Steps# 12

Von

|

Drucken Drucken

Von Kristina Soldati – Das wohl attrak­tiv­ste Tanzfestival der Schweiz fin­det alle zwei
Jahre statt. ensuite berich­tet über fünf Veranstaltungen: Die Schweizer kön­nen stolz sein auf ihr Migros-Kulturprozent, denn es ist wohl welt­weit ein­zig­ar­tig, was der Unternehmer Gottlieb Duttweiler im Jahr 1957 ins Leben rief. Einmalig des­halb, weil die sozia­le und kul­tu­rel­le Wohltätigkeit in den Unternehmensstatuten steht. Automatisch, ohne argu­men­tie­ren zu müs­sen, geht Jahr für Jahr ein Prozent des Umsatzes des Grossunternehmens an die Gemeinschaft, unser Gemeinwohl: unse­re Kultur, Bildung, Freizeit und wirt­schaft­po­li­ti­sche Fragen. Duttweiler war nicht Pionier heu­ti­ger Prestige-Events oder PR-Promotion. Duttweiler war schlicht got­tes­fürch­tig. Die Verantwortung für den Schwächeren folg­te dar­aus. Weil das Prozent umsatz- und nicht gewin­n­ab­hän­gig ist, kom­men wir auch in Krisenzeiten zu einem unge­schmä­lert attrak­ti­ven Programm-ange­bot. Das Schweizer Tanz-Festival Steps gibt es zwei­jähr­lich seit 1988. Im Geiste des Migros-Kulturprozents ver­sucht es zum Wohle der Gemeinschaft, die gesam­te Schweiz zu errei­chen. Es bespiel­te die­ses Jahr 29 Städte drei Wochen lang mit zwölf Companien. Mit Erfolg, denn gut die Hälfte der Veranstaltungen war aus­ver­kauft.

1. Aus den Flughafenhallen zum Symposium Ein ganz wert­vol­ler Beitrag des Festivals ist jeweils das Symposium. Sein Sinn? Die erle­se­nen, meist aus­län­di­schen Gäste des Festivals, die durch das gesam­te Land gelotst wer­den, soll­ten sich nicht nur in den Flughafenvorhallen tref­fen, meint Hedy Garber, Leiterin der Direktion Kultur und Soziales des Migros Genossenschaftsbundes. Nein, sie soll­ten ein­be­zo­gen wer­den in inhalt­li­che Debatten. Zwei Drittel der Companieleiter von Steps #12 war auch zur Stelle, die­ses Jahr in den Vidmarhallen von Bern. Migros wünscht, aktiv Akzente in der Schweizer Kulturlandschaft zu set­zen. Dass Migros för­dert und organ­siert, das wis­sen wir, aber mit sol­chen the­ma­tisch gefass­ten Festivals und Symposien «inve­stiert sie in Inhalte».

«Geld!» Und was ist der Inhalt die­ses Jahr? Zum ersten Mal soll­te der Tanzmacher (Heinz Spoerlis Begriff) im Mittelpunkt eines Symposiums ste­hen, sein künst­le­ri­scher, aber auch exi­sten­ti­el­ler Werdegang. «Kreativität und Karriere in der Choreografie» war der Titel. Neben den doch weni­gen Schweizer Choreografen und natür­lich Tänzern, waren Veranstalter, Förderer und Medienschaffende gela­den. Die Presse glänz­te durch Abwesenheit. Das visu­el­le Medium art-tv wird aber auf sei­ne Kosten gekom­men sein, als er Hans van Manen ins Visier nahm. Der Star der Geladenen war augen­schein­lich in Höchstform. Humorvoll schil­der­te er, wie er zum Beruf kam. Wie er als Maskenbildner in die Tanzproben lug­te – und bald für jemand ein­sprin­gen soll­te… Was wün­sche Hans van Manen für den Tanz von heu­te? Der Rat eines der erfolg­reich­sten Choreografen adres­siert an den heu­ti­gen Tanz könn­te für die Anwesenden und jun­gen Choreografen unschätz­bar sein. Doch auf die Frage ertön­te es schlicht: «Geld!»

Dieser beschwö­ren­de Ruf wur­de nach Manen-Manier aber sogleich humor­voll umge­wan­delt: «Wenn man den Tanz gerahmt an die Wand hän­gen könn­te, säs­sen lau­ter Millionäre hier…»

Gelehrsam und mit Goethe-Zitaten gespickt spra­chen «Kreativitätsforscher» und Kunsthochschulrektoren von Kreativität und sei­nen Durststrecken. Ob den Betroffenen das von der Kanzel Gesagte hilft oder sie nur ver­stimmt, blei­be offen. Die Definition von Kreativität als Neukombination von Information im Wechselspiel von Konvergenz und Divergenz mag zwar bio­lo­gi­sche, psy­cho­lo­gi­sche und psych­ia­tri­sche Erfahrungen auf einen gemein­sa­men Nenner zu brin­gen. Sie trifft auf Zellen nicht min­der zu wie auf Choreografen -, und hilft in der Not kei­nen Schritt wei­ter. So wenig wie die müs­si­gen Worte zur Sorge um den Nachruhm. Dies ist die ein­zi­ge Sorge, die die eph­eme­re Kunst nicht plagt.

Repertoirpflege als Chance Eine Rednerin vom Fach, Karin Hermes, kon­sta­tier­te – zwar in ande­ren Worten – wie der Tanz von heu­te rechts und links klaut. Für die Postmoderne der mobil­sten aller Künste, des Tanzes, ist das durch­aus legi­tim, doch bes­ser wäre es, wenn man auch noch wüss­te, was man klaut. So plä­dier­te die Tanzrekonstrukteurin (sie holt nota­ti­on­ge­nau Tänze aus der Vergessenheit) und Choreografin für die Kenntnis aller Stilfrüchte, die auf dem Markt feil­ge­bo­ten wer­den – und für deren Fairetrade. Damit aber die Früchte, noch bevor sie gene­tisch ver­än­dert (oder geklaut) wer­den, geko­stet und ihren Namen in die Welt tra­gen kön­nen, bedür­fen sie der Märkte. Dafür brau­chen, wenig­stens die Früchte der Stilprägendsten, einen wie­der­keh­ren­den Stand, an dem sie immer wie­der als «Repertoir» her­vor­ge­holt und auf­ge­tischt wer­den kön­nen. Wir Konsumenten könn­ten so auf den Geschmack kom­men und sie unter­schei­den ler­nen, bevor sie wei­ter zube­rei­tet wer­den.

Intensive Tischgespräche Wertvoll ist die inte­grie­ren­de Idee der Tischgespräche, eine Rarität in der Tanzszene. Da Förderer und Veranstalter so zahl­reich zur Stelle waren wie die Künstler selbst, ent­stand ein sehr inten­si­ver, zutiefst pro­fes­sio­nel­ler und erfah­rungs­ge­la­de­ner Austausch. Träumte jemand, z.B. gegen­über Sidi Larbi Cherkaoui sit­zen zu dür­fen? Dem Belgier Fragen zu sei­nen künst­le­ri­schen (Um)Wegen zu stel­len? Das Symposium bot an diver­sen mode­rier­ten Tischrunden mit den Companieleitern des Festivals dazu Gelegenheit.

Anerkennung, so ward an die­sem Tag wis­sen­schaft­lich dar­ge­legt, ist ein fester Pfeiler der Kreativität. Nämlich für ihre Motivation. Doch woher neh­men? Die bel­gi­sche Tanzförderung ist welt­weit vor­bild­lich. Der Schweizer Choreograf der frei­en Szene bet­telt (abend­fül­len­de!) pro­jekt­wei­se um Geld, wird kaum ange­kün­digt oder bespro­chen (die Schweizer Presse ist im Abbau und fusio­niert) und Fachblätter gibt es kei­ne mehr (die letz­ten drei gin­gen die ver­gan­ge­nen zehn Jahre ein). Was zuneh­mend den Ton angibt, ist die PR der Veranstalter und ihr Geschmack…

Wie gut tut da so ein Symposium, das wie­der alle um den Tisch sam­melt!

2. «Beautiful Me», ein Stück mit afri­ka­ni­scher Leuchtkraft Steps stellt die­ses Jahr sei­ne Tanzstücke the­ma­tisch unter den Stern stil­prä­gen­der Choreografenschicksale. Und da leuch­tet Gregory Maqomas Stück bunt und hell. Es grenzt an ein fei­er­li­ches Wunder, dem wir bei­woh­nen dür­fen, wenn Maqoma sich am eige­nen Schopf aus dem Sumpf des Townships Soweto gezo­gen ein so posi­ti­ves und sug­ge­sti­ves Werk schafft wie «Beautiful Me». Wie er in der Kindheit sei­nen Namen buch­sta­bie­ren lernt (Gregory ist ein Zungenbrecher für die Xhosa, dem Volk, dem Nelson Mandela und Desmond Tutu ange­hö­ren), hun­dert­mal, lernt er auch die Liste der Namen, die in sei­nem Land (trau­ri­ge) Geschichte schrie­ben. Doch er sucht nicht Rache noch Spuren sei­ner Ahnen, son­dern ver­spiel­ten Dialog. Die Spuren quel­len ihm ohne­hin aus den Gliedern: Bevor er sich ver­sieht und eine aus­ho­len­de Spirale uns auf­fä­chert, ward schon die Erde ange­stampft und ihrem Geist die Kraft ent­lie­hen. Die Spirale selbst ist ein Geschenk des Inders Akram Khan, einem Schicksalsgenossen und gefei­er­ten Choreografen in London. Auch er lern­te die Kunst der Ahnen, den von den bri­ti­schen Kolonialherren ver­pön­ten klas­si­schen Tanz Kathak. Auch er fand zu einer frucht­ba­ren Auseinandersetzung im Tanz von heu­te. Gregory sog den Kathak sei­nes Freundes in sich auf wie begna­de­te Tänzer es tun: wie ein Schwamm. Wenn er mit einem wei­ten Rumpfkreisen die anver­trau­te Spirale in die Luft zeich­net, säu­men fein­glied­ri­ge Hindutanz-Finger die Shiva-fürch­ti­ge Pose. Doch dann folgt die Transformation: Greogorys Handflächen begin­nen zu schwir­ren und zu flat­tern, ein wei­sen­der Zeigefinger ver­lässt das indi­sche Symbolgebilde erzäh­len­der Geste, um auf die eige­ne Stirn zu pochen (in Kathak ist Eigenberührung tabu), und auf die Brust, sie als Büsser nach dem Gewissen abzu­klop­fen. Die Beine beben, doch sie fol­gen, mit­ge­ris­sen, dem wei­sen­den Finger, der ihnen den fer­nen Horizont deu­tet. In weni­gen Minuten ist eine Geschichte erzählt, die Kontinente und ihre Identitäten ver­knüpft. Die Musik tut es ohn­hin, denn das par­ti­tur­lo­se Zusammenspiel der vier Musiker auf der Bühne ver­bin­det die indi­sche Sitar, Violine, Cello und Schlaginstrumente.

Wen inter­es­siert, wo die zwei Minuten Material des Co-Choreografen Akram Khan stecken? Wen inter­es­sie­ren die vir­tuo­sen Verwandlungskünste, wenn Gregory von Vincent Mantsoe (einem wei­te­ren Mit-Choreografen) anver­trau­te Tierahmungen voll­bringt, stelzt wie ein Flamingo oder her­an­pirscht wie ein Tiger? Es ist der Dialog, der inter­es­siert, den er webt und pflegt, auch mit dem Zuschauer. Wir hel­fen ihm am Ende, sei­nen Namen zu buch­sta­bie­ren. Wiederholt. «Neunundneunzig», heisst’s, und ein stür­mi­scher Applaus bricht los.

3. Limón-Dance-Company José Limóns Werke leben fort. Seine fünf­zig­jäh­ri­ge Companie ist vita­ler denn je. Sie brach­te viel Schwung und Atem in das Festival Steps #12. Auf dem Programm stand neben Limóns Klassiker «A Moores Pavane», einem dich­ten cho­reo­gra­fi­schen Meisterwerk von 25 Minuten, sein bibli­sches Stück «There is a Time». Es ist ein pro­gram­ma­ti­scher Tanz zu Salomos bekann­ter Textstelle «Alles hat sei­ne Zeit». Doch neben dem nach­voll­zieh­ba­ren aus­drucks­star­ken Inhalt gilt für Schritt wie Schrift: die Form ist so spre­chend wie des Predigers Wort. In der Form liegt Programm. Schon Salomo wand die Weisheit in einen Reigen. Wie die gröss­ten Kontraste im Leben dicht an dicht ihren Platz haben, so rei­hen sie sich bei Salomo Vers an Vers. Weinen und Lachen rei­chen sich die Hand. Wen wundert’s, wenn die Kreisform José Limóns Stück «There is a Time» durch­webt? Sie ist am Anfang und Ende, ver­eint sinn­bild­lich die Kontraste und nimmt jeden ein­zel­nen auf. Die getanz­ten Lebensphasen glie­dern sich in ihr ein wie in den wie­der­keh­ren­den Zyklus der Natur der Mensch. Nach vie­lem hin und her, auf und ab mün­det bei Salomo das Ende der Reihung, der Hass und Krieg, in den Frieden. Bei Limón wiegt sich da ein Kreis von Menschen, ein­an­der zuge­wandt, und formt das ent­spre­chen­de Schlussbild.

Die Verwendung eines star­ken Sinnbilds allein ist noch nicht geni­al. Genial bei José ist, dass Kreise wie unmerk­li­che Kettenglieder die Choreografie durch­zie­hen. Es kreist der Oberkörper oder ein ima­gi­nä­res Gewicht rollt im Halbrund der Arme. Es krei­sen die Köpfe, die durch die Fliehkraft einer Drehung aus­schwin­gen. Wenn der Drehpunkt nicht in einem Körper liegt, son­dern in der Mitte vie­ler, etwa beim Reigen, so schweis­sen die Tänzer sich gegen die Fliehkraft zusam­men. Eine so anstecken­de Erscheinung, die beim Kreistanz zum Einreihen ein­lädt: fest am Nachbarn ver­an­kert ist solch kraft­vol­ler Schwung nur in Gemeinschaft zu erfah­ren und vor allem: wie­der ein­zu­fan­gen. Ein in Wogen aus­pen­deln­des Phänomen, das in der Aus-Zeit von Kreistänzen ein sel­te­ner Blickfang ist.

Die Limón-Dance-Company pflegt aber nicht nur das Erbe. Sie belebt auch die Geschichte, die um José her­um die Grossen präg­te. Beispielsweise mit Anna Sokolovs Stück aus dem Jahr 1955, das in Bern zu sehen war. Es macht uns das poli­tisch und gesell­schafts­kri­ti­sche Engagement des moder­nen Tanzes wie­der bewusst. Stilistisch eckt und schreit es, und kün­det vom (deut­schen) Ausdruckstanz. Und schliess­lich ver­mit­telt die Companie ihre jüng­sten Sprosse, wie in Zürich zu sehen war: eine flies­sen­de Choreografie des ehe­ma­li­gen Solisten Clay Taglioferro.

4. Hip Hop wird Kunst Was wünscht man sich mehr, als dass ein Durch-und-durch-Künstler wie Bruno Beltrao sich einem Sprachkodex wie dem Break Dance annimmt, noch bevor die­ser gänz­lich zur Attraktion ver­kommt? Bruno Beltrao lern­te den Kodex auf den Strassen der Vorstadt von Rio de Janeiro 1980. Mit 16 barst sei­ne Kreativität und er grün­de­te sei­ne eige­ne Companie. Mittlerweile setzt er den Break Dance dem cho­reo­gra­fi­schen Know-how von heu­te aus.

Das wird am Programmheft deut­lich, wo er gros­sen Wert auf den Einsatz von Raum legt. Dieser mag für den Break Dance der Hinterhöfe eine immense Errungenschaft sein, der Zuschauer nimmt ihn gelas­sen für ein Apriori. Doch Beltrao setzt damit Massstäbe: Nie wie­der wer­den wir durch­ge­hen las­sen, wenn Break-Dance-Figuren sich auf der Bühne in schä­bi­gen Formationen (womög­lich geo­me­tri­schen..) gesel­len. Wenn ehe­dem pro­vo­ka­ti­ve Einzelkämpfer beim Batteln zu gereih­ten Showdancern ver­kom­men. Dank sei also dem Helden der Kunst wie Beltrao, der neue (Raum)Wege sucht.

Atemberaubend ist ein Weg, den er sei­ne neun Tänzer flit­zen lässt. Man kennt ihn zwar, es ist die Manege, doch auf die Richtung kommts an: Rückwärts rasen die ath­le­ti­schen Körper ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Überholen gibt’s durch­aus. Doch beson­ders beein­druckend sind die Ausweichmanöver des Gegenverkehrs. Nein, sie schau­en nicht zurück. Auch nicht im Rückspiegel. Ihr blin­des Abgestimmtsein ist die Quintessenz des Abends. Hatten die Individuen von Anbeginn an Kommunikationsprobleme, gegen Ende läuft’s rei­bungs­los. Waren zu Beginn die Phrasen der Einzelnen mono­lo­gisch selbst im Duett, gegen Ende tan­zen neun gemein­sam. Hatten die Phrasen anfangs unab­seh­ba­re Schlusspunkte – ein Kopf, der statt einem i‑Tüpfelchen nur abknickt, eine Schulter die ver­krampft in die Höhe zuckt -, sind sie nach einer Stunde abge­run­det. Lief zu Beginn der Austausch über miss­glück­te Übersprunghandlungen, das zucken­de Handgelenk, das aus­büchst und am Hinterkopf des Nebenmann zur Ruhe kommt, krei­ste am Ende ein seli­ger Reigen. Auch wenn das vier­bei­ni­ge Kreiseln ohne anzu­ecken an die wort­lo­se Verständigung unse­rer lang­ar­mi­gen Vorfahren erin­nert…

5. Trilogieabschluss: Babel(words) Der gefei­er­te Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui hat unlängst in Brüssel das Abschlusswerk sei­ner Trilogie prä­sen­tiert: «Babel(words)». Das Tanzfestival STEPS hol­te es tau­frisch in die Schweiz. Die Trilogie han­delt mit huma­ni­sti­schem Anspruch von den Höhen und Tiefen mensch­li­cher sowie reli­giö­ser Beziehung. «Babel(words)» ist ein thea­tra­li­sches Werk, des­sen Eklektik wohl Programm ist.

Am Anfang war das Wort. So beginnt die Bibel. Am Anfang war die Geste, so beginnt dage­gen Cherkaouis «Babel». Die Geste ging dem Wort vor­an, heisst es da. Doch Geste und Wort, die das behaup­ten, sind syn­the­tisch wie eine Roboterstimme und die abge­nut­ze Zeichensprache einer Stewardess an Board. Wie aber mag die Geste ehe­dem unver­braucht gewe­sen sein?

Da ertö­nen Trommeln (der fünf gross­teils ori­en­ta­li­schen Musiker) und die bun­te Arbeitertruppe des Turms zu Babel hin­ter der Startlinie setzt ihre erste Geste: Sie mar­kiert ihr Gelände. Eine gute Elle bis zum Nachbarn, an den man stösst. Der wie­der­um reagiert und mar­kiert: sein Territorium, eine Elle. Und so fort. Kurzgefasste Drohgebärde reiht sich wie der Trommelschlag, zuneh­mend aggres­siv. Diagonal in den Lüften arre­tier­te Fusssohlen gren­zen ihren Raum ab und wan­deln rhyth­mi­siert sich zum Kampfsport ohne Berührung. Die Eigenräume über­schnei­den sich, eine Elle greift bis in die Kernzone des andern, die Glieder drin­gen ein wie Enklaven. Schon früh lernt der Mensch, wie man mit andern den sel­ben Raum teilt. Respektfordernd. Gewaltig.

Dann kommt die Neugier und Entdeckung des ande­ren. Die Entdeckung auch der Manipulation. Die syn­the­tisch wir­ken­de Stewardess-Figur, eine Überspitzung unse­res Schönheitsideals, ist näm­lich steu­er­bar. Gelenke und jed­we­de Auswölbung sind eine Klaviatur, an der sich genüss­lich zwei Asiaten bedie­nen. Ein Hebeln bewirkt den Knick im Ellbogen, ein Druck das Drehen des Halses. Die pas­sen­de neu­ro­wis­sen­schaft­li­che Rechtfertigung lie­fert uns wort­reich ein Intellektueller – doch lei­der hat er uns zuvor schon erfolg­reich die prak­ti­schen und meta­phy­si­schen Vorzüge des gigan­ti­schen Würfel-Designs (Bühnenbild: Antony Gormley) ver­kauft. Wir wer­den miss­trau­isch… Jede Geste des Redners sitzt, der Tonfall ist ein­stu­diert wie der abge­brüh­ter Vertreter. Auf des­sen Rhythmus echot das Ensemble syn­chron sei­ne Gebärde. Im Rhythmus fin­det jede Gebärde ein Gegenüber, an dem sie ange­hef­tet wird. Wie eine Brosche, oder eben – ein Manöver. Denn jeder Druck mani­pu­liert: Er knickt Ellbogen und dreht einen Hals. «Das Frontalhirn feu­ert die­sel­ben Neuronen, ob wir berührt wer­den oder ande­re berührt sehen. Was auf die Empathieleistung des Menschen hin­weist» säu­selt der Sprecher. Oder auf das Know-how sei­ner Manipulation. Einfühlung und Einwirkung gehen oft Hand in Hand wie Cherkaouis Paare es zei­gen: Ineinander ver­trackt und ver­zahnt han­tie­ren sie anein­an­der her­um, kein Mensch weiss mehr, wer steu­ert und wer reagiert. Eine Bewegungsmaschinerie mit vier Ellbogen und zwei Hälsen, Impulsgeber und ‑emp­fän­ger in einem. Faszinierend.

Als letz­tes, nach schwin­del­erre­gend gedreh­ten und getürm­ten Riesenwürfel auf der Bühne, erfasst eine sehr erde­ne Bewegung das Ensemble. Eva (Navala Chaudhari) ver­führ­te bereits Adam, schlan­gen­gleich wand sie sich an ihm hoch und run­ter, umschlang ihn mit den Beinen und zog ihn, den Erschöpften, schliess­lich zu Boden. Ein ful­mi­nan­ter erd­ver­haf­te­ter Tanz brei­tet sich da aus. Mit nack­tem Oberkörper ist die Eva-Figur mal Nymphe, mit glän­zen­der Haut dann wie­der Schlange. Sie bäumt und wölbt sich in alle erdenk­li­che Richtungen, sie schleu­dert die Extremitäten des einen Körperendes zum ande­ren, ein viel­sei­ti­ges Vorankommen (wüss­te man nur, wo das Ziel ist). Beugen und schwin­gen lässt es sich vor­züg­lich auch mit ande­ren, und so steckt sie im Nu die Meute um sie her­um an, alles kreucht und fleucht, über­sät den gesam­ten Boden. Der Atem ver­bin­det sie und schweisst die Bewegung zu einem Guss. Er macht die Energie hör­bar, wie sie in einer flies­sen­den Spirale im Überschwang die Körper immer wie­der hoch­schraubt und sich manns­hoch ent­lädt. Oder saugt der Atem samt hoch­flie­gen­der Arme an die­sen Wendepunkten dem Himmel Kraft ab, um sie im Kreis auf den Boden gewun­den zu erden? Eine Trance der Wiederholung zwi­schen den Gegensätzen. Ekstatisch.

Doch wie folgt eine Bewegungssprache aus der ande­ren? Wie löst die fas­zi­nie­ren­de die gewal­ti­ge ab, war­um folgt die eksta­ti­sche danach? Chronologie im Werk ist seit Cunningham & Cage als ein Zufallsspiel ent­larvt. Doch im Gegensatz zu jenen schürt Sidi Larbi Cherkakoui mit viel Symbolik unse­re Erwartung. Verknüpft sind die ver­schie­de­nen Bewegungssprachen ledig­lich durch Worte, die wohl­weiss­lich lose per­len kön­nen, nicht nur seit dem Fall von Babel. Wir fin­den kei­ne Stringenz in der Bewegungsdramaturgie, noch eine cho­reo­gra­fi­sche Handschrift (zumal zwei zusam­men­ar­bei­ten: Damien Jalet ist lang­jäh­ri­ger Co-Choreograf). Die sti­li­sti­sche Eklektik ist Merkmal der Choreografen-Garde, die wie Cherkaoui aus der Wiege der Companie C de la B stammt. Wir las­sen die Eklektik, spek­ta­ku­lär an die­sem Abend dar­ge­bo­ten, dem gefei­er­ten Wunderkind Sidi Larbi Cherkaoui des Themas zulie­be gern durch­ge­hen. Zur Sprachverwirrung paart sich Tanzvielfalt. Doch nach die­ser Trilogie war­ten wir auf eine Läuterung. Auch Genies, nicht nur ara­bi­sche, ver­tra­gen ein Fasten.

Das Festival Steps ist und bleibt einer der Höhepunkte im Tanzangebot der Schweiz, das durch­aus auch im Ausland als sol­cher wahr­ge­nom­men wird. Wir freu­en uns auf die näch­ste span­nen­de Ausgabe.

Der Ausblick auf eini­ge aus­ge­wähl­te Tanzevents für den Sommer lesen Sie auf
tanzkritik.net

Bild: Bruno Beltrão & Grupo de Rua, Brasilien / Foto: B. Beltrão
ensuite, Juni/Juli 2010

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo