(Von Anna Vogelsang) – Im Februar 2012 veranstalteten fünf Mitglieder von Pussy Riot einen Punk-Gottesdienst in einer nichtsanktionierten Polit-Performanceaktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Im März wurden drei von ihnen wegen Rowdytum verhaftet. Das Hamovničeskij Gericht in Moskau verurteilte am 17. August die Frauen zu je zwei Jahren Straflager. Randnotiz: Gemäss den Normen des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation drohte den Angeklagten bis zu sieben Jahren Haft. Kurz nach dem ersten Urteil wurde Berufung eingelegt. Am 10. Oktober am Nachmittag, nach 4 Stunden Anhörung der Angeklagten und Ankläger und nach 40 Minuten Beratung, hat Mosgorsud (Moskauer Stadtgericht) den Entscheid verkündet:
Einer der Angeklagten – Ekaterina Samucevič (Екатерина Самуцевич, auf dem Foto ganz links, Red.) – wurde die Haftstrafe in eine Bewährungsstrafe geändert (sie wurde also nicht frei gesprochen). Sie muss sich während der nächsten zwei Jahren an bestimmte Reihen von Einschränkungen halten, sich mindestens zweimal monatlich bei den Behörden melden und darf kein weiteres gesetzwidriges Vergehen begehen. Sonst kann sie, wie ihre Kameradinnen, ebenfalls hinter Gittern landen. Denn die Hafturteile gegen Marija Alechina (Мария Алехина) und Nadežda Tolokonnikova (Надежда Толоконникова) blieben unverändert: Zwei Jahre Straflager, wobei sieben Monate davon bereits abgesessen wurden. Die Anwälte von Alechina und Tolokonnikova können innerhalb von sechs Monaten eine Aufsichtsbeschwerde gegen das Gerichtsurteil einreichen. Innerhalb der nächsten zehn Tage werden die verurteilten Alechina und Tolokonnikova in eines der 63 Frauenlager verlegt.
Die neue Anwältin von Samucevič, Irina Chrunova (Ирина Хрунова), konnte das Gericht überzeugen, dass die Teilnahme ihrer Mandantin an Punk-Gottesdienst in der Christ-Erlöser-Kathedrale minim war: Sie war in der Kirche, hat ihre Jacke abgelegt, sich eine farbige Skimaske angezogen und versuchte gerade, ihre Gitarre aus dem Koffer rauszunehmen, als sie von einem Wachmann aus der Kathedrale hinausgeführt wurde. Ekaterina Samucevič hat weder gesungen noch auf dem Ambo (Bereich in der Kirche, Red.) während der Protest-Aktion getanzt. Das Gericht hat anerkannt, dass die Schuld von Samucevič geringer ist und hat deren Strafe gemildert.
Alle drei Angeklagten und deren Anwälte konnten während der Anhörung ihre Position (mehr oder weniger) erläutern. Samucevič erklärte, dass sie verunsichert war, ob ihre Interessen während des ersten Prozesses adäquat vertreten wurden. Deswegen hatte sie eine neue Anwältin engagiert. Sie betonte, dass der Punk-Gottesdienst (панк-молебен) eine politische Aktion gegen die regierende Macht und nicht gegen Gläubige war. Sie bedauert, wenn deren Gefühle verletzt wurden und bittet um Verzeihung. Sie ist aber überzeugt, dass Aktion von Pussy Riot nicht gesetzwidrig und strafbar war.
Marija Alechina bestätigte, mit Ihrer Kollegin gleicher Meinung zu sein. Sie betonte, dass sie selbst eine Christin sei und es nie die Absicht war, religiöse Gefühle anderen Menschen zu verletzen. Sie hat nach der Aktion in Kathedrale schon mehrmals, öffentlich bei den Menschen, um Verzeihung gebeten. Ihre Entschuldigungen wurden aber nie akzeptiert. Wenn man von ihr Reue erwartet, dann vergebens, weil sie sich für ’nicht schuldig› bekennt. „…Wir protestierten gegen politische Eliten. Wahrscheinlich ist die Form des Protestes für die Volksmassen nicht akzeptabel. Offensichtlich ist unsere Gesellschaft noch nicht bereit, Punk-Gottesdienste zu verstehen.“ – so Alechina.
Einige Tage vor dem Berufungsgericht, am 7. Oktober 2012 strahlte TV-Sender NTV im Programm „Zentral‘noe Televidenie“, speziell zum 60. Geburtstag vom Russischen Präsidenten, ein grosses, exklusives Interview mit Vladimir Putin aus. Auf Pussy Riot angesprochen, antwortete der Jubilat mit einer Gegenfrage: Er fragte den Moderator Vadim Takmenev, ob er die Übersetzung von «Pussy Riot» kenne? Der Journalist meinte, dass er sie wüsste, sich aber weigere, vor Putin und vor laufender Kamera den Bandnamen auf Russisch auszusprechen. Daraufhin lobte Vladimir Putin „die Mädels“, die „euch alle und die ganze Welt dieses unanständige Wort öffentlich auszusprechen gezwungen haben… Sogar diejenigen, welche die Übersetzung und Bedeutung kennen, sprechen dies öffentlich aus. Ist das normal?“ Dass das Wort «Pussy» ein Euphemismus ist und somit mindestens zwei Bedeutungen hat wollte anscheinend weder der President noch der Journalist wissen. Auf jeden Fall, erlaubte sich Alechina während der Berufungsanhörung auf diese Aussage von Putin zu antworten: „Ich kann Pussy Riot auf Russisch sagen: ‚Aufstand der Kätzchen‘“ – so Alechina. „Das ist sicher nicht unanständiger, als Ihre (Vladimir Putin, Red.) Wörterauswahl ‚Wir lassen die Terroristen im Klo verrecken‘ (Putins Aussage bezüglich Methoden im Kampf gegen Terrorismus, Red.).“
Nadežda Tolokonnikova schloss sich den Aussagen ihrer Kollegen an. Sie zeichnete die Mängel im Verfahren von Hamovničeskij Gericht auf. Und bestätigte, dass sie auch nicht bereit ist für etwas Reue zu zeigen, was sie nicht gemacht hat. Sie versteht nach wie vor den Punk-Gottesdienst nicht als die Straftat, die man ihr und ihrer Kolleginnen zur Last legt: „Rowdytum aus dem religiösen Hass“.
Alle drei Frauen versuchten währen deren Ansprachen die jeweilige Zivilhaltung zum Ausdruck zu bringen, wurden aber jedes Mal von Richterin und Vorsitzende des Gerichtskollegiums Larisa Poljakova (Лариса Полякова) unterbrochen. So wurde auch die Rede von Tolokonnikova mehrmals von der Richterin unterbrochen. Und als Fazit hat sie ihr sogar das Wort entzogen. Darauf rief Tolokonnikova: „Wir gehen in die Straflager und hier beginnt ein Bürgerkrieg. Putin macht alles dafür!“
Es wäre falsch die Stärke der Provokation von Pussy Riot und deren Wirkung auf die Russen zu unterschätzen. Es wäre auch falsch die Vorgeschichte deren Aktionen zu vergessen. Die Band wurde im März 2011 gegründet. Die Mitglieder wollten anonym bleiben, sie waren bei den Auftritten immer maskiert, die Namen ersetzten sie mit den Kosenamen und man betonte, dass die Mitglieder immer ausgetauscht werden. Sie machten mit einer Reihe von nichtsanktionierten Guerilla-Auftritten im Oktober-November 2011 auf öffentlichen Plätzen von sich reden, auf den Dächern von Häusern oder Bussen, in noblen Boutiquen und Cafés von Moskau. Am 7. November im Blog der Gruppe wurde ein erster Videoclip publiziert. Das alles sollte als Promo für das Debut-Album der Gruppe „Töte den Sexisten“ dienen. Am 1. Dezember 2011, just vor den Duma-Wahlen (Wahlen in russisches Parlament, Red.), veröffentlichten Pussy Riot deren zweiten Videoclip. Am 14. Dezember sangen die Bandmitglieder auf dem Dach eines Gebäudes vis-à-vis der Haftanstalt Nr. 1, wo die Demonstranten der Kundgebungen vom 5. Dezember gegen die Manipulation der Wahlergebnissen in der Untersuchungshaft sassen. Die erste Haft von acht Mitgliedern von Pussy Riot folgte am 20. Januar 2011 nach deren Auftritt auf dem Roten Platz. Sie wurden mit 500 Rubel (ca. 15 CHF) – wegen ‹Verstoss gegen die Regeln öffentlicher Kundgebungen› bestrafft und freigelassen. Am 21. Februar 2012 folgte dann die Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Mit der Wahl der Kirche – Hauptkathedrale der Russischen Orthodoxen Kirche – hatten Pussy Riot sicher mit der maximalen gesellschaftlichen und medialen Resonanz gerechnet. Ob die politische und/oder künstlerische Ziele der Aktion die Art und Weise des Auftrittes rechtfertigen, ist fraglich. Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat eine Reihe von Verhaltensregeln, die mit diesem Auftritt grob missachtet wurden. Ob die Handlungen von Pussy Riot tatsächlich religiösen Hass als Antrieb hatten, ist allerdings schwer fraglich.
Ob und welche Folgen der Gerichtsentscheid vom 10. Oktober 2012 haben wird, zeigt sich in den nächsten Wochen. Inzwischen debattieren die Blogger hier in der Schweiz, was man für eine solche Aktion hierzulande bekommen kann: Geldstrafe oder doch Freiheitsentzug oder gar nichts…? Interessanterweise geht es in russischen Blogs oft nicht darum, was für eine Strafe schlussendlich ausgesprochen wird (da hatten die Einheimischen wenig Illusionen). Die Diskussionen drehen sich um die Fragen wie viel Kunst und wie viel Politik stecken hinter Pussy Riot-Aktionen und wie nachhaltig sind sie für die russische Gesellschaft… Denn gerade dies versucht das offizielle Russland auszublenden: Die politische Seite der Sache. Alles wurde als eine schamlose, gesetzlose Provokation von schlecht erzogenen Mädels, die einen PR-Gag landen wollten, dargestellt.
Quellen: ITAR-TASS, RIA Novosti




