Wut, die

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Von Frank E.P. Dievernich ‑Lexikon der erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Alltagsphänomene (X) Was war das bis­lang für ein Jahr? Gesellschaftliche Umwälzungen, ange­trie­ben von einer Wut, ange­staut über vie­le Jahre, zei­gen plötz­lich, dass die Haut der Gesellschaft nicht deckend ist, son­dern porös. So gese­hen erscheint es weni­ger als Zufall, dass der neue Almodóvar-Film «La piel que habi­to» die Haut zum zen­tra­len Thema macht. Das Phänomen des Aufplatzens ist nicht neu, haben doch bereits die 1968er gezeigt, dass es Zeitpunkte gibt, in denen die Gesellschaft sich ihrer alten Strukturen ent­le­di­gen möch­te. Wut, als trei­ben­de Kraft einer Veränderung, ist also bekannt. Was hat es mit den Ausbrüchen der jüng­sten Zeit auf sich? Kairo, Athen, London, Rom, um vier Städte zu nen­nen, die als «Label» für die auf einen Ort fokus­sier­te Wut zu bezeich­nen sind, sind und wer­den aktu­ell zu einem Synonym. Dazu gesel­len sich die aktu­el­len Schlachten in Zürcher Fussballstadien. So unter­schied­lich die Beweggründe und Kontexte sein mögen, so deut­lich tritt aber das eini­gen­de Phänomen der Wut auf. Interessant dabei ist, dass in unse­rer über­or­ga­ni­sier­ten Gesellschaft die­se Ausbrüche im öffent­li­chen Raum statt­fin­den, und eben nicht an jenen Stellen, die eigent­lich für die Entstehung sol­cher Bedingungen ver­ant­wort­lich sind, näm­lich in und zwi­schen unse­ren Organisationen, in denen wir tag­täg­lich leben. Auch die Wut in Manhattan wur­de bis­lang nur in die Wall Street, und nicht in die sie säu­men­den Organisationen getra­gen. Wie steht es also kon­kret um die Wut in unse­ren Unternehmen? Dabei soll hier von dem all­täg­li­chen Ärger mit dem Vorgesetzten und den Kollegen abstra­hiert, und auf jenes sub­ti­le Wut-Klima fokus­siert wer­den, wel­ches sich über­all dort ein­ni­stet, wo der Mensch sich selbst nicht mehr (bemerk­bar) ver­or­ten kann, weil er durch sich selbst und ande­re nicht mehr als rele­van­te Grösse wahr­ge­nom­men wird. Der Grund-Gedankengang ist, dass Organisationen in Bezug auf die Wut sich als janus­köp­fi­ge Gestalten offen­ba­ren. Zum einen pro­du­zie­ren sie die Zustände, die zur Wut füh­ren, weil sie Personen als Unpersonen funk­tio­na­li­siert behan­deln, obwohl sie auf der Ebene der «Tonspur» vor­ge­ben, auf das gan­ze Individuum ein­zu­ge­hen. Zum ande­ren ent­schär­fen sie die Wut im Kontext der eige­nen «vier Wände», in dem sie in Form von Funktionen und Rollen, um nur zwei Beispiele zu nen­nen, Berechenbarkeiten, Sicherheiten und (dadurch) Entlastungen schaf­fen. Der Preis der einen Seite ist die Voraussetzung für das Entstehen der ande­ren Seite. Die Gesellschaft, oder bes­ser, der gesell­schaft­lich- öffent­li­che und vor­der­grün­dig orga­ni­sa­ti­ons­freie Raum wird dabei zum Überdruckventil, um das aus­agie­ren zu kön­nen, was inner­halb der Organisationen trotz deren Suggestionen nicht mög­lich ist.

Verweilen wir noch für einen klei­nen Moment bei der emo­tio­na­len Entschärfungsfunktion von Organisationen. Die Rollen, die Personen inner­halb von Organisationen ein­neh­men, ermög­li­chen eine Identität, eine kom­ple­xi­täts­re­du­zie­ren­de Adresse, hin­ter der man sich ver­schan­zen kann. Rollen fin­den immer im Kontext von Funktionen statt, und die­se sind mit ande­ren ver­bun­den, so dass die Person dahin­ter ganz bestimm­ten Erwartungen aus­ge­setzt ist, denen sie nach­kom­men muss, will sie in die­sem sicher­heits­sug­ge­rie­ren­den Spiel blei­ben. Auch der hier­ar­chi­sche Status einer Person ver­leiht Identität und Verhaltenssicherheit. Ganz zu schwei­gen vom Bild, wel­ches ein Unternehmen als «Corporate Identity» pro­du­ziert. Wenn das alles so funk­tio­nie­ren wür­de wie beschrie­ben, hät­ten wir es mit einer schö­nen, hei­len, weil kal­ku­lier­ba­ren Welt zu tun. Genau das ist sie aber nicht. Die Unternehmen selbst haben die Büchse der Pandora geöff­net, in dem sie durch Beobachtungsvorteile den Markt beherr­schen wol­len. Dafür brau­chen sie zuneh­mend die Mitarbeiter – jen­seits ihrer Funktionen und Rollen. Und weil das alle tun, sind die Beobachtungsvorteile immer nur von kur­zer Dauer, wäh­rend der Markt anfängt, resul­tie­rend aus den zuneh­men­den Beobachtungen, sich immer schnel­ler zu dre­hen. An die­ser Stelle ist rele­vant, dass mit der gesell­schaft­li­chen Zunahme an Möglichkeiten und tat­säch­lich wahr­ge­nom­men Perspektiven gleich­zei­tig auf Seiten der Mitarbeiter die Kontingenz ersicht­lich wird, die in sozia­len Verhältnissen liegt. Niemand wird mehr in gesell­schaft­li­che Rollen und Milieus hin­ein­ge­bo­ren, die nicht zu ver­än­dern sind. Das hat zur Folge, dass Optionen, aber auch die Beschränkungen von sozia­len Situationen sicht­bar wer­den, gegen die man sich auf­leh­nen kann. Und auch Beschreibungen des Marktes sind mit einem Gegenargument, einer ande­ren Beobachtung zu wie­der­le­gen. Da die­ses Prinzip nun für jeder­mann offen liegt, kom­men die Organisationen ins Straucheln, da das Prinzip der steu­er- und bere­chen­ba­ren Ordnung, und damit der Sicherheit, nicht mehr auf­recht­erhal­ten wer­den kann. Es bleibt nicht unbe­merkt, dass man als Mitarbeiter, wenn über­haupt, nur halb und funk­tio­na­li­siert in der eige­nen Organisation vor­kommt. Und auch aus­ser­halb der Organisationen geht die­ses Spiel wei­ter, da schnell klar wird, dass die­se Gesellschaft selbst eben nur als Ansammlung von Organisationen exi­stiert. Organisationen machen was sie wol­len – mit oder ohne uns. So sind wir in den Schulen unse­rer Kinder nicht nur Eltern; durch die Möglichkeit, Vergleiche anstel­len zu kön­nen, mutie­ren wir selbst zu semi-pro­fes­sio­nel­len Erziehern, ohne dass sich am Schulsystem etwas ändern wür­de. Wir sind über­all dabei, um doch nicht ganz dabei zu sein. Wir reden über­all mit, wer­den dazu noch ein­ge­la­den, und haben den­noch nichts zu ent­schei­den. Und wenn es irgend­wo noch eine Wissenslücke gibt, so erhebt uns das Internet zum Experten. In die­ser eigen­wil­li­gen Form eines Expertenstatus erken­nen wir uns als Mitglieder jener Unternehmen wie­der, die unöko­lo­gisch pro­du­zie­ren, und lesen in den Zeitungen, wie die Bevölkerung dage­gen, also auch gegen uns, auf­be­gehrt. Wir sind Mitglieder jener Finanzinstitute, deren Produkte wir selbst nicht mehr ver­ste­hen, obwohl wir doch über­all sug­ge­riert bekom­men, dass alles ver­stan­den wer­den kann. Wir stei­gern im Arbeitsalltag die Effizienz unse­rer Organisationen und wäh­len im Gegenzug jene Parteien, die für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein­tre­ten. Was nun die Wut angeht, so ent­steht sie also über­all dort, wo beob­ach­tet wird, dass das Handeln der einen Organisation zur Erschütterung einer ande­ren bei­trägt, und man sich selbst als Bindeglied die­ser per­ver­sen Wechselbeziehung ent­larvt, ohne in die­sem Zwischenraum auf eine Auflösung drän­gen zu kön­nen. Und wenn man dabei noch vor­ge­führt bekommt, dass das orga­ni­sa­tio­na­le Gerangel auch ohne einen abläuft, ist sehr schnell zu sehen, dass man funk­tio­na­li­siert ist, trotz der (durch die Organisation ein­ge­for­der­ten) Beobachtungsfähigkeit, die den­noch kei­nen Unterschied macht. Einen Unterschied wür­de es nun machen, sei­ne Wut zu orga­ni­sie­ren, und inner­halb der Organisation wir­ken zu las­sen, statt im gesell­schaft­li­chen Raum dazwi­schen, also im orga­ni­sa­tio­na­len Vakuum. Die Wut in der Gesellschaft zum Ausdruck zu brin­gen braucht Mut. Noch mehr Mut braucht es aber, sie in den Organisationen zum Ausdruck zu brin­gen; wenn man dar­an betei­ligt sein will, zu klä­ren, wo man einen Unterschied machen soll und wo nicht, und wel­chen Unterschied die Organisationen in Einklang mit unse­ren Werten in der Gesellschaft machen sol­len, in der wir leben wol­len.

*bewirt­schaf­tet vom Forschungsschwerpunkt Unternehmensentwicklung der Berner Fachhochschule, www.wirtschaft.bfh.ch, Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch

Foto: zVg.
ensuite, November 2011

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