Über magi­sche Pillen und ihre Nebenwirkungen

Von

|

Drucken Drucken

Von Dr. Regula Stämpfli - Perfekt zur Bikinifigur im Sommer rezen­siert unse­re Essayistin Bücher zur Schönheits- und Diätindustrie. Ganz weit oben steht das neue Buch des bri­tisch-schwei­ze­ri­schen Autors Johann Hari über Ozempic – die Wunderpille gegen über­flüs­si­ge Kilos.

Es liegt eine Woche Pasta mit Ketchup und Mayonnaise hin­ter mir. Ich hat­te eine schwe­re Zeit. Andere grei­fen zur Flasche, Kluge medi­tie­ren mehr und las­sen ihre Gefühle zu. Das tue ich alles auch, vor allem medi­tie­ren, aber ganz ehr­lich? Comfort-Food ist immer noch der effi­zi­en­te­ste Tröster. Nichts Süsses, sonst sähe ich aus wie Obelix in sei­nen Wildschweinjahren: Pasta reicht. Am lieb­sten schon zum Frühstück in der oben genann­ten Unterschichts-Pervers-Version oder als Sahnepamp mit viel kost­ba­rem Parmesan und köst­li­chem schwar­zem Pfeffer. Meine Freundinnen kot­zen sich meist durch die­se Phasen, was ich aber eine schreck­li­che Verschwendung und, unter uns gesagt, sehr unap­pe­tit­lich fin­de. Vor gefühlt hun­dert Jahren schrieb Susie Orbach, die Psychotherapeutin u. a. von Lady Diana, ihr Buch «Fat Is a Feminist Issue» (auf Deutsch: «Das Antidiätbuch») und ich «Die Vermessung der Frau». Zehn Jahre vor­her war es Naomi Wolfs «Mythos Schönheit». Wolf, Orbach und ich ersau­fen als Klassikerinnen im Wust von aktu­el­len Insta-Accounts, Tausenden von Diätbüchern, sozio­lo­gi­schen Studien, Körperwahrnehmungen und ‑bil­dern. Nichts hilft: Mädchen ver­ach­ten ihren Körper wei­ter­hin. Neu erhof­fen sich vie­le Erlösung in der soge­nann­ten Geschlechtsanpassung, die von einer Handvoll mäch­ti­ger Pharma- und Transaktivisten pro­pa­giert wird. Denn nichts passt bes­ser in unser «Zeitalter digi­ta­ler Reproduktion» als die Auflösung der Wirklichkeit zugun­sten von codier­ten Sprechakten. Die Utopie von Silicon Valley baut auf selbst­lau­fen­den auto­ma­ti­schen Maschinen, die ihre Energie aus Lebenden schöp­fen. Der Mensch als aus­ge­klü­gel­tes Kreditpunktesystem. Meine übli­chen Themen halt, doch zurück zur Diät-Wunderdroge.

In den USA sind über 40 Prozent aller Erwachsenen «obe­se», also fett. Im Fachjargon heisst das Adipositas, die latei­ni­sche Version von «fett» – klingt ein­fach bes­ser. Im Westen ster­ben heut­zu­ta­ge zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen an den Folgen von ÜBERernährung als von UNTERernährung. Dies wären grund­sätz­lich nicht die schlech­te­sten Nachrichten, bestün­de das, was wir hier «Ernährung» nen­nen, nicht aus Stroh, Styropor, Seitan, Sojaproteinen, Glukose, Palmöl, Verdickungs- und Bindemitteln, grund­sätz­lich Stärke, Lebensmittelfarbe, Konservierungsstoffen wie Zitronensäure, Calciumcitrat, Kaliumsorbat und diver­sen E‑Zugaben. Ohne Scheiss: Dies sind die meist­ver­wen­de­ten Inhaltsstoffe der Lebensmittelindustrie. Wir fres­sen in den Cookies also Styropor mit Geschmacksmitteln, um es ganz böse zu ver­kür­zen.

Wir Lebewesen des Westens wur­den durch der­ar­ti­ges Food in der kur­zen Zeitspanne von nur 50 Jahren zu Fettbergen bestehend aus Müll, Pharma, Fett und Zucker. Wer Strandbilder aus den 1970er-Jahren fin­det, sieht kei­ne wab­beln­den Fleischmassen, son­dern nor­mal gebau­te Menschen. Doch dann setz­te der Siegeszug der Müllfabrikation, Pardon, der ver­ar­bei­te­ten Lebensmittel ein: Fast Food, Junk-Food, Essen im Stehen, Frittiertes und Gezuckertes in Serien, Pop, Werbung und in Schulkantinen. Dies lässt nicht nur Kilos anset­zen, son­dern, hier eine erste Einsicht aus Johann Haris Buch, ver­än­dert auch unse­re Gehirne.
Konsumieren unse­re sechs­jäh­ri­gen Kids bspw. Donuts, Burgers und Hotdogs, Fischstäbchen und Chips aus der Tüte, ver­än­dert sich ihr Gehirn mas­siv. Es wird mit einem Meer von Dopamin geflu­tet, uner­mess­li­che Glücksgefühle und Gier nach mehr stel­len sich ein. Je mehr kalo­rien­rei­cher Lebensmittelmüll, desto mehr Dopamin. Ratten wur­den zahl­rei­chen Versuchen aus­ge­setzt, die armen Tiere! Sie krieg­ten in einer ersten Runde ganz nor­ma­les Essen im Käfig mit Artgenossinnen und Spielzeugen. Obst, Gemüse, Fleischreste, Nüsse, Insekten, Fisch, Beeren und Ähnliches stan­den auf dem Speiseplan. Diese Ratten gedie­hen, waren schlank und rank, lustig, sexy und spiel­ten ver­gnügt im Käfig. Werden die­sen Happy Rats indes­sen Cheese-Cake, Pizza, Burgers, Donuts, Cookies, French Fries und vor allem Kentucky Fried Chicken vor­ge­setzt, fal­len sie über­ein­an­der her und fres­sen sich sprich­wört­lich zu Tode. Selbst wenn man ihnen den Junk wie­der weg­nimmt und ihnen das vor­he­ri­ge Glücksessen ser­viert – sie essen nichts mehr davon. Sie essen erst dann wie­der, wenn sie wirk­lich kurz vor dem Hungertod ste­hen.

Nach einer Woche Trauerpasta mit Ketchup und Mayonnaise ist mir glück­li­cher­wei­se dann so schlecht, dass ich wie­der zu den nor­ma­len Menschen stos­sen kann und mona­te­lang kei­ne Teigwaren mehr sehen will. Denn zum Glück vari­ie­re ich mei­nen Pasta-Junk nicht, son­dern blei­be beim sel­ben Rezept. Dies ist fet­ten Kindern nicht mög­lich. Sie wer­den von besorg­ten Eltern, schreck­li­chem Mensafood, stän­di­gen Frittiert-Fett-Zucker-Bomben unun­ter­bro­chen mit Ess-Heroin geflu­tet. Wer kei­ne Kinder hat, kann nicht begrei­fen, wie Eltern ihren Kids dies antun kön­nen. Dabei gibt es als Mutter nichts Anstrengenderes, als stän­dig Nein zu sagen. Bequemlichkeit ist die gröss­te Verräterin, und ich begrei­fe jede Mutter, jeden Vater, die, völ­lig erschöpft, den Kids Handy und/oder Junk-Food rei­chen. Das rie­si­ge Problem ist: Sowohl Handy als auch Junk-Food ver­gif­ten das kind­li­che Hirn, und die Modekrankheiten wie ADHS und Diabetes ste­hen so qua­si schon vor der Tür.

Die Belohnung von Junk-News (Handy) und Junk-Food ist Suchtmittel pur: Kokain und Nikotin wir­ken aufs Gehirn ähn­lich wie eine Tüte Kentucky Fried Chicken. Millionen Menschen ver­fet­ten, im Westen hat schon jede vier­te Person Übergewicht mit ent­spre­chen­den gesund­heit­li­chen Folgeschäden, von den psy­chi­schen durch Ausgrenzung, Selbsthass und Körperobsessionen ganz zu schwei­gen.

Und jetzt kommt Johann Hari und erzählt uns von Ozempic: die­ser Spritze, wöchent­lich und lebens­läng­lich ein­zu­neh­men, die Pfunde schmel­zen lässt und die Lust auf Belohnung durch Food (und even­tu­ell ande­re Lüste wie Sex, Berufung, Lebensfreude) effi­zi­ent bremst. Einmal Spritze und Bauch weg – wie geil ist denn das? Johann Hari ist ein bril­lan­ter Erzähler. Sein erster Bestseller «Drogen. Die Geschichte eines lan­gen Krieges» hat der Liberalisierung der Drogenpolitik einen enor­men Aufschwung gege­ben. Hari ent­larv­te dar­in, was Alkohol- und Drogensucht in Wirklichkeit sind: das Scheitern von Menschen in ihrem sozia­len Gefüge, die Verwahrlosung durch Einsamkeit sowie die phar­ma­ko­lo­gisch indu­zier­te Hemmschwelle, die Süchtige alles ver­ra­ten und ver­let­zen lässt, was ihnen einst lieb war. «Eine iso­lier­te Ratte wird fast immer zum Junkie. Eine Ratte mit einem guten Leben dage­gen wird nie zum Junkie, egal wie viel Drogen man ihr hin­stellt.» Zum inter­na­tio­na­len Frauentag gab es den Post, dass, wenn Frauen ihren Körper lie­ben wür­den, die gesam­te kapi­ta­li­sti­sche Wirtschaft über Nacht ein­bre­chen wür­de. Sucht ist nicht ein­fach Biologie oder Krankheit, son­dern über­tüncht Gefühle. Deshalb beschäf­tig­te sich Johann Hari dann in einem wei­te­ren Buch mit dem Handy, der modern­sten Techdroge über­haupt, und mit digi­ta­lem Entgiften. Der Psychiater Jonathan Haidt sekun­dier­te Haris Bestseller mit dem auch heu­er erschie­ne­nen Buch «The Anxious Generation. How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness» Hari und Haidt zei­gen, wie digi­ta­le Plattformen uns Menschen mit Depression, Angstattacken, Paranoia, Selbstverletzung bis zum Suizid fül­len. Unter Teenagern gibt es eine Pandemie men­ta­ler Instabilität, indu­ziert von Techdrogen und Junk-Food. Könnte da der Grund lie­gen, wes­halb so vie­le durch­ge­knall­te Studis im Westen mit Hamas-Plakaten und der Heroisierung von Selbstmordattentätern und Judenhass skan­die­rend unse­re Universitäten blockie­ren? Dieselben Studis übri­gens, die, wenn man sie «fett» genannt hat, wegen «Aggression» eine Woche krank­ge­schrie­ben wer­den? Sind sie ein­fach die armen Kinder, pro­gram­miert durch Handy und ver­gif­tet von Junk-Food, die ihre Urteilskraft blockie­ren?
Im Ernst: Wer sich mit Körper, Diäten, Lebensmittelindustrie, Sucht und digi­ta­ler Überschwemmung jugend­li­cher Gehirne aus­ein­an­der­setzt, ist eigent­lich erstaunt, dass nicht noch viel Wahnsinnigeres pas­siert als eh schon.

Was also tun? Die Multimilliarden-Lebensmittelindustrie muss regu­liert wer­den. «Clean Eating» wird Standard, alle ver­ar­bei­te­ten Lebensmittel krie­gen Strafsteuern. Noch ein Vorschlag in der Kürze: Wir legen ja auch kei­ne Heroinpillen an der Kasse für unse­re Kleinen aus – war­um also all die Körper, Geist und Seele zer­stö­ren­den Glukose‑, Fett‑, Salz- und Zuckerprodukte flä­chen­deckend pro­pa­gie­ren? «We can do what we did with smo­king to get out of this stu­pid trap that we should never have got into in the first place», meint Johann Hari. Unterschichts-kin­der haben im 21. Jh. kei­ne Ahnung davon, dass sie als phar­ma­ko­lo­gi­sche Müllablage für ver­ar­bei­te­te Lebensmittel hin­hal­ten müs­sen – wie wär’s, wenn Medien mal dar­über berich­ten wür­den?

Doch statt unse­re Politik zu ver­än­dern, ändern wir die Sprache, reden von «Body-Positivity» oder erfin­den eben neue Abnehm-Wunderdrogen. Ozempic heisst die «Magic Pill» und stammt aus der Diabetes-Forschung, Semaglutid kommt in einem gei­len Füller-Design daher, wird ein­mal wöchent­lich gespritzt; wie genau der Stoff wirkt, ist selbst den Herstellern nicht klar. Nebenwirkungen kön­nen Durchfall, Erbrechen, Übelkeit sein, auch Depressionen sind doku­men­tiert wor­den. Johann Hari zitiert Forschende, die mei­nen, Ozempic wir­ke nicht im Magen wie ursprüng­lich ange­nom­men, son­dern vor allem im Gehirn, doch das WIE sei unbe­kannt. In den näch­sten zehn Jahren soll die Droge allen über­ge­wich­ti­gen Kindern auf Kosten der Krankenkasse ver­ab­reicht wer­den. Diesen Kids wer­den also die näch­sten 80 Jahre ihres Lebens ein­mal wöchent­lich eine Spritze – in den USA kostet sie noch 1000 Dollar, in Grossbritannien nur 250 Dollar – ver­ab­reicht krie­gen, damit sie ihr Gewicht hal­ten. Dies wür­de die Welt ver­än­dern: Ozempic lässt näm­lich die Pfunde unter ande­rem des­halb schwin­den, weil die Menschen kei­ne Sucht mehr ver­spü­ren: Das Essen schmeckt ihnen nicht mehr wirk­lich, resp. sie haben nach zwei Bissen genug. Nicht nur das: Die Menschen sind grund­sätz­lich satt, das heisst, sie wol­len und brau­chen nichts mehr. Kein Essen, kei­nen Alkohol, kei­ne Karriere, kei­nen Sex, kei­ne Drogen, sie sind ein­fach rank und schlank und schön anzu­se­hen, sind leicht und machen dadurch viel mehr Sport.

Johann Hari ist dies pas­siert. Aber bis heu­te hat­te er Glück. Denn zum ersten Mal in sei­nem Leben ist er leicht, und ihm schmeckt das weni­ge Essen im Vergleich zu sei­nen Fettattacken im Kentucky-Fried-Laden sehr. Johann Hari geht leich­ter durchs Leben, weil er eine ganz simp­le Rechenaufgabe gelöst hat. Als schwer über­ge­wich­ti­ger Mann mit Junk-Food-Sucht sind sei­ne gesund­heit­li­chen Risiken schwer­wie­gen­der als die Risiken von Ozempic, das von Millionen von Diabetikerinnen und Diabetikern in den letz­ten zwan­zig Jahren ein­ge­nom­men wur­de. Klingt ver­füh­re­risch, nicht wahr?

Deshalb ist «Magic Pill» so ambi­va­lent. Denn einer­seits weiss man instink­tiv, dass es absurd ist, Pharma ein­zu­neh­men, statt die ver­damm­te Lebensmittelpolitik zu ver­än­dern. Andererseits kriegt jeder Mensch mit 50 Kilo Übergewicht oder auch nur 20 Kilo ein völ­lig neu­es Lebensgefühl durch das Leichterwerden. «Ozempic and the drugs that fol­low repre­sent a moment of mad­ness. We build a food system that poi­sons us and then to keep us away from the ava­lan­che of bad food, we deci­ded to inject our­sel­ves with a dif­fe­rent poten­ti­al poi­son, one that puts us off all food.» Ein ver­gif­te­tes Food-System wird durch ein Gift bekämpft, das uns vor dem Gift-Food fern­hält – echt cra­zy.

Wie gesagt: Johann Hari ist seit sei­ner Ozempic-Kur von sei­ner Fettsucht geheilt – ich gebe zu: Die Vorstellung, mit­tels Spritze mal schnell zehn und mehr Kilos abzu­neh­men, ist ver­füh­re­risch. Doch wer wür­de ich wer­den, wenn mei­ne Pasta-Wochen mit Mayonnaise und Ketchup feh­len wür­den? Wohin mit mei­nen Gefühlen? Und will ich wirk­lich all das nicht mehr schmecken, füh­len, essen? Für was eigent­lich? Damit ich gut aus­se­hend durch die Berge wan­de­re, ohne Kaiserschmarrn in der Berghütte? Oder in Paris nach dem Sex kein Frühstück mit Croissant, Erdbeeren und Champagner mehr schmeckt? Wer garan­tiert uns denn, dass Ozempic uns nur die Lust aufs Essen, und nicht gleich auf alles, was lebens­wert ist, nimmt? So wie der Industrie-Food unse­re Lust mit Inhaltsstoffen mani­pu­liert hat, die uns nun krank, fett und letzt­lich depres­siv machen?

Johann Hari: Magic Pill. The Extraordinary Benefits and Disturbing Risks of the New Weight Loss Drugs. 2024.
Weitere erwähn­te Bücher:

  • Naomi Wolf: The Beauty Myth. Vintage Classic 2015.
  • Susie Orbach: Fat Is a Feminist Issue. The Original Anti-Diet-Book. Neu auf­ge­legt 2006.
  • Regula Stämpfli: Die Vermessung der Frau. Von Botox, Hormonen und ande­rem Irrsinn. Gütersloh 2013. Bei der Autorin unter pollitphilozoffin@gmail.com zu bestel­len.
  • Regula Stämpfli: Lieber ich als per­fekt. Warum Denken schön macht und wie ich authen­tisch lebe. Südwest 2014.
  • Jonathan Haidt: The Anxious Generation. How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness. 2024.

 

 

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo