Wenn man bereit ist, etwas Komfort auf­zu­ge­ben..

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Traubenlese in der Weinkooperative Cabrery, LuberonIn Bern ist neu die Ausstellung «Die Utopie der Widerspenstigen, 40 Jahre Longo maï» im Kornhaus zu sehen. Auf der Basis von Solidarität, Handwerk und Landwirtschaft baut Longo maï Kooperativen in Randregionen auf. 1972 ent­stand das Projekt: Jugendliche wan­der­ten in die Provence nach Limans bei Forcalquier aus und eröff­ne­ten die erste Kooperative. Heute hat Longo Mai an zehn Standorten in fünf Ländern Bauernhöfe. Rund 250 Personen leben in Bauernhöfen, die auf der Basis von Selbstverwaltung betrie­ben wer­den.

Von Sabine Hunziker – Ein Interview mit Hannes Reiser (Jg. 1953) von Longo Mai über die Vorgeschichte des Projektes.

SH: Warum begin­nen sich Jugendliche mit Landwirtschaftspolitik zu beschäf­ti­gen?
HR: Ausgangspunkt für unse­re ersten poli­ti­schen Aktivitäten war nicht die Landwirtschaft, son­dern die Tatsache, dass Jugendliche nach der obli­ga­to­ri­schen Schulzeit für die wei­te­re Ausbildung von­ein­an­der getrennt wer­den. Die einen müs­sen „ga büg­le“ und die ande­ren „go stu­die­ren“. Diese Kluft zwi­schen Lehrlingen und Gymnasiasten hat­te mich extrem gestört, denn vie­le mei­ner Kollegen waren Lehrlinge. Verschiedene wei­te­re Punkte wie das Konsumverhalten haben dazu geführt, daß ich dar­über nach­zu­den­ken begann, ob ein ande­res Leben mög­lich wäre. Wir haben uns zusam­men­ge­tan, Stifte und Schüler. Erste Arbeitsthemen unse­rer Gruppe waren u.a. die Arbeitsbedingungen in den Lehrbetrieben – oft sind Lehrlinge schi­ka­niert wor­den. Da sind wir dann oft zu zwan­zigst zum jewei­li­gen Chef gegan­gen, haben uns in sein Büro gesetzt und ver­langt, dass der Lehrvertrag neu unter­zeich­net wird. Oder wir sind zur Gewerkschaft gegan­gen und haben ver­langt, dass sie zum Betrieb geht. Mit der Zeit sind wir dann eigent­lich eine ganz eine leben­di­ge Bewegung gewor­den und kann­ten ande­re Gruppen von Jugendlichen, die ähn­lich vor­ge­gan­gen sind.

Es gab zum Beispiel die Lehrlingsgruppe Hydra. Hydra ist der Name eines Wesens aus den grie­chi­schen Sagen. Wenn man ihm den Kopf abschlägt, dann wach­sen zwei nach. Das heißt, ihr könnt uns ver­su­chen fer­tig zu machen, aber es kom­men immer zwei nach. Wir hat­ten uns dann mit der Hydra zusam­men­ge­tan. Überall gab es so Lehrlingsgruppen – auch in Deutschland oder in Österreich – mit denen wir uns ver­netz­ten. Unsere Arbeit soll­te genau da anset­zen, wo du als Mensch direkt betrof­fen bist vom System – wo du zum Untertan gemacht wirst oder ein Rad in einer Maschinerie wirst. Mit der Zeit und vie­len vie­len Diskussionen unter den Mitgliedern der Gruppe hat sich ein Grundprinzip her­aus­ge­bil­det, das uns auch in der Kooperativen von Longo Mai wich­tig ist: wir woll­ten Politik und Leben nicht tren­nen.

SH: Was kann man sich dar­un­ter vor­stel­len?
HR: In Folge ent­stan­den vie­le Lehrlings- und Studenten –Kommunen. Von die­sen Kommunen aus wur­den Kampagnen orga­ni­siert. Wir arbei­te­ten mit allen Leuten zusam­men die mit­hal­fen, dass die Kampagnen erfolg­reich sein konn­ten. Das waren Betroffene, die Bevölkerung, Kirche oder Gewerkschaften. Wenn eine Kampagne fer­tig war, zogen wir uns wie­der zurück und über­leg­ten uns etwas Neues. Es gab dabei immer die Gefahr, insti­tu­tio­na­li­siert zu wer­den. Die Hydra wur­de fast zu einer Lehrlingsgewerkschaft. Wenn ein Lehrling unzu­frie­den war, hat er uns ange­ru­fen und gesagt, kommt zu uns eine Aktion zu machen. Wir sag­ten dann, mach die Aktion sel­ber – wir zei­gen dir aber wie es geht. Später wei­te­ten wir unse­re Arbeit über die Landesgrenzen und das Lehrlingsthema aus – auf Arbeitskämpfe all­ge­mein.

SH: Ihr seid dann in Europa her­um­ge­reist um Streik zu unter­stüt­zen?
HR: Jedes Jahr haben sich die Jugendgruppen aus Holland, Deutschland, Frankreich, Schweiz oder Dänemark für ein Sommerlager getrof­fen. Dort haben wir uns dann grund­sätz­lich Strategien über­legt: wie könn­te man wei­ter machen, um nicht mehr in natio­na­len Grenzen den­ken zu müs­sen. Die Wirtschaft war ja schon längst inter­na­tio­nal. Es gab vie­le „wil­de Streiks“ damals, weil Firmen began­nen Arbeitsplätze in Billiglohnländer zu ver­schie­ben. So rei­sten von uns Leuten in ver­schie­de­ne Länder zu den Betriebssitzen, um zu beset­zen und auf die miß­bräuch­li­che Situation auf­merk­sam zu machen. Es waren Aktionen, die Spass gemacht haben wie Besetzungen oder Happenings – aber mit Inhalt. Durch das haben wir ganz Europa ken­nen gelernt. Alle haben Zeitungen gele­sen und wenn irgend­wo etwas los war, haben wir die Leute da unter­stützt. Denn als Gruppe hast du vie­le Möglichkeiten, wenn zehn Leute mal bereit sind etwas Komfort auf­zu­ge­ben. Dann gibt es rie­si­ge Möglichkeiten etwas zu ver­än­dern, das kann man sich gar nicht vor­stel­len. Wir haben in kur­zer Zeit eine Reihe von Aktionen gemacht. Man kann es gar nicht für mög­lich hal­ten: z.B. eine Solidaritätsaktion mit Minenarbeiter in Belgien oder in England gab es mal eine Aktion mit den Dockern oder Mithilfe bei den Milchstreiks im Emmental oder in der Bretagne.

Montois, mit Stausee und eigenem KraftwerkEin Hof wird renoviert Limans OLYMPUS DIGITAL CAMERA ????????????????????????? Esel Bild 19 Schafsesel

SH: Ihr habt euch vor allem auf Arbeitskämpfe beschränkt?
HR: Wir woll­ten uns bald mal nicht mehr in einem Sektor ver­beis­sen. Irgendwann haben wir bemerkt, daß das alles Rückzugsgefechte waren: es war extrem schwie­rig zu ver­hin­dern, daß Arbeitsplätze in Niedriglohnländer ver­la­gert wur­den.

So haben wir gesagt, jetzt zie­hen wir uns zurück und über­le­gen uns was Neues. In den Sommerlager der Hydra wur­de immer auch über län­ger­fri­sti­ge Perspektiven dis­ku­tiert, über Formen des Zusammenlebens, Tauschwirtschaft oder Solidarität. Aus die­sen Gesprächen hat sich dann die Longo-Mai Idee ent­wickelt. Wir woll­ten so leben, wie wir das uns vor­stell­ten – nicht nur in der Theorie, son­dern auch mit dem Einsatz des eige­nen Lebens. Durch Kontakt mit den Bauern bei Arbeitskämpfen, haben wir ent­deckt, dass es in Europa gan­ze Regionen gibt, die wirt­schaft­lich nicht inter­es­sant sind. Die über­lässt man ein­fach sich selbst. Damals war das so. Und dort waren auch die Wirtschaftsinteressen nicht so stark, wie dort wo das gros­se Geld gemacht wird.

SH: Und das war dann ein Ort, wo ihr eure Utopie rea­li­sie­ren konn­tet?
HR: Man kann etwas ent­wickeln. Denn was braucht der Mensch zum leben? Er braucht ein Dach über dem Kopf, eine eige­ne Kultur, wo er sich ent­wickelt – das war die Grundidee von den uto­pi­schen Kooperativen. 1972 hat­ten wir die Idee. Es gab auch schon eine ande­re Gruppe, die das gemacht hat: Sie waren von Zürich und hies­sen Neu-Walserbund, die hat­ten irgend­wo beim Simplon eine Landkommune. Im Unterschied zu Ihnen sag­ten wir uns, wir sind nicht Schweizer, nur weil wir einen Schweizerpass haben. So haben wir in ganz Europa nach Land gesucht. In Südfrankreich fan­den wir dann in einer Region 300 Hektaren Land und kauf­ten es für 300‹000 Franken. Es war ein Preis für Steinwüste. Wir muss­ten viel machen.

SH: Wie war die­se erste Zeit und der Einstieg in das land­wirt­schaft­li­che Arbeiten?
HR: Es war hap­pig. Wir haben aber zum Glück schon einen Bauer gekannt. Der hat uns unter­stützt und auch ande­re Bauern mobi­li­siert, die uns Sachen zu Gartenbau oder in Viehwirtschaft zeig­ten. Wir haben über Landwirtschaftspolitik dis­ku­tiert und das hat uns gehol­fen, uns wei­ter zu ent­wick­len. Man muss vie­le Opfer brin­gen: am Anfang sind vie­le Leute umge­kippt. Es hat­te zum Beispiel nur Strom für eine ein­zi­ge Wohnung und dies für einen Betrieb von 300 Hektar. Wenn man die Bohrmaschine ange­macht hat­te, ging das Licht aus. Wir haben eine Menge Sachen aus­pro­biert, eini­ge waren ein Gewinn und ande­re schei­ter­ten eher. Wir pas­sen unse­re Ideen auch immer wie­der der Realität an. Es sol­len auch nicht alle Menschen so leben, es ist unse­re Wahl. Wir hat­ten Anfragen von vie­len Leuten, die zu uns besu­chen gekom­men sind. Und bald gab es das Bedürfnis nach neu­en Kooperativen. Auch heu­te noch wol­len sich Junge an sol­chen Projekten betei­li­gen – sol­len sie also die Möglichkeit dazu haben.

Weitere Informationen:
http://www.prolongomai.ch/die-kooperativen/ausstellung-bern/

oder

„Die Utopie der Widerspenstigen 40 Jahre Longo Mai“, Herausgeber Pro Longo Mai, ISBN: 978–3‑033–04145‑5

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