Inspirierende Lismete

Von

|

Drucken Drucken

Wie zwei Stricknadeln erschaf­fen die bei­den frei­en Theaterensembles «400asa» und «Theater am Bahnhof» gemein­sam eine Lismete aus vie­len bun­ten Fäden. Nach dem Strickmuster eines Musicals mit Elementen wie Liebesduett, gebel­te­ter Ballade und getanz­ter Ensembleszene wähl­ten sie als roten Faden eine Erzählung von Jeremias Gotthelf. «Wie fünf Mädchen im Branntwein jäm­mer­lich umkom­men» the­ma­ti­siert das Schicksal von fünf alko­hol­süch­ti­gen Frauen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Das Tempo ist meist sehr schnell, der Zuschauer ist gefor­dert und muss zuse­hen dass ihm kein Detail – qua­si als Fallmasche – ent­geht.

Die Inszenierung beginnt schon vor der Billetkontrolle: Ex-Miss Schweiz Nadine Vinzens ver­teilt Autogrammkarten. Danach besam­melt sich das gan­ze Publikum im Hof und wird zum Bühneneingang geführt. Auf dem Weg ist ein sin­gen­des Bauernmädchen zu sehen, wel­ches die Zuschauenden in die Theaterhalle lockt. Als Begrüssung gibt es erst ein­mal Tee und Kekse, wäh­rend alle auf der Bühne des Theaters auf beque­men Stoffhockern Platz neh­men.

Dieses Vorspiel reprä­sen­tiert einen wesent­li­chen Leitfaden des Künstlerkollektivs: Der Zuschauer schaut nicht nur zu, er par­ti­zi­piert am Theatergeschehen. Einerseits wird er von den Schauspielern phy­sisch in das Geschehen mit ein­be­zo­gen, sei es beim Nachstellen eines Ankerbildes oder beim schwei­zer­deut­schen Karaoke-Singen.

Andererseits wird er stän­dig zum Mitdenken und Hinterfragen gezwun­gen. Mithilfe des Stilmittels Verfremdungseffekt aus dem Brechtschen Epischen Theater wer­den die Handlungsfäden zer­ris­sen. Durch fuss­no­ten­ar­ti­ge Kommentare wer­den sie sogleich an ablen­ken­de Gedankenstränge ange­knüpft. Die dar­aus ent­ste­hen­de Dynamik inspi­riert die Zuschauer zur Reflexion: Zu Gedankenexkursen über weib­li­che Sexualität und Alkohol, zum Nachdenken über Schweizer Traditionen, das Bild der Schweiz, Christoph Blocher oder Anders Breivik. Dabei drän­gen die Schauspieler kei­ne vor­ge­fer­tig­ten Antworten auf, son­dern las­sen die auf­ge­wor­fe­nen Fragen im Raum ste­hen, damit sie der Zuschauer spä­ter für sich wei­ter­den­ken kann.

Dogmatisches Bekenntnis

Konsequenterweise wird die Produktion mit ein­fach­sten Mitteln rea­li­siert. Ein wei­te­res wich­ti­ges Garn in 400asas’ Gewebe, denn ihr Credo ist Sach- und Inhaltbezogenheit im Gegensatz zu den selbst­zweck­haf­ten Inszenierungen der hoch bud­ge­tier­ten Theater. Sie hal­ten sich auch im Branntweinmusical an die mei­sten Punkte ihres «Bekenntnis99» – nach dem Vorbild der däni­schen Dogma-Filme –, wel­ches ihnen unter ande­rem die­se Beschränkung der künst­le­ri­schen Mittel vor­schreibt.

Der Asketismus wirkt sich über­haupt nicht nega­tiv auf den Inhalt aus. Im Gegenteil: Immer far­bi­ger wer­den die Fäden, immer viel­schich­ti­ger und ver­strick­ter die Inszenierung. Neben Reha-Zwirn wird auch auch Geschlechterkonflikts-Wolle in die Lismete mit ein­ge­ar­bei­tet: Der Theaternovize Nikolai steht kom­plett unter der Fuchtel der fünf Branntweinfrauen und muss neben kör­per­li­chen Torturen auch eine fie­se Schauspiel-Lektion über sich erge­hen las­sen. Zum Schluss eröff­net er fast bei­läu­fig noch einen Diskurs über den Filz des Kunstbetriebs, sowie über die grund­sätz­li­che Frage: «Was ist freie Kunst?».

Leider gibt es als Begleitmaterial zur Produktion nur ein Faltblatt mit Definitionen eini­ger für das Stück rele­van­ter Begriffe. Ein etwas umfang­rei­che­res «Programmheft» wür­de vie­le Feinheiten ver­deut­li­chen und Intentionen der Künstler schon beim ersten Vorstellungsbesuch offen­le­gen. Man kann sich das Stück aller­dings gut und ger­ne auch zwei­mal anschau­en.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo