der mone­tä­re Anteil von Künstlerinnen sagen­haft lächer­li­che zwei Prozent!

Welche Rolle spie­len dabei Museen, SammlerInnen und SponsorInnen?
Kunstsammler und Sponsoren sit­zen in den Vorständen der oft halb pri­va­ten Museen und haben ein gros­ses Interesse, ihre Trophäen im Museum als Leihgaben zu zei­gen. Dies freut wie­der­um die klam­men Kassen der Museen. So freu­en sich dann bei­de: Denn die Werke wan­dern von der Sammlung ins Museum, dann wie­der in die Sammlung respek­ti­ve an Auktionen – mit gros­ser Wertsteigerung natür­lich. Dass Frauen weni­ger beach­tet wer­den, hängt auch an der aka­de­mi­schen Aufarbeitung in Katalogen und den Nennungen in der Presse. Daraus ent­ste­hen vie­le Kunstratings, die dann dar­über ent­schei­den, ob ein Werk in einem Museum gezeigt wird oder nicht. Dabei bräuch­te es die­se Ratings in die­ser Form nicht, denn die Museen sind öffent­li­che Institutionen. Sie könn­ten eine ganz ande­re Wahl tref­fen, als sie es tun. Doch solan­ge das Geld nicht an Bedingungen wie Quoten, Legitimation der Sammlung und Transparenz geknüpft ist, wird sich nur wenig ändern.

Also heisst dies im Klartext, dass Kunst nicht objek­ti­ven, ästhe­ti­schen, poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen, emo­tio­na­len Kriterien folgt, son­dern Macht und Geld?
Die Auswahl der gezeig­ten Kunst basiert nicht zwin­gend auf Meritokratie. Viele beschwo­ren in dem System Avantgarde, Innovation und Qualität von bekann­ten Männern und nutz­ten die­se als Argument gegen Kunst von Frauen*. In den Kanon spie­len vie­le Faktoren rein, Qualität ist nur einer davon. Dieser war zudem rein männ­lich defi­niert und gestal­tet bis heu­te die Kunstgeschichte. Dazu kommt, dass die Wahl der Ausdrucksmittel für Frauen oft begrenzt war und oft als Kunsthandwerk ver­schrien oder als nicht voll­wer­ti­ges künst­le­ri­sches Ausdrucksmittel aner­kannt wur­de. Auszeichnungen fol­gen eben klas­si­schen Kriterien, die durch den herr­schen­den Kanon defi­niert wer­den.

Vielleicht machen Picasso, Klimt, Jeff Koons ein­fach so viel bes­se­re und super­schö­ne Kunst!
Ach was. Männer hat­ten bes­se­re Startbedingungen, mehr Ressourcen, waren insti­tu­tio­nell bis zu über 90 % ver­tre­ten und kön­nen daher sehr selbst­be­wusst den Raum ein­neh­men. Und ver­ges­sen wir nicht: Oft sind Künstlerinnen bereits am Machen geschei­tert, in der Ausbildung, es fehl­te Geld, die Konventionen waren gegen Frauen aus­ge­rich­tet, es gab kei­ne Möglichkeit, die Werke aus­zu­stel­len. Gleichzeitig fehl­te auch das Selbstvertrauen, sich sel­ber zu behaup­ten, sich gegen die Familie zu stel­len. Ein Grossteil der weib­li­chen Energie für Kunst ging allein dafür drauf, sich die Kunst über­haupt erst erlau­ben und schaf­fen zu kön­nen. Die mei­sten bekann­ten histo­ri­schen Künstlerinnen wur­den dies nur dank männ­li­chen Wegbereitern. Sie hat­ten oft berühm­te Väter, die aber das Talent der Töchter nicht nur erken­nen, son­dern auch för­dern muss­ten. Oft dien­ten die Frauen ein­fach auch nur den fami­li­en­ei­ge­nen Werkstätten zu.

Im Buch «The Mirror and the Palette» von Jennifer Higgie beschreibt die Autorin die Bedeutung des Spiegels. Weshalb ist die­ser für Frauen so wich­tig?
Da Frauen kei­ne Akte malen durf­ten, waren sie auf sich selbst ange­wie­sen. Sie hat­ten nur sich selbst und ihren Körper. Daraus ent­stan­den dann die vie­len Selbstbildnisse. Doch selbst da ver­schwan­den die Frauen oft: selbst wenn sie sich sel­ber mal­ten, mit Staffelei und Pinsel in der Hand, ihre Werke fett unter­schrie­ben. Sie wur­den ein­fach ent­sorgt. Erst in den letz­ten Jahren kommt auch für zeit­ge­nös­si­sche Kunst Bewegung in die Sache. 2009 erreg­te Camille Morineau mit «Elles» im Centre Pompidou gros­se Aufmerksamkeit. Sie grün­de­te auch das AWARE in Paris, um Künstlerinnen aus dem 20. Jahrhundert zu Sichtbarkeit zu ver­hel­fen. In Florenz waren es ame­ri­ka­ni­sche Restauratorinnen (AWA), die die Keller durch­such­ten und offen­bar Tausende (!) Werke von Künstlerinnen fan­den. Museen wie der Prado, die Tate und vie­le ande­re gaben sich neue Richtlinien und zeig­ten erst­mals oder mehr Kunst von Frauen*.

Erstaunlich ist ja, dass die Hofmalerin von Marie Antoinette, Élisabeth Vigée Le Brun, oder Artemisia Gentileschi und vie­le ande­re histo­ri­sche Malerinnen von der Renaissance bis zum Surrealismus und der Moderne erst jetzt lang­sam ins kol­lek­ti­ve Bewusstsein ein­drin­gen.
Die Liste ist unend­lich lang, reicht von den Italienerinnen Artemisia Gentileschi, Elisabetta Sirani, Sofonisba Anguissola, Giovanna Garzoni zu den Holländerinnen Clara Peeters und Judith Leyster, zu Angelika Kauffmann und Anna Dorothea Therbusch, von einer lan­gen Liste öster­rei­chi­scher Malerinnen der Moderne und einer inter­na­tio­na­len Liste von Surrealistinnen, Dadaistinnen, Frauen am Bauhaus und den abstrak­ten Expressionistinnen (z. B. Lee Krasner) im 20. Jahrhundert bis zu hoch­be­tag­ten Zeitgenossinnen, die in den letz­ten Jahren erst ans Licht kamen (Louise Bourgeois, Maria Lassnig, Rose Wylie etc.), und bis zur femi­ni­sti­schen Avantgarde (z. B. Valie Export).

Kehren wir zur Jetztzeit zurück. Gilt der Satz «Je pre­sti­ge­träch­ti­ger der Kunstort, umso weni­ger Frauen» immer noch?
Ja, mehr oder weni­ger, und es ent­spricht der Differenzierung zwi­schen frei­er Szene und Museen. In einer Swissinfo-Zählung für Schweizer Museen 2008–2018 schnit­ten zudem die Romandie und das Tessin etwas schlech­ter ab. Für vie­le Bereiche gibt es aller­dings kei­ne Daten, z. B. bei Kunst am Bau, bei der Kunst im öffent­li­chen Raum und bei Universitätssammlungen. Pro Helvetia gab 2021 eine Vorstudie zu den Geschlechterverhältnissen in der Kultur her­aus, die zu einem ähn­li­chen Resultat kommt wie Swissinfo. Auf die Details der Hauptstudie bin ich gespannt. Es ist erstaun­lich, dass erst 2021 dazu geforscht wird, wo doch Künstlerinnen seit Jahrzehnten auf das Ungleichgewicht hin­wei­sen, z. B. die Guerillagirls.

Seit 2016 gab es kei­ne Einzelausstellung einer zeit­ge­nös­si­schen Frau mehr im Kunsthaus Zürich. Die letz­te war Pipilotti Rist. Ja, gibt es denn über­haupt Frauen in der Schweizer Kunst?
Es schlies­sen seit eini­ger Zeit mehr Frauen als Männer an den Kunsthochschulen ab, und es gibt ein paar Künstlerinnen in der Schweiz, die auch inter­na­tio­nal Erfolg fei­ern, z. B. Miriam Cahn, die spät ent­deck­te Vivian Suter, die wich­ti­ge Manon, Sylvie Fleury oder Mai-Thu Perret. Einige sind bei erfolg­rei­chen Galerien unter Vertrag. Ohne deren Support und Kollaboration mit Institutionen scheint ein Erfolg meist aus­ge­schlos­sen. Galerienprogramme sind aber aus finan­zi­el­len Gründen nach wie vor oft männ­lich domi­niert. Häufig ver­schwin­den Künstlerinnen, sobald sie Kinder haben oder wenn sie nicht mehr jung sind. Jeff Koons hat übri­gens fünf Kinder.

Wie steht es eigent­lich mit den Frauen in den öffent­lich-recht­li­chen, staat­li­chen Wettbwerben?
Staatliche Wettbewerbe waren oder sind immer noch teil­wei­se im Ungleichgewicht, lan­ge so um zwei Drittel Männer zu einem Drittel Frauen, je nach Ebene, Ort und Zeitspanne, wobei es wenig Datenmaterial gibt, aber Verbesserungen sicht­bar sind. Sie sind die Labels für Künstlerkarrieren, das Nadelöhr auch für den Kunstmarkt. Zum Glück fie­len an den mei­sten Orten vor weni­gen Jahren die Alterslimiten. Altersbeschränkungen dis­kri­mi­nie­ren Frauen beson­ders, weil sie mit der Familienphase zusam­men­fal­len. Sie bestehen aber noch bei Konzernpreisen. Diese haben in vie­len öffent­lich mit­fi­nan­zier­ten Schweizer Museen Gastrecht. Generell lässt sich sagen: Der Jugendwahn hat etwas nach­ge­las­sen, nach­dem eini­ge uralte Künstlerinnen wie Louise Bourgeois mit ihren fan­ta­sti­schen Werken ans Licht gekom­men waren, Werke, von denen bis­her nie­mand etwas zu sehen oder zu hören bekom­men hat­te.
Sind es immer die Männer, die ein­sei­ti­ge Entscheide zu Ungunsten von Künstlerinnen fäl­len?
Nein. Leider nicht. Einseitige Museumsprogramme wer­den oft auch von Frauen initi­iert und getra­gen, die aber auch wie­der vom System abhän­gig sind. Künstlerinnen wer­den eben auch von Frauen dis­kri­mi­niert.

Wie wer­den die Künstlerinnen bekannt, die wäh­rend Jahrhunderten nach dem Tod alle ver­ges­sen wur­den?
Der Digitalisierung ist dies­be­züg­lich viel zu ver­dan­ken. Das Netz hat die Verfügbarkeit von Archiven im digi­ta­len Raum mög­lich gemacht und weib­li­chen Museumsdirektorinnen und Restauratorinnen Aufmerksamkeit ver­schafft. Zudem hat der poli­ti­sche Diskurs rund um #MeToo auch gehol­fen, in der Kunst die Diskriminierung von Frauen zu zei­gen. Die Fragilität von Frauenrechten im kul­tu­rel­len und poli­ti­schen System ist aber immer noch hoch.
Weshalb braucht es femmeArtchive trotz aller neu­en Anstrengungen immer noch?
Es gibt die Guerillagirls nun seit über 30 Jahren, und in der Schweiz sind die Verhältnisse immer noch uner­freu­lich ein­sei­tig. Niemand gibt sei­nen Spielplatz frei­wil­lig auf. Es gab eini­ge Frauen, die indi­vi­du­ell oder in Gruppen kämpf­ten, aber mit mäs­si­gem Erfolg. Als Argumentationsbasis braucht es Fakten. Zudem: Frauenrechte in der Schweiz sind noch nicht so alt. Gleichstand ist trotz Demokratie noch nicht erreicht. Nicht allen Frauen* ist dies bewusst, obwohl wir grad aktu­ell sehen, wie schnell Systeme punk­to Frauenrechte kip­pen kön­nen!

Die ein­zel­nen Selfies aus der Lockdown-Serie kön­nen für je 500 Fr. (exkl. Versandkosten) erwor­ben wer­den. Sie wur­den je in einer 5er-Serie gedruckt.

Bild: from LOCKDOWN sel­fies series, 2020, fine art print, A3 – © Elisabeth Eberle www.elisabetheberle.ch