PUBLIKATIONEN ZU JÜDISCHEN THEMEN

Von

|

Drucken Drucken

Von Francois Lilienfeld – Die Reihe «Jüdische Musik» im Wiesbadener Verlag Harrassowitz gehört zum Interessantesten, was zu die­sem Thema zur­zeit ange­bo­ten wird. Als wich­ti­ge kul­tu­rel­le Ereignisse konn­te man vor eini­gen Jahren die Bände «Klesmer, Klassik, jid­di­sches Lied», sowie «Unser Rebbe, unser Stalin …» begrü­ßen. Letzteres Buch bie­tet die voll­stän­di­gen St. Petersburger Sammlungen von Moishe Beregowski und Sofia Magid, mit Noten, Texten, Kommentaren und einer DVD (mp3-Audiodatei), wel­che die lan­ge ver­lo­ren geglaub­ten, von Beregovski auf sei­nem Walzenphonographen fixier­ten Tondokumente ent­hält – eine Goldgrube!

Besonders aktiv in die­ser Buchreihe ist Jascha Nemtsov, ein hoch­be­gab­ter Pianist und Musikwissenschaftler, der sich, als Interpret und Forscher, ins­be­son­de­re mit der Neuen Jüdischen Schule in Russland befasst, einer Bewegung, die der Anregung des bedeu­ten­den Komponisten und Lehrers Nikolai Rimsky-Korsakow ihre Entstehung ver­dankt. Er hat­te vie­le jüdi­sche Schüler im St. Petersburger Konservatorium und ermu­tig­te sie, sich auf ihre Wurzeln zu besin­nen und ihr kul­tu­rel­les Erbe in ihren Kompositionen zu ver­ar­bei­ten.

Nemtsov hat, als Band 12 der Reihe «Jüdische Musik», Vorträge ver­öf­fent­licht, die im Juli 2010 an der Universität Potsdam im Rahmen der Tagung «Jüdische Musik als Dialog der Kulturen» gehal­ten wur­den. Das Spektrum der Themen ist sehr breit. Wir fin­den zwei grund­le­gen­de Betrachtungen (in eng­li­scher Sprache) zum Themenkomplex Klesmermusik: Die Beschreibung einer Hochzeit und der dazu­ge­hö­ren­den Musik im Schtetl, aus der Feder von Zev Feldman, einem der füh­ren­den Mitbegründer der Klesmerrenaissance in den USA, sowie einen Essay über den legen­dä­ren Klesmergeiger Alter Chudnover (1849–1913), ver­fasst von Lyudmila Scholokhova.

Auch die syn­ago­ga­le Musik ist berück­sich­tigt, ins­be­son­de­re erfährt man Vieles über die Veränderungen, wel­che die jüdi­sche Reformbewegung in der Liturgie zur Folge hat­te.
Zu den bespro­che­nen Komponisten des 20 Jahrhunderts gehö­ren Kurt Weill mit sei­ner bibli­schen Oper «Der Weg der Verheißung», Dmitry Shostakovitch («Aus jüdi­scher Volkspoesie»), sowie Mieczyslaw Weinberg und Arnold Schönberg. Auch päd­ago­gi­schen Fragen und Problemen der musi­ka­li­schen Rezeption wird viel Raum gewährt.

Einem bis­her eher ver­nach­lä­ßig­ten Thema wid­met sich Nemtsov in Band 11 mit dem Titel «Doppelt ver­trie­ben». Es geht um Komponisten aus dem deutsch­spra­chi­gen ost­eu­ro­päi­schen Raum, die von den Nazis ver­jagt wur­den, und deren gei­sti­ge Heimat nach 1945 unter­ging: Israel Brandmann, Marc Lavry, Joachim Stutschewsky und Chemjo Vinaver.
Nemtsov kon­zen­triert sich auf Musiker, deren Fluchtweg nach Palästina führ­te. Dort fan­den sie zwar einen ret­ten­den Hafen, doch tra­fen sie auch oft auf Unverständnis. Die jüdi­sche Bevölkerung Palästinas und der spä­te­re Staat Israel waren mehr an «moder­nen» Werken inter­es­siert als an der «alten Welt» – ins­be­son­de­re das Jiddische war ver­pönt. Ins Zentrum des Interesses gelang­ten Pionierlieder, die in gro­ßer Zahl – und unter­schied­li­cher Qualität – ent­stan­den. So ver­such­ten denn auch ein­ge­wan­der­te Komponisten, an der Schaffung eines neu­en Stils mit­zu­ar­bei­ten.

Eine Ausnahme bil­det der 1895 in Warschau gebo­re­ne Chemjo Vinaver. Der Sproß einer chas­si­di­schen Familie, einer der bedeu­tend­sten Chorgründer und ‑Dirigenten sei­ner Generation, emi­grier­te erst 1960 nach Israel, wo er 1973 starb. 1938 war er nach New York geflüch­tet, wo er mit sei­nen Kompositionen und Auftritten Riesenerfolge ver­buch­te. Nachhaltige Wirkung hat noch heu­te sei­ne «Anthology of Jewish Music», 1955 mit einem Originaltitelbild von Marc Chagall erschie­nen. 12 Jahre nach sei­nem Tod ver­öf­fent­lich­te die Jerusalemer Unversität einen zwei­ten, nach­ge­las­se­nen Band, «Anthology of Hasidic Music».

Joachim Stutschewsky, Cellist, Lehrer, Komponist und Publizist, wur­de 1891 als Sohn einer Klesmerfamilie in der Ukraine gebo­ren. Nach län­ge­rer Tätigkeit in Zürich und Wien flüch­te­te er, kurz vor dem «Anschluß», nach Palästina, wo er am Aufbau einer Neuen Jüdischen Musik betei­ligt war. Er ver­gaß jedoch sei­ne Ursprünge nie und ver­öf­fent­lich­te auch Schriften über die Geschichte der Klesmorim.

Die häu­fi­ge Missachtung sei­ner Tätigkeit in der neu­en Heimat hat ihn sehr ver­bit­tert. Kennzeichnend ist, dass sei­ne Autobiographie «Ein Leben ohne Kompromisse» nur in gekürz­ter Form auf hebrä­isch erschie­nen und heu­te kaum zugäng­lich ist. Das deut­sche Originalmanuskript befin­det sich in Stutschewskys Nachlass in Tel Aviv.

Der 13. Band der Reihe ist ganz Stutschewsky gewid­met. Er ent­hält, nebst einem aus­ge­zeich­ne­ten Vorwort Nemtsovs, eine Auswahl sei­ner Texte und Briefe; zu sei­nen Korrespondenten gehör­ten Pablo Casals, Rudolf Kolisch und Arnold Schönberg! Von Stutschewsky als Autor kön­nen wir einen Artikel über «Mussorgsky und die jüdi­sche Volksmusik» ent­decken, sowie sei­ne Erzählung «Der Wilnaer Balebessel», eine bio­gra­phi­sche Novelle über das tra­gi­sche Leben des sagen­um­wo­be­nen Kantors Joel David Straschunski (urspr. Lewenstein, 1816–1850).

Die Editionsarbeit ist bei allen Bänden vor­bild­lich; reich­hal­ti­ge Vorwörter, Anmerkungen, Notenbeispiele und Abbildungen machen die drei Publikationen zu uner­setz­li­chen Werkzeugen für Musikforscher. Aber auch der inter­es­sier­te Laie wird pro­fi­tie­ren kön­nen, sind die Bücher doch in einem ein­gän­gi­gen, flü­ßi­gen Stil geschrie­ben.

Als Pianist gibt Jascha Nemtsov regel­mä­ßig Konzerte, und auch die Sammlung sei­ner bis­her erschie­ne­nen CDs ist beein­druckend. Nach drei Titeln bei EDA Edition Abseits wech­sel­te er zu häns­s­ler clas­sic, wo er sowohl Solo- wie Ensembleaufnahmen ein­ge­spielt hat. Zwei sei­ner neue­sten CDs sei­en hier erwähnt:
«The Krein Family» (alle­samt Weltersteinspielungen) ist einer erstaun­li­chen rus­sisch-jüdi­schen Musikerfamilie gewid­met: Abraham Krein war Klavierstimmer, Klesmer und Badchen (Zeremonienmeister bei Hochzeiten) und hat­te sie­ben eben­falls musi­zie­ren­de Söhne. Zwei davon – Alexander (1883–1951) und Grigori (1879–1957) – sind auf die­ser CD ver­tre­ten.
Alexander Krein war in der Moskauer Abteilung der St. Petersburger Gesellschaft für jüdi­sche Volksmusik aktiv. Nach der Revolution näher­te er sich mehr und mehr den Tendenzen der sowje­ti­schen Kultur. 1925 aller­dings kom­po­nier­te er noch sei­ne «Zwei Stücke über jüdi­sche Themen» für Klavier. Die letz­te Melodie die­ser klei­nen Suite ist eine alte chas­si­di­sche Weise, die spä­ter unter dem Titel «Hava nagi­la» (mit hin­zu­ge­füg­tem Text) welt­be­rühmt und lei­der auch oft ver­ball­hornt wur­de.
Grigoris Kompositionen waren kühn und scheu­ten kei­ne Experimente, was ihn zum Außenseiter mach­te. Die von Nemtsov ein­ge­spiel­te Zweite Klaviersonate zitiert lit­ur­gi­sche Melodien aus der Synagoge, aller­dings in sehr «neu­tö­ne­ri­schem» Gewand.
Grigoris Sohn Julian (1913–1996) war ein Wunderkind. Er spiel­te mit drei Jahren Klavier und begann sechs­jäh­rig zu kom­po­nie­ren. Ein 1925 statt­fin­den­des Hauskonzert mit sei­nen Werken wur­de zur Sensation. Er inter­es­sier­te sich sehr für tra­di­tio­nel­le Musik ver­schie­de­ner Völker, was in sei­nem wun­der­schö­nen, 1956 geschrie­be­nen «Stück über ein Slowakisches Thema» deut­lich zur Geltung kommt.

«Another Schönberg» ist eine Doppel-CD, die Werken von Jakob Schönberg gewid­met ist; er ist mit sei­nem berühm­ten Namensvetter nicht ver­wandt, und heu­te so ziem­lich ganz ver­ges­sen. 1900 in Fürth, dem «Fränkischen Jerusalem», als Sohn eines Kantors gebo­ren, wur­de er schon als Student zu einem Spezialisten für deut­sche Synagogalmusik. 1938 flüch­te­te er nach England, 1948 rei­ste er als Lehrer in die USA.
Besonders schön sind sei­ne «Zwei Hebräischen Lieder» für Gesang, Flöte und Bratsche, und die «Drei Liebesgesänge nach Jehuda Halevy» für Gesang und Klavier. Halevy war einer der bedeu­tend­sten hebräi­schen Dichter des Mittelalters. Für sei­ne Vertonung benutz­te Schönberg die wun­der­ba­re deut­sche Übertragung von Franz Rosenzweig. Die Sopranistin Tehila Nini Goldstein geht gänz­lich in die­sen Kompositionen auf.
Interessant ist auch Schönbergs Chassidische Suite für Klavier, die jüdi­sche Melodien mit barocken Formen, aber in «moder­nem» Klang ver­bin­det (Praeludium, Arie, Fuge).
Zur Interpretation kann man getrost fest­stel­len, dass Nemtsovs Klavierspiel sich auf der glei­chen hohen Qualitätsstufe bewegt wie sei­ne schrift­stel­le­ri­sche und edi­to­ri­sche Arbeit!

Erwähnte Titel aus der Serie Jüdische Musik, alle ver­legt beim Harrassowitz Verlag Wiesbaden:

Band 1: Karl E. Grötzinger (Hg.): Klesmer, Klassik, jid­di­sches Lied – Jüdische Musikkultur in Osteuropa (2004)
Band 7: Elvira Grötzinger und Susi Hudak-Lazic: «Unser Rebbe, unser Stalin …» (mit CD) (2008)
Band 11: Jascha Nemtsov: Doppelt ver­trie­ben (2013)
Band 12: Jascha Nemtsov (Hg.): Jüdische Musik als Dialog der Kulturen (2013)
Band 13: Joachim Stutschewsky: Der Wilnaer Balebessel
Texte und Briefe: (2013)

CDs mit Jascha Nemtsov:
· «The Krein Family» Profil Hänssler PH 13059

· «Another Schönberg» Profil Hänssler DCD PH 12023 (2 CDs)
(Tehila Nini Goldstein, Sopran; Frank Reinecke, Violine; Stefan Fehlandt, Bratsche; Stephan Forck, Cello; Eleonore Pameuer, Flöte, Jascha Nemtsov, Klavier.)

Zahlreiche wei­te­re CDs mit Jascha Nemtsov – z.T. solo, z.T. gemein­sam mit andern Musikern – sind in den letz­ten Jahren bei Profil Hänssler erschie­nen. In dem Zusammenhang sei auch an eine 1999 bei cpo erschie­ne­ne, sehr schö­ne Doppel-CD mit Klarinettenquintetten zu jüdi­schen Themen erin­nert. Dieter Klöcker (Klarinette) und das Vlach Streichquartett (Prag) sind die Interpreten (cpo 999 630–2).

*****

Es ist lei­der eine alt­be­kann­te Tatsache: Wer sich mit Judentum befasst, wird frü­her oder spä­ter mit dem Thema Antisemitismus kon­fron­tiert. Dass die­ses Phänomen nicht tot­ge­schwie­gen, son­dern mehr und mehr sorg­fäl­tig ana­ly­siert wird, ist aller­dings posi­tiv, ist doch Ignoranz das größ­te Übel im Umgang mit Vorurteilen. Als Beispiele für Werke, die sich mit Antisemitismus in der deut­schen Literatur befas­sen und dabei sehr tief­ge­hen­de Analysen bie­ten, sei­en hier «Das uner­hör­te Wort» von Martha B. Helfer und «Romantischer Antisemitismus» von Wolf Daniel Hartwich kurz bespro­chen.

«Das uner­hör­te Wort» erschien 2011 in den Vereinigten Staaten, der Göttinger Wallstein Verlag hat es 2013 in einer Übersetzung von Christophe Fricker her­aus­ge­ge­ben. Die deut­sche Fassung hat den Vorteil, dass die Zitate aus den bespro­che­nen Werken in der Originalsprache zu lesen sind. Untersucht wer­den Schriften von Lessing, Schiller, Arnim, Droste-Hülsoff, Stifter und Grillparzer.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Autorin ihr Thema mit gro­ßer Sorgfalt und Hingabe behan­delt. Dabei geht sie aber m. E. gele­gent­lich zu weit in ihrer Analyse, d.h. Ihre Bezeichnung gewis­ser Stellen als «anti­se­mi­tisch» kann frag­wür­dig sein.

Nehmen wir als Beipiel die Erzählung «Abdias» von Adalbert Stifter. Frau Helfer sieht in ihr einen Beweis, dass Deutsche und Österreicher die Juden für nicht inte­grier­bar hiel­ten. Dabei stellt sie rich­ti­ger­wei­se fest, dass es «den mei­sten Deutschen und den mei­sten Österreichern weni­ger um die Frage der Bürgerrechte (ging), sie mach­ten sich viel­mehr Sorgen, da die Juden als Volk einen fremd­ar­ti­gen, aus­län­di­schen Charakter besä­ßen … Im sel­ben Atemzug stell­ten sie meist auch die mora­li­sche Rechtschaffenheit der Juden infra­ge.» Nun ist aber gera­de Abdias, ein dun­kel­häu­ti­ger Jude aus Nordafrika, mehr durch exo­ti­sche Herkunft und Aussehen als durch sein Jude-sein ein «Fremder», er, der aus sei­nem Höhlendasein in ein Haus auf dem Land bei Wien zieht. Seine Geschichte ist tra­gisch, und Srtifter will am Beispiel des «Juden Abdias» zei­gen, wie auf einen Menschen eine «Reihe Ungemach aus hei­term Himmel fällt … Dies war den Alten Fatum, furcht­bar letz­ter, star­rer Grund des Geschehenden …». Dass Stifter einen Juden in den Mittelpunkt sei­ner Erzählung stellt, könn­te mit eini­gen Parallelen zur Hiobsgeschichte zu tun haben. Dass Abdias als sehr geschäfts­tüch­tig dar­ge­stellt wird, muss nicht anti­se­mi­tisch gedeu­tet wer­den: Andere in sei­ner Lage wären wohl auch, um zu über­le­ben, zu geschick­ten Händlern gewor­den.

Besonders lobens­wert ist, dass die Autorin einen der unbe­kann­te­sten, aber fas­zi­nie­rend­sten Texte Schillers in ihre Untersuchungen ein­be­zieht: den Aufsatz «Die Sendung Moses» aus dem Jahre 1790. Zunächst ein­mal macht Schiller auf einen wich­ti­gen, von vie­len Historikern über­gan­ge­nen Punkt auf­merk­sam: den Zusammenhang zwi­schen Unterdrückung und mora­lisch-gei­sti­gem Niedergang. Die Israeliten, ver­sklavt, gepei­nigt und von Aussatz geplagt, kön­nen nicht zu einem gesit­te­ten, gebil­de­ten Volk wer­den, und – wie Schiller schreibt – man straf­te die Hebräer «immer här­ter für das Elend, wel­ches man ihnen doch selbst zuge­zo­gen hat­te». Diese Überlegung ist in der gan­zen jüdi­schen Geschichte von grund­le­gen­der Wichtigkeit. Man denkt an die Kombination von Abscheu und Mitleid, die der jun­ge Goethe bei sei­nem Besuch im Frankfurter Ghetto emp­fin­det. Oder an die den Juden von christ­li­chen Machthabern auf­ge­zwun­ge­ne Beschäftigung mit Geldverleih.

Schillers Theorie, Moses, als ägyp­ti­scher Prinz, wäre mit mono­the­isti­schen Tendenzen kon­fron­tiert wor­den und hät­te beschlos­sen, für die gepei­nig­ten Israeliten einen Glauben zu «grün­den» und sie zu befrei­en, kann natür­lich von der jüdi­schen Theologie nicht akzep­tiert wer­den; als Denkmuster ist sie inter­es­sant und kei­nes­falls per se anti­se­mi­tisch. Wieviel es brauch­te, um aus den befrei­ten Sklaven eine zivi­li­sier­te­re Gesellschaft zu machen, kann man in der Hebräischen Bibel nach­le­sen, wo oft genug vom «hals­star­ri­gen» Volk die Rede ist, das Gott und Moses beträcht­li­che Probleme berei­tet.

Ein Gedanke, den Martha Helfer im Zusammenhang mit Lessings «Nathan» ent­wickelt, ist beson­ders inter­es­sant: Die Titelfigur bleibt am Schluss ein Außenseiter; denn nach­dem die genea­lo­gi­schen Verwicklungen zum über­ra­schen­den Ende geführt haben ist Nathan der Einzige, der nicht zur Familie gehört …

Trotz der oben geäu­ßer­ten Einschränkungen ist die­ses Buch sehr emp­feh­lens­wert. Dass es manch­mal zum Widerspruch führt, ist für den Leser eine gedank­li­che Bereicherung, und es wird viel­leicht man­chen ermu­ti­gen, die bespro­che­nen Werke (wie­der) zu lesen.

Letzteres gilt auch für eine Publikation aus einem andern Göttinger Verlag, Vandenhoeck & Ruprecht: «Romantischer Antisemitismus» von Wolf-Daniel Hartwich, 2005 erschie­nen. Seine Analysen sind dif­fe­ren­zier­ter als die Martha Helfers. Der Titel aller­dings ist irre­füh­rend: Es geht natür­lich nicht dar­um, den Antisemitismus zu «roman­ti­sie­ren»; viel­mehr wer­den Beziehungen zum Judentum in der roman­ti­schen Epoche in Deutschland unter­sucht. Es wer­den noto­ri­sche Judenhasser wie Achim von Arnim, Clemens Brentano und Richard Wagner unter die Lupe genom­men. Interessanterweise fin­det Hartwich in Wagners «Parsifal» Spuren von Gedankengut der Kabbala, der jüdi­schen Mystik …

Es kom­men jedoch auch Dichter zu Wort, deren Einstellung zum Judentum eher zwie­späl­tig waren, wie zum Beispiel Johann Gottfried Herder, ein Bewunderer des Judentums und Befürworter der Toleranz, der aber dem Absolutheitsanspruch des Rabbinischen Judentums kri­tisch gegen­über­stand, und daher die Juden in Europa als «frem­des, asia­ti­sches Volk» betrach­te­te. Hartwichs Analyse der von Herder auf­ge­wor­fe­nen reli­giö­sen und sozio­lo­gi­schen Probleme im Zusammenleben zwi­schen den Religionen sind von größ­tem Interesse.

Besonders Zwiespältig ist die Haltung von E.T.A. Hoffmann. Dieser typisch roman­ti­sche Anhänger einer «Kunstreligion» betrach­tet die «phi­li­strö­sen» Bürger als sei­ne ärg­sten Feinde. Literarische Salons, wie sie sich damals sehr ver­brei­te­ten, hat er ger­ne besucht, dabei aber auch die pseu­do-Intellektuellen beob­ach­tet, die «mit Künstlernamen aller­lei Geschäfte» machen. Dass die­se unkünst­le­ri­schen Figuren sowohl in jüdi­schen wie in nicht­jü­di­schen Kreisen gefun­den wer­den konn­ten, ist klar. Als Reaktion auf den Erfolg jüdi­scher Salons wur­de im übri­gen die «Christlich-Deutsche Tischgesellschaft» gegrün­det, die die Aufnahme von Menschen jüdi­scher Herkunft ablehn­te, und in der Arnim und Brentano eine füh­ren­de Rolle spiel­ten.

In den Soirées der Familie Mark (vor der Taufe Marcus) in Bamberg ver­kehr­te Hoffmann oft, zumal er sich dort in eine der Töchter, Julie, ver­liebt hat­te. Sie war sei­ne Gesangsschülerin. Seine Liebe war lei­den­schaft­lich und wur­de zur Obsession, Julies Gefühle jedoch gin­gen nicht wei­ter als eine wohl­wol­len­de Sympathie. In der Erzählung «Die Brautwahl» ver­ar­bei­tet Hoffmann – wie gewohnt auf recht phan­ta­sti­sche Weise – die­ses Erlebnis. Dort spielt der Dichter aber auch auf den Konflikt zwi­schen dem ortho­do­xen (der alte Manasse) und dem assi­mi­lier­ten (sein Neffe Dümmerl) Juden an. Man muss auch bemer­ken, das der nicht­jü­di­sche Kommissionsrat Voßkamp genau so geld­gie­rig ist wie Manasse.

Es ist jedoch nicht zu leug­nen, dass anti­se­mi­ti­sche Klischees bei Hoffmann – aber kei­ne hass­erfüll­ten Diatriben! – vor­kom­men. Dies ist umso erstaun­li­cher, als sein bester Freund und groß­zü­gi­ger Gönner der (getauf­te) Jude Julius Eduard Hitzig war. Ein Symptom von Hoffmanns Schizophrenie und «Doppelgänger-Syndrom»?

Wolf-Daniel Hartwich zeigt, dass auch in der Kunst nicht Alles so ist, wie es zunächst erscheint; die Lektüre sei­nes Buches bie­tet zahl­rei­che Überraschungen, und sie regt zum Denken an; was will man mehr?

 

Martha B. Helfer: Das uner­hör­te Wort. Antisemitismus in Literatur und Kultur.
Deutsch von Christophe Fricker. Wallstein Verlag, Göttingen 2013

Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus: Von Klopstock bis Richard Wagner. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2005

*****

Lorin Maazel (1930–2014)
Kurz vor Redaktionsschluss erreicht uns die Nachricht vom Ableben des gro­ßen Dirigenten. Ein Nachruf erscheint in der September-Ausgabe.


 

Bild: Pianist Jascha Nemtsov / Foto © Rut Sigurdardóttir

Publiziert: ensuite Nr. 140,  August 2014

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo