Etwas wer­den, jemand sein

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Pierre Anthon, Schüler der Klasse 7A, steigt am ersten Schultag nach den Sommerferien mit sei­ner des­il­lu­sio­nier­ten Einsicht, dass nichts irgend­et­was bedeu­tet, auf einen Pflaumenbaum. Die MitschülerInnen, pro­vo­ziert durch Pierre Anthons Erkenntnisse über die abso­lu­te Sinnlosigkeit der mensch­li­chen Existenz, füh­len sich her­aus­ge­for­dert, ihren Glauben an die Bedeutung der Welt zu ver­tei­di­gen – koste es, was es wol­le. Was harm­los beginnt, ent­wickelt sich, man ahnt es, zu einem Kraftakt, wel­cher mehr und mehr Opfer for­dert und zuse­hends aus­ser Kontrolle gerät.

Schweizer Erstaufführung

Das Junge Schauspielhaus Zürich bringt die Schweizer Erstaufführung von Janne Tellers viel­be­ach­te­tem Roman «Nichts. Was im Leben wich­tig ist» auf die Bühne. Das Buch, von der Kritik als bru­tal und mutig bezeich­net und bei sei­ner Erstveröffentlichung 2001 von den däni­schen Schulbehörden ver­bo­ten, wur­de mitt­ler­wei­le in 13 Sprachen über­setzt und ist auf euro­päi­schen Lehrplänen zu fin­den. So ist denn die Koproduktion des Jungen Schauspielhauses Zürich und des Departements Darstellende Künste und Film der ZHdK für Erwachsene und Jugendliche ab 13 Jahren kon­zi­piert.

Der Berg der Bedeutung

Um dem Verweigerer Pierre Anthon das Gegenteil von des­sen nihi­li­sti­schen Äusserungen zu bewei­sen, schmie­den die Jugendlichen einen Plan. In einem still­ge­leg­ten Sägewerk wol­len sie einen Berg der Bedeutung errich­ten; einen Haufen, zu dem jeder sein Wertvollstes bei­tra­gen muss. Was das jeweils ist, wird von jeman­dem aus der Gruppe ent­schie­den. Denn je schmerz­haf­ter der Verlust, desto gewich­ti­ger der Beweis für die Existenz von Bedeutung.

Als erstes wird ein Paar grü­ne Sandalen geop­fert, gefolgt von Boxhandschuhen und einem Fahrrad. Doch solch käuf­li­che Dinge ver­lie­ren nach kur­zer Zeit ihre Substanz und schon bald muss Gehaltvolleres her: ein Hamster, die Leiche des kurz zuvor ver­stor­be­nen Bruders einer Schülerin oder das Kruzifix der ört­li­chen Kirche. Als auch die­se mate­ri­el­len Güter den Hunger nach Tiefe nicht mehr zu stil­len ver­mö­gen, wird dem Klassenanführer eigen­hän­dig ein Finger abge­schnit­ten und ein Mädchen ver­ge­wal­tigt. Den Finger und das blut­be­fleck­te Taschentuch plat­zie­ren die Jugendlichen tri­um­phie­rend zuoberst auf dem Berg der Bedeutung, der nun Pierre Anthon vor­ge­führt wer­den soll. Doch dazu kommt es nicht, denn die Taten flie­gen auf. Das Drama in der däni­schen Kleinstadt löst neben Entsetzen auch das Interesse der inter­na­tio­na­len Presse aus, wor­auf der Berg der Bedeutung von einem ame­ri­ka­ni­schen Museum für meh­re­re Millionen Dollar gekauft wer­den soll. Die Jugendlichen, vom Pathos ihrer eige­nen Handlung ergrif­fen und erleich­tert, end­lich etwas und jemand zu sein, wil­li­gen in den Kauf ein. Und ein­mal mehr ist es Pierre Anthon, der ihnen ernüch­ternd direkt die Sinnlosigkeit ihrer gan­zen Aktion vor­hält. Er bezahlt dafür mit sei­nem Leben.

Virtuoses Spiel auf kar­ger Bühne

Wie Regisseur Enrico Beeler und sein 7‑köpfiges SchauspielerInnen-Ensemble Tellers ver­stö­ren­den Stoff auf die Bühne brin­gen, ver­dient Beachtung – und Applaus! Die Bühnenadaption des Textes löste Beeler über­zeu­gend: Mit nur sie­ben SchauspielerInnen – Nicolas Batthyany, Ann Kathrin Doerig, Timo Fakhravar, Lotti Happle, Fabian Müller, Christoph Rath, Ute Sengebusch – stellt er eine gan­ze Klasse dar. Sie schlüp­fen ele­gant von einer Rolle in die ande­re, neh­men den Platz von Pierre Anthon ein, um im näch­sten Moment Erzählstimme oder Klassenkamerade zu sein. Kleine Hilfsmittel wie Mütze oder Brille unter­stüt­zen den Wandel. Doch das Zentrale dabei ist die Sprache. Mit star­ker Präsenz brin­gen die SchauspielerInnen einen fast 90-minü­ti­gen, tem­po­rei­chen Dialog auf die Bühne. Mal fein säu­selnd, mal aus vol­ler Brust schrei­end, las­sen sie ein gros­ses Können an sprach­li­chem Ausdruck und mimi­scher Variation erken­nen und erzeu­gen damit eine sub­ti­le Spannung. Als Kontrast zum ratio­na­len Sprechen ver­mit­telt die star­ke Körperlichkeit des Spiels ein ein­dring­li­ches Bild der inne­ren Zerrissenheit der Jugendlichen. Sie ren­nen an gegen die unüber­wind­bar hohen Wände, pol­tern auf den Tisch, krüm­men sich auf dem Boden.

Das sehr schlicht gehal­te­ne Bühnenbild von Marc Totzke bie­tet einen stim­mi­gen Rahmen dafür. Die Bühne ist auf drei Seiten von einer sehr hohen Wellblechwand umge­ben, auf dem Boden ste­hen ein paar metal­le­ne Tische und an der hin­te­ren Wand ist ein Regal ange­bracht. Damit wird optisch dar­ge­stellt, was die Jugendlichen füh­len: eine kal­te Umwelt, deren Konventionen und Erwartungen sie umschlies­sen. Der Pflaumenbaum – hier Inbegriff von Freiheit und Lebendigkeit – wird durch ein Mikrophon am äus­se­ren Bühnenrand, aus­ser­halb der Wände, mar­kiert. Denn wie in Italo Calvinos «Der Baron auf den Bäumen» ein gelang­weil­ter Adelssohn den sozia­len Erwartungen mit sei­nem Rückzug auf einen Baum den Rücken kehrt, so steht auch Pierre Anthon aus­ser­halb der Gesellschaft.

Die Tanzeinlagen der Klasse, cho­reo­gra­phiert vom Breakdancer Buz und mit Nicolas Dauwalders Musik unter­malt, ver­mit­teln jugend­li­chen Übermut. Immer dann, wenn die Stimmung gelöst ist und die Jugendlichen sich als Gruppe füh­len, tan­zen sie. Alle tan­zen gleich, und zwar unge­fähr so, wie man das momen­tan bei jeder Castingshow sieht. Aber eben nur unge­fähr, denn die Bewegungen wir­ken eher wie eine Parodie dar­auf. Man könn­te die­se Tanzeinlagen als pein­lich emp­fin­den; oder aber als inti­men Moment, in dem unge­bän­dig­te Energie mit jugend­li­cher Unsicherheit zusam­men­kommt. Ein Moment, in dem die jun­gen Menschen so sym­pa­thisch sind, dass man ihre häss­li­chen Abgründe ger­ne ver­ges­sen möch­te.

Vielleicht wäre das Stück noch glaub­haf­ter, wenn die Skrupel und Gewissensbisse der SchülerInnen noch deut­li­cher her­aus­ge­ar­bei­tet wür­den. Denn obwohl ihre Aktion für sie zu einem exi­sten­ti­el­len Auftrag wird – einen Finger schnei­det man nicht so sorg­los ab. Oder doch? Ob die­ser Kritikpunkt wirk­lich einem objek­ti­ven Wunsch nach mehr Realismus ent­springt, oder aber der eige­nen Hoffnung auf das mensch­li­che Mitgefühl, ver­mag die Autorin hier nicht aus­zu­ma­chen.

Das Leben als Perfidie

Nach der Vorstellung bleibt die Frage, ob die­ses Stück tat­säch­lich für 13-Jährige geeig­net ist. Die Autorin jeden­falls ver­lässt den Saal ziem­lich auf­ge­wühlt und ver­stört, und ihre Gedanken krei­sen noch lan­ge um den Abend. Vielleicht ist die­se Reaktion sym­pto­ma­tisch für Erwachsene – denn es ist schmerz­haft, wenn die sozia­len Funktionsweisen, an denen man zumin­dest zu einem gewis­sen Grad teil­hat, als bedeu­tungs­lo­ses Spiel ent­larvt wer­den.

Das Stück han­delt von Jugendlichen und ihren inne­ren Kämpfen im Laufe des Erwachsenwerdens, aber mit­nich­ten nur davon. Man kann es auch als Aufforderung lesen, über (gesell­schaft­li­che) Normen, über Erwartungen und den eige­nen Umgang damit nach­zu­den­ken. Darüber, wie man sei­ne Zeit ver­bringt und wofür man lei­den­schaft­lich ein­steht. Und nicht zuletzt über unse­re Wünsche und die Perfidie, die wir zuwei­len für ihre Verwirklichung ent­wickeln, um irgend­wann etwas zu wer­den.

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