Zum Apéro: Helden in Zeitlupe

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Von Barbara Roelli – Wenn sie die­se Zeilen lesen, steht er schon lan­ge fest: der Sieger der Fussballweltmeisterschaft 2014. Vielleicht rau­fen sie sich immer noch die Haare, dass ihre Lieblingsmannschaft nicht gewon­nen hat. Vielleicht sind sie es auch leid, über­haupt noch über die WM zu dis­ku­tie­ren. Oder aber sie segeln auf Wolke sie­ben, weil ihr Favorit Weltmeister ist – und sie eine Wette gewon­nen haben. Wie auch immer – wir schau­en alle auf eine inten­si­ve Zeit zurück.

Die Abende waren ver­plant. Das Public Viewing wur­de unser Umschlagplatz, die Droge: Weltfussball. Jeden Tag konn­ten wir uns etwas davon rein­zie­hen. In HD-Qualität auf die Leinwand pro­ji­zier­te Bilder. Wir waren ganz nah dran an den Helden. Wir schau­ten zu, wie sie um den Ball ran­gen als gäbe es kein Morgen. Wir sahen Goals, die den Torschützen einen Platz im Himmel sicher­ten. Wir krieg­ten jede Schweissperle mit, die ein «Tschütteler» bei 27 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit abson­dern kann. Wir unter­stütz­ten sie, wenn sie sich vor dem Schiri auf­bau­ten und mit auf­ge­ris­se­nen Augen die Ungerechtigkeit beklag­ten.

Am lieb­sten hat­te ich die Ballett-Szenen: Wenn Sequenzen aus dem Spiel um ein mehr­fa­ches lang­sa­mer gezeigt wur­den. Etwa, wenn zwei Spieler in die Höhe schos­sen um den Ball mit dem Kopf zu tref­fen – sich dabei um die eige­ne Achse dreh­ten und nach der Pirouette die Köpfe gegen­ein­an­der wuch­te­ten. Oder, wenn ein Stürmer im Affenzahn auf einen Verteidiger zurann­te – und bei­de durch den Aufprall zu Boden stürz­ten. Ich lieb­te sie, die­se Stürze in Zeitlupen-Tempo. Ich nahm einen Schluck kal­tes Bier und sah den Spielern zu, wie sie mit den Armen um sich ruuuuuuder­ten, ver­such­ten, die Beine unter Kontroooooolle zu bri­iiiiii­in­gen, sich der Erdanziehungskraft schluss­end­lich aber nicht wider­set­zen konn­ten. Es waren die­se Momente der WM, in denen die Helden ver­letz­lich wur­den. Wenn sie am Boden lagen, zusam­men­ge­krümmt, sich mit schmerz­ver­zerr­tem Gesicht das Schienbein hiel­ten, den wun­den Kopf in bei­de Hände ver­gru­ben. Die Kameras film­ten wei­ter: Zoom auf Oberschenkelmuskulatur, Kniegelenke und täto­wier­te Arme. Wenn ein Tor fiel, wur­de auf den beten­den Torschützen fokus­siert, fast konn­te man ihm von den Lippen lesen. Und noch näher fuh­ren die Linsen an die Gesichter der Verlierer. Tränen in höch­ster digi­ta­ler Auflösung. Im Ultra Slow Motion-Modus nahm das Leid der Fussballer kein Ende – dank hoch­ent­wickel­ter Technik waren wir ganz nah dran an ihrem emo­tio­na­len Kollaps. Für mich wur­den die Spieler zu Schwänen, und ich sah ihnen, zuvor­derst an der Bühne, beim Sterben zu. Bis mich der Schiri zurück ins Spiel pfiff, das in Realzeit wei­ter­lief. Die Kameras hetz­ten wei­ter den schnel­len Pässen nach, film­ten das Getänzel um den Ball, die ärger­li­chen Pfostenschüsse. Dann plötz­lich: Gooooooooaaaal! Und danach der Kommentator, der den Torschützen lob­te, wäh­rend das Goal noch­mals in Zeitlupen-Tempo aus allen mög­li­chen Perspektiven prä­sen­tiert wur­de, inklu­si­ve Ansicht der Spider-Kamera.

Doch so bril­li­ant der Ball auch ins Netz beför­dert wur­de – zu berüh­ren ver­moch­te mich dies kaum. Von der Weltmeisterschaft 2014 blei­ben mir ande­re Momente in Erinnerung. Jene, in denen die Zeit ganz lang­sam ver­ging und der gros­se, gras­grü­ne Fussballplatz zum Schlachtfeld wur­de. Nicht alle kämpf­ten bis zum Schluss. Einige muss­ten ver­letzt vom Feld. Und jene wer­den noch heu­te als Helden gefei­ert.


Bild: Barbara Roelli

 

Publiziert: ensuite Nr. 140,  August 2014

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