Verjüngungskur

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«Who are you?», fragt bedäch­tig die blaue Raupe mit den rosa Händchen und bläst dazu Buchstaben aus ihrem Mund. Ein tie­fer Zug aus der Pfeife und die bun­ten Rauchgebilde O, R, U zer­puf­fen an Alice’s Gesicht. Sie hustet.

Eine ein­fa­che Frage könn­te man mei­nen. Doch die klei­ne Alice ist sich gar nicht mehr sicher, wer und wo sie ist. Während ihrer Reise ins Wunderland schrumpft das Mädchen mehr­mals, wächst wie­der und trifft abson­der­li­che Gestalten, wel­che die ihr bekann­ten Logiken aus­he­beln und neu defi­nie­ren. Kein Wunder ist sich das Kind über sei­ne eige­ne Identität nicht mehr im Klaren. Eine befrie­di­gen­de Antwort erhält die Raupe dem­nach kei­ne.

Wir befin­den uns mit­ten in der Wunderwelt von Alice, dem Mädchen, das sich nach einer Umgebung ohne Regeln sehnt und sich in einer Welt wie­der­fin­det, in der 364 Tage lang Nicht-Geburtstag gefei­ert wird, in der Katzen grin­sen und Hutmacher mit der Zeit spre­chen kön­nen.

Der Erfinder die­ser ver­que­ren, ver­dreh­ten Welt heisst Charles Lutwidge Dodgson, Mathematikdozent aus Oxford, bes­ser bekannt unter sei­nem Pseudonym Lewis Carroll. Ihm wid­met die Ausstellung «Nonsense – Spielarten einer merk­wür­di­gen Literaturgattung» einen eige­nen Raum, durch wel­chen man sich, pas­send zu sei­nem berühm­te­sten Werk, über einen Schachbrettboden bewegt und des­sen Wände mit Spiegeln ver­klei­det sind.

Räume vol­ler Entdeckungen

Die Ausstellung im Museum Strauhof wid­met sich in sechs Räumen auf zwei Etagen ver­schie­de­nen Autoren der Literaturgattung «Nonsense». Der Name der sehr weit und teil­wei­se dif­fus gefass­ten lite­ra­ri­schen Strömung, stammt von Edward Lear, sei­nes Zeichens Tiermaler und Verfasser des «Book of Nonsense». Er kann zusam­men mit Carroll als Begründer die­ser neu­en Art, mit Sprache umzu­ge­hen, gel­ten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts schu­fen sie Welten, in denen die Realität plötz­lich nicht mehr so funk­tio­nier­te, wie man sie kann­te. Durch eine gros­se Portion Fantasie, durch Worte und Zeichnungen ent­ste­hen neue Wirklichkeiten. Ursprünglich als Kinderbücher kon­zi­piert, hal­ten die Geschichten auch für Erwachsene viel Denkstoff parat.

Die Ausstellung ori­en­tiert sich an den wich­tig­sten Vertretern der Nonsense-Literatur und wid­met ihnen je einen Raum. Edward Lear wird in einem dunk­len Zimmer vor­ge­stellt, in wel­chem man Limericks aus sei­nem «Book of Nonsense» lesen und betrach­ten kann. Kritisch, wit­zig, anar­chi­stisch – star­ke Zeilen, eben auch für Erwachsene. In der Retrospektive erscheint es als ein klu­ger Schachzug, die­se absur­den Gedichte über die idio­ti­schen Taten Erwachsener als harm­lo­ses Kinderbuch zu ver­kau­fen – in einer Zeit, in wel­cher es im stren­gen, vik­to­ria­ni­schen England nicht viel zu lachen gab.

Im sel­ben Raum ste­hen Hocker, auf wel­chen Kinderbücher lie­gen. Wie in jedem Raum der Ausstellung kann man rund­her­um viel Neues hören, drücken oder anschau­en. Denn Nonsense funk­tio­niert am besten in Kombinationen und mit Kompositionen aus Text, Bild und Ton. Das geht so: Durch Kopfhörer ver­schie­de­ner Audiostationen liest der schot­ti­sche Schauspieler Graham Valentine Texte auf Englisch und Deutsch. Der Schweizer Komponist Markus Schönholzer hat eigens für die ver­schie­de­nen Schwerpunkte der Ausstellung fünf neue Kompositionen geschaf­fen. So setzt man sich mal hier und mal dort hin, schaut mal hin­ten mal vor­ne um die Ecke, liest spie­gel­ver­kehrt, hört Lieder und Geschichten und schmun­zelt. Die sanft beleuch­te­ten Räume, aus­ge­stat­tet mit bun­ten Röhren zum Draufsitzen und Reinschauen wecken den Spieltrieb. Man fühlt sich wohl und mun­ter, wie frü­her im eige­nen Kinderzimmer. Und man will nicht auf­hö­ren, immer neue Arten von Tieren oder Pflanzen ken­nen­zu­ler­nen, von der gackel­dott­ri­gen Fetthenne über krebs­ro­te Zwicknesseln bis zum durch­wach­se­nen Stiefelklee.

Diese Freude der Autoren an absur­den Kombinationen und unkon­ven­tio­nel­len Ordnungssystemen zeigt sich im allen Räumen der Ausstellung. Man begeg­net hier Nonsense-Botaniken und ‑Alphabeten, die eben­so krea­tiv wie amü­sant gezeich­net und beschrie­ben wer­den. So zum Beispiel der Ochsenspatz, die Kamelente, die Turtelunke, der Giraffenigel. Christian Morgenstern ersann die­se Fantasietiere und schrieb, ohne Carroll und Lear zu ken­nen, Ende des 19. Jahrhundert die «Galgenlieder».

Warum «sitzt das Wiesel auf einem Kiesel inmit­ten Bachgeriesel»? Auch auf die­se Frage hat Morgenstern eine ein­fa­che Antwort: «Das raf­fi­nier­te Tier» tat es näm­lich um des Reimes Willen. Er ver­weist im Gedicht «das ästhe­ti­sche Wiesel» auf die Künstlichkeit der Sprache. Sie ist nichts per se Natürliches son­dern künst­lich mit Bedeutung auf­ge­la­den. Er stellt unse­re Wahrnehmung und die Bedeutung der Welt in Frage, oft mit ein­fach­sten Mitteln und Reimen. Deshalb wird auch Morgenstern ein eige­ner Ausstellungsraum gewid­met.

Wie spielt man eine Gemüsesuppe?

Im gröss­ten Raum der Ausstellung wird ein Auszug aus dem Leben und Schaffen des Zürchers Kaspar Fischer gezeigt. Quer durch den Raum zieht sich eine hal­bier­te Röhre, auf der Schnittkante klebt die Zeichnungsreihe «Metamorphosen I». Der Schauspieler, Autor und Zeichner skiz­ziert aus einem Mann ein Kamel, lässt die­ses zu einem Baum wach­sen und zu Zwergen schrump­fen, um am Ende und nach etwa sie­ben Metern die­ser «Metamorphose» wie­der beim sel­ben Mann zu enden: Präzise gezeich­ne­te Tuschezeichnungen mit Verwandlungen, die nicht zufäl­lig son­dern abso­lut über­zeu­gend wir­ken. Der Bogen zu Alice’s kon­ti­nu­ier­li­cher Metamorphose im Wunderland ist damit geschla­gen. Auch hier wackeln Identitäten, zer­fal­len vor­ge­ge­be­ne Formen zu Neuem.

In einer Ecke kann man sich einen Film anse­hen. In die­sem ver­kör­pert Fischer auf gro­tes­ke Art pan­to­mi­misch und laut­ma­le­risch ver­schie­de­ne Zutaten einer Gemüsesuppe. Er ent­wickel­te eine neue, eigent­lich undenk­ba­re Art des Theaters, in wel­cher auch Gefühle, Gegenstände, ja sogar Gerüche dar­ge­stellt wer­den konn­ten.
Das ist es wohl, was die Faszination von Nonsense aus­macht. Dass das, was unmög­lich und unlo­gisch scheint, hier gedacht und umge­setzt wird. Dass Dinge kom­bi­niert wer­den, die eine ande­re Welt neben der real exi­stie­ren­den ent­ste­hen las­sen.

Die Ausstellung eröff­net ein brei­tes Spektrum sol­cher (un)möglichen Welten. Alle Sinne wer­den gefor­dert, die Fantasie ange­regt. Denn es wird nicht eine Interpretation vor­ge­ge­ben, son­dern es wer­den – ganz im Sinne der Nonsense-Autoren – diver­se Möglichkeiten von Interpretationen auf­ge­zeigt. Die Entdeckungsreise, wel­che im 19. Jahrhundert beginnt, endet in der Gegenwart bei Kaspar Fischer. «Spielarten einer merk­wür­di­gen Literaturgattung» lau­tet der Untertitel der Ausstellung. Passender ist das nicht aus­zu­drücken: Bespielt wur­den ver­schie­de­ne Medien, zum Spielen ein­ge­la­den ist der Besucher. Man betrach­tet Zeichnungen, liest Gedichte und hört Geschichten – und zwar merk-wür­di­ge.

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