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Zürcher Festspiele 2010 – Eine Nachlese

Von Heinrich Aerni - Was tun, wenn es einem nicht ver­gönnt war, die gros­sen Festspiel-Orchesterkonzerte mit legen­dä­ren Altmeistern und genia­len Neulingen am Dirigentenpult zu besu­chen? Während sich im Bereich der popu­lä­ren Musik die Besprechung von Konzerten und Platten-Neuerscheinungen weit­ge­hend ins Internet ver­la­gert hat, kann man im Bereich der Klassik wie vor hun­dert Jahren und noch frü­her auf die guten alten Rezensionen in den gedruck­ten Zeitungen zurück­grei­fen.

Im Folgenden soll unter­sucht wer­den, wie weit es mög­lich ist, sich auf­grund der Berichte im Tages-Anzeiger und in der Neuen Zürcher Zeitung ein Bild zu machen, was und wie gespielt und gesun­gen wur­de. Elf Kritiken lie­gen vor zu sechs Tonhalle-Konzerten: Das Collegium Novum UND das Tonhalle-Orchester nach­ein­an­der am sel­ben Abend, mit Heinz Holliger als Dirigent, dem Schweizer Kammerchor und der Sopranistin Juliane Banse, mit viel Kurtág und Schumanns Zweiter; Herbert Blomstedt mit einem Mozart-Klavierkonzert und Dvoráks Achter (nur von der NZZ rezen­siert); das Opernhaus-Orchester unter Ingo Metzmacher mit Schönbergs Violinkonzert, gespielt von Benjamin Schmid, und Brahms’ Vierter; Bernard Haitink mit dem Berg-Violinkonzert, gespielt von Leonidas Kavakos, und Bruckners Neunter; der 35-jäh­ri­ge Yannick Nézet-Séguin mit Berlioz’ «Nuits d’Été», gesun­gen von Anna Caterina Antonacci, und der «Symphonie Fantastique»; und schliess­lich noch­mals das Orchester der Oper Zürich unter Philippe Jordan mit den Rückert-Liedern, gesun­gen von Thomas Hampson, und Dvoráks Neunter.

Die Kriterien sind erstens: Ist der Standpunkt des Rezensenten klar erkenn­bar? Professionell und ver­siert genug sind die Autorinnen und Autoren, um dem Text genü­gend per­sön­li­ches Profil zu ver­lei­hen, auf­grund des­sen eine Abstraktion mög­lich ist. Es lässt sich jedoch oft nicht kaschie­ren, dass sie mit der Programmauswahl nicht viel anfan­gen kön­nen, und ent­spre­chend indif­fe­rent blei­ben, was auch ver­ständ­lich ist, besteht doch das Repertoire aus einer erschreckend klei­nen Anzahl immer wie­der gespiel­ter Werke. –

Zweitens: Erfolgt ein Bericht dar­über, wie gespielt und gesun­gen wur­de? Dies ist der ein­zi­ge Punkt, der über­haupt noch von Interesse sein kann bei bei­na­he zu Tode gespiel­ten Stücken wie etwa Brahms’ Vierter, oder Dvoráks Neunter. Gerade hier klaf­fen die Berichte am mei­sten aus­ein­an­der. Während in den an sich schon knapp bemes­se­nen Tagi-Artikeln oft unver­hält­nis­mäs­sig viel Raum für Hintergrundinformationen ver­braucht wird, bleibt eine eigent­li­che Beschreibung ganz aus. (Die Jordan-Kritik etwa des Tagi umfass­te 1500 Zeichen, die­je­ni­ge der NZZ immer­hin 2500). Viel mehr zum Punkt kom­men hier die Berichte der NZZ, in denen auch ein­mal ein prak­ti­scher musi­ka­li­scher Hintergrund der Journalisten durch­zu­schim­mern scheint, wenn etwa Blomstedts Schlagtechnik kom­men­tiert wird, der offen­bar «weit­ge­hend auf Auftaktbewegungen ver­zich­te­te» und sich dadurch rhyth­mi­sche Ungenauigkeiten ein­stell­ten. Im besten Sinn tra­di­tio­nell sind die Räume, die von der NZZ noch gewährt wer­den, um Aufführungen in solch gross­ar­ti­ger Weise nach­er­leb­bar zu machen: «Dieser Schlussakkord: Niemand, der ihn gehört hat, wird ihn ver­ges­sen – wenig­stens nie­mand, der Ohren hat zu hören und ein Herz zu füh­len. Ein ein­fa­cher E‑Dur-Akkord mit der Quint als ober­stem Ton liegt da in den Blechbläsern, wäh­rend ihn die Streicher, nun aber mit der Terz zuoberst, drei­mal gezupft dazu­ge­ben: an sich eine ein­fa­che Sache. Aber wel­ches Mass an Erfüllung, an Ruhe und Frieden kam da zum Ausdruck. An Lösung auch – in dem Sinn näm­lich, dass die unvoll­endet geblie­be­ne Sinfonie Nr. 9 von Anton Bruckner gleich­sam voll­endet erschien.»  –

Dritter Punkt: Erfahre ich bei unbe­kann­ten Werken etwas über die Musik? Auch hier ist in der NZZ viel mehr Platz dafür vor­han­den, wenn­gleich es lei­der auch hier nie so weit kommt, dass tat­säch­lich der Versuch unter­nom­men wür­de, musi­ka­li­sche Sachverhalte in Worte zu fas­sen, was wie­der­um an Vorgaben der Zeitung lie­gen könn­te. Dennoch ver­mag etwa die inspi­rier­te, for­ma­le Beschreibung von Kurtágs Zyklen «Messages» op. 34 und «New Messages» op. 34a eini­gen Aufschluss zu geben: «Sechs kur­ze Stücke im ersten, sie­ben im zen­tral­sym­me­trisch ange­ord­ne­ten zwei­ten Zyklus rei­hen sich. Jedes hat eine frap­pant kla­re musi­ka­li­sche Idee, jedes einen eige­nen Ton, einen eige­nen Klang, und jedes benennt mit musi­ka­li­schen Mitteln auch emo­tio­na­le Inhalte – ein unter­hör­ter Reichtum tut sich da auf. Wie viel Phantasie (und Herzblut) steckt in den kur­zen Werken.»  –

Und vier­tens und letz­tens: Gibt es Hintergrundinformationen zu Musik und Aufführung? Wie schon erwähnt, lässt die­ser Punkt an Breite und Tiefe nichts zu wün­schen übrig, es drängt sich eher der Verdacht auf, dass die musik­wis­sen­schaft­lich und all­ge­mein phi­lo­so­phisch bestens geschul­ten Autoren sich auf kon­tex­tu­el­lem Terrain um eini­ges siche­rer füh­len als im Besprechen von musi­ka­li­schen Sachverhalten und Aufführungsdetails. Wenn die­se Not aber zur Tugend wird und, wie in der Tagi-Gesamtbeurteilung der Metzmacher-Matinée als «Stenogramm einer nach­ro­man­ti­schen Erregung», lite­ra­ri­sche Züge erhält, kann es durch­aus Spass machen.

Foto: zVg.
ensuite, August 2010