Schaufeln und hof­fen

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Von Peter Schneider, bear­bei­tet von Sonja Wenger – Die Aktivisten der inter­na­tio­na­len Brigaden woll­ten Anfang der acht­zi­ger Jahre in Nicaragua bei der revo­lu­tio­nä­ren Umgestaltung der Gesellschaft mit­hel­fen und so die Lebensbedingungen der mar­gi­na­li­sier­ten Landbevölkerung ver­bes­sern. Einer von ihnen rei­ste 25 Jahre spä­ter wie­der in das Dorf, mit vie­len Fragen im Gepäck.

Wäre ich jemals nach Nicaragua zurück­ge­kehrt, wenn ich gewusst hät­te, was mich erwar­tet?

Im Sommer 1984 ist das noch kei­ne Frage. Wir sind ein Dutzend Schweizer und Schweizerinnen – mehr­heit­lich Studenten in den Semesterferien – und unter­wegs in ein Dorf in den Bergen des Nordwestens von Nicaragua. Dort wol­len wir den Bauern tat­kräf­ti­ge Hilfe beim Häuserbau lei­sten – und damit unse­re Solidarität mit der jun­gen Revolution und ihrem neu­en revo­lu­tio­nä­ren Gesellschaftsentwurf zei­gen.

Fünf Jahre zuvor hat ein Volksaufstand die von den USA gestütz­te Diktatur von Anastasio Somoza gestürzt. Die sieg­rei­chen Sandinisten stre­ben eine Besserstellung der jahr­hun­der­te­lang ver­nach­läs­sig­ten und aus­ge­beu­te­ten Bauernbevölkerung an.

Die Häuser sol­len auf einer Waldlichtung gebaut wer­den, die zum Latifundium eines ver­schul­de­ten Kolonisators gehör­te, der vor der Revolution ins Ausland geflo­hen war. Die christ­li­chen Schweizer Hilfswerke Heks und Caritas sowie die Hilfsorganisation des «Bloque» koor­di­nie­ren die Unterstützung, um den Bauern zu men­schen­wür­di­gen Unterkünften zu ver­hel­fen. Für den Hausbau brin­gen die Einheimischen das Fachwissen mit, wir Schweizer sind ihre Hilfskräfte, die Baumaterialien und Werkzeuge im Gepäck füh­ren: Schaufeln, Pickel, Zement.

Wir tei­len die kar­gen Lebensbedingungen der Bauern, schla­fen in Hängematten und in Schlafsäcken auf Holzbrettern. Wir tei­len mit ihnen die täg­li­che Ration Reis, Bohnen und eine Maistortilla. Die Katzenwäsche in den Wassertümpeln eines Baches muss der Hygiene Genüge tun. Es ist ein auf das Elementare redu­zier­tes Leben. Mehr Zivilisationskram als in unse­ren Rucksäcken unter­zu­brin­gen ist haben wir nicht dabei.

Die Kommunikation mit den Bauern ist schwie­rig. Unsere Spanischkenntnisse sind beschei­den – ihr Dialekt für uns kaum ver­ständ­lich. Bei der Arbeit behel­fen wir uns mit Zeichensprache. Ansonsten herrscht meist Stille. Sie schwei­gen. Wir schwei­gen. Ein Gefühl der Verlorenheit macht mir zu schaf­fen. Es scheint, als säs­sen wir an gegen­über­lie­gen­den Ufern eines brei­ten Flusses, auf dem Jahrhunderte der Geschichte flies­sen, die uns tren­nen. Der damals 48-jäh­ri­ge Bauer Amancio muss ähn­lich emp­fun­den haben: «Ich begrei­fe nicht, was uns Analphabeten für euch Akademiker inter­es­sant machen könn­te», sagt er.

Hoffnung im Gepäck Weshalb Nicaragua? Ich hat­te damals nicht ein­fach irgend­wo in Lateinamerika irgend­wel­che Entwicklungsarbeit lei­sten wol­len. Nicaragua hin­ge­gen war ein poli­ti­sches Bekenntnis. Ich ver­knüpf­te es mit der Hoffnung, dass dank der erfolg­rei­chen Revolution etwas Neues und vor allem Dauerhaftes ent­ste­hen könn­te. Und dass die Entwicklungshilfe hier mehr sein wür­de als Augenwischerei.

Entsprechend stolz war unse­re Gruppe des­halb dar­auf, von den Einheimischen als «Internationalisten» bezeich­net zu wer­den – in Anlehnung an jene Freiwilligen, die wäh­rend des spa­ni­schen Bürgerkriegs in den dreis­si­ger Jahren aus aller Welt nach Spanien geströmt waren, um das Land gegen den Faschismus von General Franco zu ver­tei­di­gen.

Natürlich lock­te auch das Abenteuer, obwohl dies nie­mand von uns zuge­ge­ben hät­te. Wir woll­ten mit Abenteuergeschichten heim­keh­ren. Die Bauern waren die Projektionsfläche unse­rer Revolutionsphantasien. Wobei die­se pri­va­ten Motive durch­aus Hand in Hand mit den poli­ti­schen Interessen der san­di­ni­sti­schen Revolutionsführer gin­gen.

Denn Nicaragua stand in den acht­zi­ger Jahren völ­lig iso­liert im inter­na­tio­na­len Rampenlicht. Nach Somozas Sturz 1979 befürch­te­ten die USA – zuvor Somozas wich­tig­ster Verbündeter – einen Rohstofflieferanten und Absatzmarkt zu ver­lie­ren, doch vor allem, dass die erfolg­rei­che Revolution in Zentralamerika Schule machen könn­te.

Deshalb rekru­tier­ten die USA Somozas geflo­he­ne Folterknechte in die kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Söldnertruppe der Contras und ver­sorg­ten sie mit Geld und Waffen. Die Militärlogik der Contras war denk­bar sim­pel. Mit einem kräf­te­zeh­ren­den Bürgerkrieg ver­such­ten sie alles zu zer­stö­ren, was die Revolution auf­bau­te – Gesundheitszentren, Schulen, Landwirtschafts-Kooperativen – und töte­ten jene, die für die neu­en Ideale unter­wegs waren: Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer und poli­ti­sche Aktivisten.

Vor die­sem Hintergrund war unser Arbeitseinsatz nicht unge­fähr­lich, wenn­gleich wir uns als Schweizer neu­tral und damit unver­wund­bar fühl­ten. Wir hat­ten tat­säch­lich Glück. Kurz nach unse­rer Rückkehr in der Schweiz erreich­te uns die schockie­ren­de Nachricht, dass «unse­re» Kooperative von den Contras über­fal­len wor­den war: Sechs Menschen wur­den dabei ermor­det und das Schulhaus sowie die gesam­te Bohnenernte nie­der­ge­brannt.

Wir Internationalisten tref­fen uns in Zürich, orga­ni­sie­ren Solidaritätskundgebungen und Mahnwachen, sam­meln Geld. Einzelne kehr­ten im dar­auf­fol­gen­den Sommer nach Nicaragua zurück, um das Schulhaus wie­der auf­zu­bau­en. 1990 wähl­te eine vom Bürgerkrieg erschöpf­te Bevölkerung die Sandinisten ab. «Die Menschen waren wei­se genug, für ein Ende die­ses Krieges zu stim­men», sagt der Bauer Eduardo. «Es war die ein­zi­ge Möglichkeit, Frieden zu schaf­fen.»

Vorbild und Inspiration Als Privatperson keh­re ich 25 Jahre spä­ter wie­der in das Dorf zurück. Ich will die Menschen noch ein­mal tref­fen – und her­aus­fin­den, wie sie damals die Präsenz von uns Internationalisten erlebt haben.

Der Empfang ist unter­schied­lich. Diesmal erwar­ten uns kei­ne Kinder. Florentina, die uns damals ver­pflegt hat­te, ist inzwi­schen 61 Jahre alt. Sie freut sich, zeigt sich aber gleich­zei­tig ent­täuscht und fragt vor­wurfs­voll: «Wir haben uns in all den Jahren, da wir nichts mehr von euch gehört haben, gefragt, was aus euch gewor­den ist. Ob ihr noch lebt, ob ihr gestor­ben seid?» Sie kon­fron­tiert mich mit mei­nem Gewissen. Ja, den­ke ich, sie hat Recht. Wo bin ich in all den Jahren geblie­ben? Weshalb hielt ich nicht wenig­stens Briefkontakt? Dass auch wir Internationalisten nach unse­rem Einsatz unter­ein­an­der wenig Kontakt pfleg­ten, ist für Florentina erst recht unver­ständ­lich.

Ich habe vie­le Fragen mit im Gepäck. Was wer­de ich vor Ort antref­fen? Existiert die Kooperative noch? Haben die Bauern ihr Land ver­lo­ren? Sind sie aus ihren Hütten ver­jagt wor­den? Wer lebt von ihnen noch? Und vor allem: Wie sehen die Dorfbewohner unser Engagement im Rückblick?

Florentina stim­men mei­ne Fragen mil­de. Sie erin­nert sich an die dama­li­gen Wohnverhältnisse. Ein hal­bes Dutzend Familien leb­te unter dem einen Dach des Gebäudes vom Gutsverwalter. «Wir hat­ten die Häuser drin­gend nötig», sagt sie. Und ihr Schwager, der heu­te 73-jäh­ri­ge Amancio, fügt hin­zu: «Vor eurer Ankunft hat­ten wir noch nicht ein­mal eine Schaufel!»

Besonderen Eindruck muss unse­re Fähigkeit zur Organisation hin­ter­las­sen haben. Roger, damals ein 15-jäh­ri­ger Jugendlicher: «Für uns Junge, die wir nie gelernt hat­ten, uns zu orga­ni­sie­ren, gaben die gut orga­ni­sier­ten Internationalisten Anstoss, es ihnen gleich zu tun». Viele für uns Europäer selbst­ver­ständ­li­che Dinge hat­ten für die Bauern Vorbildfunktion: «Wir haben viel in Sachen Hygiene gelernt», sagt Eduardo. «Ganz beson­ders beein­druck­te uns, dass ihr nach jedem Essen die Zähne geputzt habt.»

Und nicht nur vom 72-jäh­ri­gen Marcelino höre ich: «Wir wer­den euch nie ver­ges­sen, dass ihr uns in jenen schwie­ri­gen Jahren bei­gestan­den habt, dass ihr den Mut hat­tet, mit­ten im Krieg zu uns zu kom­men». Florentina pflich­tet ihm bei: «Mir gab eure Anwesenheit ein Gefühl der Hoffnung. Es war Solidarität in einem Augenblick, in dem wir sie drin­gend nötig hat­ten.»

Der 40-jäh­ri­ge Roger, der seit zehn Jahren als Hotelangestellter in der Provinzhauptstadt Leòn arbei­tet und im Dorf eine Musikgruppe gegrün­det hat, ver­weist auf einen ande­ren Aspekt: «Von euch lern­ten wir zu arbei­ten, ohne dar­aus per­sön­li­chen Gewinn zu zie­hen. Ihr wart uns ein Vorbild, weil ihr gehol­fen habt Häuser zu bau­en, obwohl ihr zu Hause ein Dach über dem Kopf hat­tet.» Doch für ihn war der Austausch gegen­sei­tig. «Es war für uns eine gute Erfahrung zu sehen, dass auch wir euch etwas zu geben hat­ten, näm­lich unse­re Musik, unse­re Sprache, unse­re Kultur.»

Noch etwas Überraschendes erwähnt Roger: «Ich habe erst dank euch Internationalisten rea­li­siert, dass aus­ser­halb unse­res Tales eine Welt exi­stier­te, von der wir Bauern bis­her nichts geahnt hat­ten.» Während wir Schweizer den «Wert» unse­rer Präsenz in erster Linie an der Anzahl Häuser mas­sen, die wir auf­bau­en konn­ten, schei­nen die Dorfbewohner gänz­lich ande­re Werte geschätzt zu haben. Ohne es zu ahnen, haben wir vie­len zu einer neu­en Weltsicht ver­hol­fen. Diese Erfahrung mag sie spä­ter inspi­riert haben, in ihrem Dorf eine Spanischschule für Ausländer zu eröff­nen. Mit dem Geld, das so erwirt­schaf­tet wer­den konn-te, haben inzwi­schen vie­le Dorfbewohnern zu einem beschei­de­nen Wohlstand gefun­den.

Geschenke von gestern War die Kommunikation vor 25 Jahren noch eine Herausforderung, so gab es dies­mal kei­ne Probleme. Die Schulleitung for­dert von den Dorfbewohnern, mit den Studenten nicht Dialekt, son­dern ein gepfleg­tes Spanisch zu spre­chen – ein Umstand, der mir für mei­ne Interviews sehr ent­ge­gen­kommt.

Neben Fragen habe ich auch Geschenke mit­ge­bracht: Seifen, Nähnadeln, Zahnbürsten, Toilettenpapier, Kugelschreiber, letz­te­res das A und O des auf­ge­klär­ten Touristen. Ich über­ge­be sie Amancio zur gerech­ten Verteilung. Als er die Sachen aus­packt, über­kommt mich ein Schamgefühl. Ich rea­li­sie­re, dass mei­ne Geschenke sich nicht an die Gegenwart, son­dern an ein Gestern rich­ten, das nicht mehr exi­stiert. Die Menschen im Dorf müs­sen sich heu­te den Hintern nicht wie frü­her mit ent­körn­ten Maiskolben put­zen. In den Häusern ste­hen Nähmaschinen. Seife ist im Dorfladen bil­lig zu kau­fen. Und auch Zahnbürsten sind längst kei­ne Mangelware mehr.

Vielleicht liegt mein Fauxpas dar­an, dass ich in den ver­gan­ge­nen Jahren im Abbild mei­ner Nicaraguafotos gefan­gen gelebt habe – Fotos, auf denen die Zeit still stand. Ausgerechnet die­se Fotos lösen dann aber bei den Dorfbewohnern Begeisterung aus und wer­den so zum eigent­li­chen Geschenk. Bauer Lencho fasst es in Worte: «Das Besondere an den Bilder ist, dass sie nicht bloss unse­re Gesichter zei­gen, son­dern auch wie damals unser täg­li­ches Leben aus­sah.» Besondere Freude berei­tet ihm ein Bild des Ochsen Capuillo, der den Menschen im Dorf damals so wich­tig war, dass sie ihn nicht zum Metzger brach­ten. «Wir haben ihn eines natür­li­chen Todes ster­ben las­sen, denn er hat sei­ner­zeit unse­re toten Märtyrer zum Friedhof gezo­gen.»

Lenchos Worte lösen in mir eine Erinnerung aus, die ich lan­ge ver­ges­sen hat­te: Vor 25 Jahren hat­te ich Porträtfotos mei­ner Familie mit­ge­nom­men, doch die Fotos wur­den von den Bauern acht­los von einem schwie­li­gen Handpaar zum näch­sten gereicht. Als ich nach­frag­te, wes­halb die Bilder kei­nen Anklang fan­den, sag­te man mir: «Man sieht ja nicht dein Haus. Wo ist dein Bett? Wo ist dein Hausschwein? Habt ihr denn kei­nen Ochsenkarren?»

Später, als ich eige­ne Aufnahmen von den Bauern machen woll­te, zwan­gen sie mich, mit der Kamera auf Distanz zu gehen, denn alle Familienangehörigen muss­ten mit aufs Bild, genau­so wie die Hütte, das Maultier und das Hausschwein, die Hühner und Truthähne. Den Bauern war wich­tig, ihr gan­zes sozia­les Umfeld und ihren gesam­ten Besitz auf den Bildern wie­der­zu­fin­den.

Nachhaltig erfolg­reich? Von der Lichtung, in die wir damals die Häuser bau­ten, ist nichts geblie­ben. Sie ist heu­te über­baut. Die loka­le Bevölkerung hat sich ver­fünf­facht. Im Dorf leben 125 Menschen. Der Lebensstandard ist sicht­bar gestie­gen. Alle haben ein Dach über dem Kopf. Die Mehrzahl wohnt in Backsteinbauten oder Adobehäusern, eini­ge Familien noch in Holzhütten. Alle Haushalte haben Zugang zu sau­be­rem Trinkwasser. Knapp zwar wäh­rend der Trockenzeit, aber aus­rei­chend. Solarzellen auf Hausdächern sor­gen für Strom. Überall ragen Fernsehantennen in die Höhe.

Das Dorf ist bes­ser als je zuvor in der Lage, von den selbst her­ge­stell­ten Lebensmitteln zu leben. Die Erwachsenen sind in Markenkleidern unter­wegs. Auch die Kinder sind gut geklei­det und spie­len mit Barbiepuppen. Viele besit­zen bil­li­ge Fahrräder aus China, etli­che Motorräder, und das Dorf ver­fügt über einen Kleinlaster. Ein Gesundheitsposten wird gera­de auf­ge­baut, in dem ein­mal pro Woche ein Arzt und eine Krankenschwester prä­sent sein sol­len. Im Dorfzentrum ste­hen zwei Schulhäuser. Hilfsorganisationen wür­den die­se Entwicklung wohl als eine «nach­hal­ti­ge» bezeich­nen.

Die Bildung hat auch die Frauen erreicht. Drei von vier Lehrpersonen an den Schulen sind Frauen. Sie gehö­ren zur ersten Generation, die dank der san­di­ni­sti­schen Schulreform gra­tis stu­die­ren konn­te. Dank der Spanisch-Schule für Ausländer konn­ten zudem Arbeits-plät­ze geschaf­fen und damit die Abwanderung aus dem Dorf gestoppt wer­den. Geradezu über­schwäng­lich bezeich­nen die Bewohner ihr Dorf als ein Vorzeigemodell für alle latein­ame­ri­ka­ni­schen Dörfer, beson­ders hin­sicht­lich der Organisation, Arbeitsformen und Menschlichkeit.

Entscheidend bei­getra­gen zu die­ser posi­ti­ven Entwicklung im Dorf hat wohl, dass das frü­her weit ver­brei­te­te Alkoholproblem über­wun­den wer­den konn­te. Amancio hat­te bereits vor 25 Jahren gesagt, «der Alkohol ist der gröss­te Feind und eine enor­me Belastung für unse­re Kooperative». Die betrun­ke­nen Männer hät­ten ihre Frauen und Kinder geschla­gen. Auch ich erin­ne­re mich, wie wir nachts in unse­ren Hängematten die ver­zwei­fel­ten Schreie der geschla­ge­nen Frauen hör­ten, wenn ihre betrun­ke­nen Ehemänner heim­kehr­ten. Keiner wag­te es, ihnen die Flasche aus der Hand zu schla­gen, denn die Säufer waren bewaff­net und bal­ler­ten in alle Himmelsrichtungen, wenn sie grö­lend ver­such­ten, die Sterne vom Himmel zu schies­sen.

Eine Generation spä­ter ist Alkohol kein Problem mehr. Die Alkoholiker sind weg gezo­gen oder haben sich inzwi­schen zu Tode getrun­ken. Die Jungen suchen heu­te kei­ne Zuflucht im Alkohol; das Dorf bie­tet ihnen rea­le Zukunftsperspektiven.

Konsum bedroht Identität Es gibt jedoch auch kri­ti­sche Punkte. So beob­ach­tet der 43-jäh­ri­ge Bauer Nestor, der auch Direktor des Dorftheaters ist, skep­tisch die wach­sen­de Überfremdung. Denn unüber­seh­bar sind heu­te die vie­len ein­ge­hei­ra­te­ten Ausländer, die hier für Hausbau, Fruchtkulturen oder Schafzucht Boden erwer­ben.

Eine ande­re Tatsache ist die Heiratspolitik vie­ler Nicaraguaner, deren Kinder Europäer oder US-Amerikaner hei­ra­ten und fort­zie­hen. Mit einer sol­chen Heirat haben sie finan­zi­ell aus­ge­sorgt. Bei Amancio sind fünf sei­ner sechs Kinder mit Ausländern liiert. Und drei der vier Kinder von Florentina leben heu­te in Europa. Es han­delt sich hier­bei um eine neue Form der Altersvorsorge, denn die finan­zi­ell gut gestell­ten Kinder sol­len der­einst ihre Eltern unter­stüt­zen.

Nestors Familie par­ti­zi­piert nicht an und pro­fi­tiert nicht von die­ser Praxis. «Hier leben vie­le Fremde und es wer­den stän­dig mehr. Entsprechend wird sich hier auch viel ver­än­dern in den näch­sten Jahren», sagt Nestor. «Ich fürch­te um unse­re Identität».

Eines hält Nestor den Ausländern aller­dings zugu­te. Dank ihnen habe öko­lo­gi­sches Gedankengut im Dorf Fuss fas­sen kön­nen. So ver­fü­ge eine Mehrzahl der Häuser heu­te über Wassertanks, die das Regenwasser spei­cher­ten. Neue Häuser wür­den im erd­be­ben­si­che­ren und kli­ma­ver­träg­li­chen Adobestil gebaut. Die Abfälle wer­den gesam­melt und zen­tral ent­sorgt.

Die Anwesenheit vie­ler Ausländer birgt für vie­le Dorfbewohner noch eine wei­te­re Gefahr, der sich selbst der sech­zehn­jäh­ri­ge Sekundarschüler Django bewusst ist: Er befürch­tet, «dass wir alle dem Kapitalismus ver­fal­len.» Die Jungen wür­den genau regi­strie­ren, wel­che Konsumgüter wie etwa Markenkleider oder tech­ni­sche Geräte die Fremden besit­zen wür­den.

«Die Kinder sind der Gefahr des Kapitalismus beson­ders aus­ge­lie­fert. Er greift sie mit Computern und mit Fernsehen an und defor­miert sie zu rei­nen Konsumenten», sagt Django. Und sein Onkel, der 35-jäh­ri­ge Oskar, stimmt ihm vor­be­halt­los zu: «Der Konsum ist ein gros­ses Problem. Ich sehe das beson­ders bei mei­ner Arbeit, dem Einsammeln des Abfalles. Noch vor weni­gen Jahren war das nicht mehr als ein Sack Abfall pro Familie. Heute ist es ein gan­zer Ochsenkarren voll!» Und heu­te wür­den auch Dinge weg­ge­wor­fen, die oft noch in gutem Zustand sei­en und mit wenig Aufwand zu flicken wären. Doch die Frauen hät­ten inzwi­schen kei­ne Zeit mehr, die Dinge zu repa­rie­ren.

Der 35-jäh­ri­ge Maurer und Künstler Javier bezeich­net den Konsum als «das Verschwinden der Kultur». So vie­le schö­ne und reich­hal­ti­ge Dinge sei­en ver­schwun­den oder hät­ten sich ver­än­dert. «Nehmen wir die nica­ra­gua­ni­sche Küche. Früher war sie viel­fäl­tig und reich. Aber heu­te gibt es nur noch Junkfood, Halbgares vol­ler Konservierungsmittel.» Oder die vie­len wun­der­ba­ren Fruchtsäfte, die es frü­her gege­ben habe. «Heute wer­den sie alle von Coca Cola aus dem Markt gedrängt.»

Wegbereiter des Kapitalismus? Am Dorfeingang erin­nert eine Metalltafel an das Engagement der Schweizer Hilfswerke Heks, Caritas und des Bloque. Wer nach einem gelun­ge­nen Beispiel nach­hal­ti­ger Entwicklung sucht, wird hier fün­dig. Es fällt schwer zu sagen, wel­chen Anteil an die­sem Erfolg den Hilfswerken, und wel­cher der san­di­ni­sti­schen Revolution zufällt. Eine wich­ti­ge Basis dafür war sicher die san­di­ni­sti­sche Landreform und Alphabetisierungs-kam­pa­gne. Die Hilfswerke haben ihrer­seits das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und die Mittel zur Selbsthilfe bereit gestellt. Die einen spra­chen von Solidarität, die ande­ren von Nächstenliebe.

Dennoch wer­de ich auch nach 25 Jahren eini­ge grund­le­gen­de Zweifel nicht los. Die Entwicklung, die die Lebenssituation der Bauern so ver­bes­sert hat, wur­de von aus­sen an sie her­an­ge­tra­gen. Hätten die Bauern den­sel­ben Weg beschrit­ten, hät­ten sie denn eine Wahl, respek­ti­ve die Vorraussetzungen für eine Wahl gehabt? Mit ande­ren Worten: Ist unser Engagement von damals nur posi­tiv zu wer­ten? Oder sind wir Internationalisten, die wir bei der revo­lu­tio­nä­ren Umgestaltung der Gesellschaft mit­hel­fen woll­ten, nicht viel­mehr zu den Wegbereitern des Kapitalismus in eben die­ser Gesellschaft gewor­den?

Nicht alle Begegnungen bei mei­nem zwei­ten Besuch im Dorf sind erfreu­lich. Zu viel hat sich ver­än­dert. So löste das Dorf Anfang der 90er Jahre die revo­lu­tio­nä­re Kooperative auf, mit fata­len Folgen für die Dorfgemeinschaft. Heute ist das Land wie­der in Privatbesitz, und wie vor der Revolution tren­nen Stacheldrahtzäune Felder und Hausgrundstücke. Mit Glassplittern gespick­te Mauern und all­ge­gen­wär­ti­ge Sicherheitsschlösser bewa­chen das beschei­de­ne Eigentum. Bei vie­len ste­hen heu­te finan­zi­el­le Interessen im Vordergrund. Mir bleibt die eine Frage: Ist der Abgrund zwi­schen jenen, die viel haben und jenen, die wenig haben, je zu über­win­den?

Ich beschlies­se, nicht nach Nicaragua zurück­zu­keh­ren.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012

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