Kampf um Würde

Von

|

Drucken Drucken

Auf der ganz in weiss gehal­te­nen Spielfläche geschieht wäh­rend einer Stunde nicht viel: Ein Sohn küm­mert sich um sei­nen grei­sen Vater, der sei­ne Ausscheidungen nicht mehr kon­trol­lie­ren kann. Von der einen Seite schaut das Publikum, von der ande­ren ein rie­si­ges Ikonenbild von Jesus Christus.

Eine schwie­ri­ge Situation

Der Sohn, in Anzug, weis­sem Hemd und Krawatte, will sich von sei­nem Vater ver­ab­schie­den, der vor dem Fernseher sitzt. Doch da fängt der Vater an zu wim­mern und undeut­lich zu spre­chen. Er hat in die Windeln gemacht. Der Sohn kehrt um, zieht das Jackett aus, und wech­selt dem Vater die Windeln. Alles ist besu­delt mit brau­nen Fäkalien: die weis­sen Windeln, das weis­se Sofa, der weis­se Boden. Der Vater ent­schul­digt sich in einem fort, der Sohn wehrt lie­be­voll ab: «Sei still, und hilf mir, dich sau­ber­zu­ma­chen.»

Dies wie­der­holt sich zwei­mal. Kaum hat der Vater die neu­en Windeln an, sind sie wie­der voll. Das Publikum reagiert mit hilf­lo­sem Lachen und mit Ekel. Doch zu sehen, wie Vater und Sohn um ihre Würde kämp­fen, ist sehr berüh­rend und geht jeden etwas an – manch einer wird wäh­rend des Stücks an sei­ne Eltern oder Grosseltern gedacht haben oder sogar an sich sel­ber in einem ähn­li­chen Zustand.

Es ist schwie­rig, natür­lich. Auch Jesus schaut dem Treiben nur zu, sein Blick wirkt teil­nahms­los. Zum Schluss, als der Vater in einer bräun­li­chen Pfütze steht, wird es dem Sohn zu viel, und er läuft hil­fe­su­chend auf das Jesus-Bild zu. Mit Blitz und Donner geht das Stück zu Ende, die Bühne ist ver­dun­kelt, alles Licht auf Jesus gerich­tet, die Leinwand wird her­un­ter­ger­ris­sen, es kom­men die Worte «You are (not) my she­p­herd» zum Vorschein, wobei das negie­ren­de Wort sicht­bar, aber nicht beleuch­tet ist.

Rat- und Hilflosigkeit

Dieser Schluss lässt einen rat­los zurück. Der Titel des Stücks, «Sul con­cet­to di vol­to nel figlio di Dio» («Über das Konzept des Gesichtes im Sohn Gottes») ver­weist nur auf die­ses Bild, aber nicht auf die Handlung. Der Zusammenhang wird nicht klar ersicht­lich.

Der Regisseur Romeo Castellucci und sei­ne Gruppe «Socìetas Raffaello Sanzio» zei­gen in expli­zi­ten Bildern Probleme des Alters, wie sie nicht nur die Alternden, die die Kontrolle über ihre Körper ver­lie­ren, son­dern auch ihre Kinder, die sich um sie küm­mern, betref­fen. Von Bedürftigkeits-Pornographie bleibt er aber fern. Symptomatisch ist die Reaktion des Publikums, das im Verlauf des Stücks der Tragik zum Trotz immer häu­fi­ger lacht: Es ist ein Lachen aus Hilflosigkeit, aus der Unfähigkeit, mit einer sol­chen Situation – sei es auf der Bühne oder im rea­len Leben – umzu­ge­hen.

Eine Lösung bie­tet auch die Aufführung nicht. Vielleicht kann Jesus dem auf­op­fern­den Sohn Kraft geben und ein Ideal der Barmherzigkeit mit­ge­ben; so gin­ge die küchen­psy­cho­lo­gi­sche Deutung der Verbindung der Handlung mit dem beob­ach­ten­den Jesus.

Was She She Pop zu Beginn des Theater Spektakels sehr breit ver­han­del­ten, näm­lich das Verhältnis zwi­schen Eltern und Kindern und die Stabsübergabe zwi­schen den Generationen, fokus­siert Castellucci mit gros­ser Intensität auf ein Detail, näm­lich auf den Moment, in dem sich das Verhältnis umge­kehrt hat, und die Eltern von den Kindern betreut und gewickelt wer­den.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo