Zufall der

Von

|

Drucken Drucken

Von Frank E.P Dievernich und Kurt Häberli – Lexikon der erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Alltagsphänomene (VIII): 

Der Zufall ist ein wun­der­ba­res Mittel, eine abkür­zen­de Umleitung, um die undurch­schau­ba­re Komplexität des Lebens auf etwas Erklärbares, näm­lich den Zufall, zu redu­zie­ren. Willkommen also in der Welt der Tautologie! Beim Zufall, so Wikipedia, han­delt es sich um den Übergang von einer Ausgangssituation, die meh­re­re Endsituationen ermög­licht, in eine die­ser Endsituationen, wenn a) kei­ne erkenn­ba­re Ursache für das Zustandekommen gera­de die­ser Endsituation vor­liegt, oder b) und bei Wiederholungen von der­sel­ben Ausgangssituation auch die ande­ren Endsituationen ein­tre­ten kön­nen. Ob es den Zufall trotz Definitionsversuchen nun tat­säch­lich gibt oder nicht, bleibt unklar: Die einen sind der Meinung, dass der Zufall gar nicht exi­stiert, die ande­ren bemü­hen ihn, um Gegebenheiten sozia­ler Situationen zu erklä­ren, die sie nicht haben vor­her­se­hen kön­nen. Der Zufall scheint so etwas zu sein, wie das Salz in der sozia­len Suppe.

Für Unternehmen, glaubt man ihren offi­zi­el­len Selbstbeschreibungen, scheint der Zufall eher den Charakter von zu viel Salz in der Suppe zu haben. Unternehmen funk­tio­nie­ren näm­lich nach dem Prinzip der Rationalität – und das, obwohl alle wis­sen, dass das nicht der Realität ent­spricht. Real ist eher ein «Durchwurschteln», so die Organisationstheoretiker Herbert Simon, James March und Richard Cyert. Jetzt heisst das im Umkehrschluss aber noch lan­ge nicht, dass das Gegenteil des angeb­lich ratio­na­len Handelns in Organisationen auf Zufall beruht. So gibt es bei­spiels­wei­se ein Phänomen, wel­ches als Pfadabhängigkeit beschrie­ben wird und das besagt, dass die Wahrscheinlichkeit rela­tiv hoch ist, dass Menschen jene Dinge tun, die sie ohne­hin immer schon getan haben – jen­seits bes­se­rer Argumente, jen­seits der Rationalität und jen­seits des Zufalls. Was dann pas­siert ist fas­zi­nie­rend: Menschen pro­du­zie­ren ex post ratio­na­le Gründe, um ihre Handlungen und/oder Entscheidungen zu legi­ti­mie­ren. Pointiert for­mu­liert lässt sich also sagen, dass bereits vor­her alles ent­schie­den war. Wo aber ist nun der Zufall geblie­ben? Vielleicht, wenn man also vom Zufall spricht und ihn ver­sucht in Organisationen zu ver­or­ten, muss man vor­her begin­nen, also vor die­sem «Durchwurschteln» jen­seits der Planerfüllung, vor der Pfadabhängigkeit und vor der Ex Post-Rationalisierung.

Ein wun­der­ba­res Beispiel hier­zu ist die Erklärung von Managern, wie sie denn zu Führungskräften wur­den und wie es dazu kam, als ihnen zum ersten Mal Führungsaufgaben über­tra­gen wur­den. Ganz non­cha­lant ant­wor­ten vie­le dar­auf, in dem sie sich auf den Zufall bezie­hen. Unklar bleibt, wie viel Bescheidenheit hin­ter einer sol­chen Antwort steckt, oder ob tat­säch­lich die Überzeugung vor­han­den ist, dass es zufäl­li­ge Umstände in Zeit und Raum waren, die einen zur Führungskraft haben wer­den las­sen. Bemerkenswert ist, dass kei­ne Aussagen dar­auf abzie­len, einen har­ten Weg der Umsetzung eines per­sön­li­chen Planes erken­nen zu las­sen. Das ist der erste Eindruck, den man aus dem Datenmateriel einer aktu­el­len Studie zum Thema Führungserfahrung des Fachbereichs Wirtschaft und Verwaltung der Berner Fachhochschule erhält. Der zwei­te Eindruck zeigt etwas gänz­lich ande­res: Führung ent­steht in vie­len Fällen als Ergebnis eines Automatismus. Es ist der Automatismus einer Pfadabhängigkeit – man könn­te auch von einem Wahrnehmungstrichter spre­chen. Ist man, war­um auch immer, ein­mal im Aufmerksamkeitsfokus der Unternehmensführung, weil man z.B. zu der Gruppe der Hochschulabsolventen oder Potentialträgern gehört, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, eine erste Führungsaufgabe zu über­neh­men. Leitungsfunktionen wer­den näm­lich nicht in erster Linie auf­grund von Kompetenzen, son­dern mit Bezug auf die zur Verfügung ste­hen­den Personen, denen man die Kompetenz zur Führung zuschreibt, ver­ge­ben. Dies geschieht jen­seits des Tatbestandes, dass evtl. inner­halb ande­rer Mitarbeitergruppen durch­aus bes­ser begab­tes Personal vor­han­den wäre. Das zwei­te Argument, das gegen den Zufall spricht, ist die Kombination aus fach­li­cher Kompetenz und Zugehörigkeitsdauer. Ein Leistungsträger in einem Team, wel­cher schon län­ger dabei ist, emp­fiehlt sich qua­si selbst­ver­ständ­lich als poten­ti­el­le Führungskraft. Beruft man ihn, gewinnt man zwei­er­lei: Die Person wird nicht wech­seln, da sie einen Karriereschritt macht und man gleich­zei­tig die bestehen­de Arbeitsleistung sichert, da der beste Fachspezialist sei­ne Leistung, in wel­cher Form auch immer, nach wie vor im bestehen­den orga­ni­sa­tio­na­len Setting ein­brin­gen kann. Der drit­te Grund, der gegen einen Zufall spricht, ist die (vor-)berufliche Orientierung. Nicht von unge­fähr waren vie­le Führungskräfte zu Beginn ihrer beruf­li­chen Laufbahn ent­we­der in der Jugendarbeit invol­viert, waren Lehrer oder haben gemein­nüt­zi­ge Projekte und damit Menschen orga­ni­siert. Sie waren nicht von Anbeginn «Leader» im Sinne einer Führungskraft, aber im Sinne einer Gestaltmotivation, die zwangs­läu­fig dazu führt, dass Menschen koor­di­niert wer­den müs­sen. Leidenschaft für ein Thema ist immer eine gute Grundvoraussetzung, damit sich ande­re ange­spro­chen füh­len und sich dazu gesel­len. Ebenfalls hilf­reich ist, wenn man über Ressourcen (Informationen, Kompetenzen, Arbeitsmittel, etc.) ver­fügt, die ande­re benö­ti­gen, um ihrer Arbeit nach­ge­hen zu kön­nen. Diese Asymmetrie kann zum struk­tu­rel­len Vorteil für den­je­ni­gen wer­den, dem man zutraut, die­se «Lücke» zu schlies­sen. Will man trotz die­ser Punkte dem Zufall sei­nen Platz ret­ten, dann dürf­te die­ser nur mehr im Kontext der sub­jek­ti­ven Beschreibungen der jeweils Betroffenen vor­zu­fin­den sein.

Andere Beobachter hin­ge­gen sehen auf einem län­ge­ren zeit­li­chen Horizont näm­lich Entwicklungslinien – also alles ande­re als Zufälle. Zu sehen ist das Resultat von Synchronizität. Synchronizität bedeu­tet, dass vie­le, par­al­lel ablau­fen­de Geschehnisse die Voraussetzung und das Ergebnis für ein ganz bestimm­tes Ereignis dar­stel­len, was wir als sol­ches beob­ach­ten. Der Moment, wenn jemand zur Führungskraft wird, kann als Zufall oder als das Ergebnis eines Planes beschrie­ben wer­den. Das ist die eine, klas­si­sche Perspektive. Dabei geht ver­lo­ren, dass unzäh­li­ge Ereignisse statt­ge­fun­den haben, die ein dich­tes Netz aus Ursachen und Wirkungen dar­stel­len und in denen der Handelnde, sofern er alle ein­zel­nen Geschehnisse mit­ein­an­der in Verbindung bringt, dar­aus zu einem bestimm­ten Zeitpunkt eine Schlussfolgerung, eben eine zeit­punkt­be­zo­ge­ne Beobachtung zieht, die aber auch nur einen Moment im Rahmen eines gan­zen Ereignis-und Handlungsstranges dar­stellt. Die Perspektive der Synchronizität, wie wir sie hier ver­tre­ten, stellt nicht die Frage, was den Endpunkt eines Handlungsstranges dar­stellt (Führungskraft gewor­den zu sein), son­dern stellt die Frage danach, für was die ein­zel­nen Momente im Strom der unzäh­li­gen Ereignisse gut sein könn­ten. Die Entscheidung von Menschen, Unternehmer zu wer­den, die Berufung einer Führungskraft, das Treffen der gros­sen Liebe und spä­te­ren Lebenspartnerin in einem Weiterbildungskurs, das Treffen von ganz bestimm­ten Entscheidungen, all das sind die mehr oder weni­ger aber doch irgend­wie zwangs­läu­fi­gen Ergebnisse eines ablau­fen­den sozia­len dyna­mi­schen Handlungsstranges und Netzes, in das wir ein­ge­bun­den sind. Wir, genau­so wie unse­re Manifestationen (Karriere, Position, Familie, Haus und Garten, etc.), sind das Medium die­ses sozia­len Ereignisnetzwerkes durch das es uns hin­durch beein­flusst.

Nachdem also der Zufall auf der prag­ma­ti­schen Seite der Unternehmen irgend­wie par­al­lel zur Hierarchie, ratio­na­len Plananordnung und ‑erfül­lung akzep­tiert wur­de, stellt die Synchronizität nun den Zufall und den Plan als gleich­ge­schal­te­tes Äquivalent ins Abseits. Was uns das eröff­net, ist die Möglichkeit zu fra­gen, was alles hin­ter einem Fall («Ich bin Führungskraft gewor­den!») steht. Bei der nur kleinst­mög­li­chen Veränderung eines Parameters wäre unser Weg wahr­schein­lich ein ande­rer. Aber er ist so, wie er ist, und es sind die klei­nen Dinge gewe­sen, die dazu geführt haben. Und weil es eben so gekom­men ist, wie es gekom­men ist, kön­nen wir anfan­gen eine Konstruktion an den Tag zu legen, die uns lehrt, zu fra­gen, was uns das alles sagen möch­te, ohne dass wir den Zufall (oder den Plan) dafür als Erklärung bemü­hen müs­sen. Das ist eine neue Perspektive, bei der Unternehmen und all jene, die sich als ratio­nal beschrei­ben, ner­vös wer­den, weil hier mit einer Variablen, die nicht zu erklä­ren ist, etwas ver­sucht wird, zu erklä­ren. In dem Moment, wenn wir das tun, bege­ben wir uns in die Dynamik der Geschehnisse und kom­men in einen «Gleichklang» mit jener Welt, von der wir bis­lang dach­ten, man muss sie gestal­ten, erobern, dome­sti­zie­ren, ihr sei­nen Stempel auf­drücken. Dabei ist es umge­kehrt und wir sind der Stempelabdruck die­ses Lebens – ohne Zufall und Plan. Man könn­te auch sagen: Willkommen in der Matrix, in der jeder sei­nen Platz hat, den er aktu­ell ver­dient. Darüber soll­ten sich Führungskräfte Gedanken machen – nicht zufäl­lig, son­dern bewusst und geplant!

Kontakt:
Frank.Dievernich@bfh.ch sowie habek1@bfh.ch

* bewirt­schaf­tet vom Kompetenzzentrum
Unternehmensführung der Berner Fachhochschule,
www.unternehmensfuehrung.bfh.ch

Foto: zVg.
ensuite, April 2011

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo