[ob]seen – Tanzperformance nach Philippe Saire

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Von Verena Endtner - Philippe Saire und sei­ne Tanzkompanie spie­len am 20. und 21. September in der Dampfzentrale das neu­ste Werk [ob]seen. Das Stück spielt mit dem Grenzbereich, was auf der Bühne gezeigt wer­den darf und was nicht mehr. Bereits im Vorfeld ist klar, dass das Stück nicht ein­fach sein und Diskussionen aus­lö­sen wird. Wir haben mit Philippe Saire gespro­chen und ver­sucht, etwas mehr Beweggrund und Meinung in Erfahrung zu brin­gen. Das Interview führ­te Verena Endtner.

Jede ihrer Produktionen hat ein Grundthema, das im Verlauf des Arbeitsprozesses stän­dig wei­ter­ent­wickelt und hin­ter­fragt wird. Was war das Ausgangsthema für [ob]seen?
Das Grundthema von [ob]seen ist das zur Schau stel­len des Intimen, Persönlichen, wie es im Moment in der Kunst und auch in den Medien zele­briert wird. Tendenziell wird dabei alles, aber wirk­lich alles gezeigt. Das Intime und Private wird dadurch bana­li­siert, wird plötz­lich zu einer öffent­li­chen Angelegenheit. Im Gegensatz zu frü­her, als das Privatleben noch ganz klar vom Alltagsleben getrennt wur­de. Die Privatsphäre wur­de als etwas Unantastbares, Persönliches respek­tiert. Heute jedoch hat sich die Grenze zwi­schen den bei­den Bereichen ver­wischt. Wir haben unse­re Privatsphäre ver­lo­ren.

Wie haben Sie das Thema wei­ter­ent­wickelt? Was für Fragestellungen haben sich dar­aus erge­ben?
Schon bald dräng­te sich die Frage auf, wie weit kann die­ser Seelenexhibitionismus betrie­ben wer­den? Wo liegt die Grenze des Zumutbaren, sowohl in Bezug auf das Publikum als auch auf den aus­füh­ren­den Künstler? [ob]seen bewegt sich dabei immer am Limit, spielt mit den Einengungen der Grenzen, ver­sucht sie zu spren­gen und dadurch wie­der neu zu defi­nie­ren. In einem gewis­sen Sinne ist es aber auch ein Spiel mit der Toleranz des Publikums. Schlussendlich wird in [ob]seen eine Form von Dekadenz visua­li­siert, in der das Intime und Banale ent­hüllt und in den Mittelpunkt der Tanzperformance gestellt wird.

Was bedeu­tet der Titel [ob]seen?
[ob]seen setzt sich aus dem eng­li­schen obsce­ne ‚obszön’ und seen ‚sehen, hin­schau­en’ zusam­men. Die Zweiteilung ist sym­pto­ma­tisch für die Produktion, die einer­seits pro­vo­zie­rend und even­tu­ell schockie­rend wir­ken kann, ande­rer­seits aber auch das Beobachtende, Voyeuristische beinhal­tet. Mit dem Begriff ‚obszön’ im her­kömm­li­chen Sinn wird meist etwas sexu­ell Anrüchiges asso­zi­iert. Er bezieht sich weni­ger auf Entblössungen see­li­scher Art. Aber Seelenstriptease ist viel ent­hül­len­der als irgend­ei­ne Form von tra­di­tio­nel­ler, kör­per­li­cher Nacktheit.

Wo fin­den Sie die Inspirationen für Ihre Produktionen?
Prinzipiell sind es Themen die mich auch im Alltagsleben beschäf­ti­gen oder Fragestellungen, die ich mit mir her­um­tra­ge. Reality-TV stellt für mich eine Art von Inspiration oder gei­sti­ger Nahrung dar, da in Shows wie ‚Big Brother’ mit den Grenzen des Zumutbaren gespielt und die­se oft­mals über­schrit­ten wer­den. Das Intime erscheint dabei der­art vul­gär, dass es für den Zuschauer lang­wei­lig wird. Mein Ziel ist es, das Banale so dar­zu­stel­len, dass das Publikum wie­der Freude dar­an hat. Mit Hilfe mei­ner Choreographie ver­su­che ich dabei alle Aspekte des Themas in eine Sprache zu über­setz­ten, die pri­mär die Sinne anspricht.

Mit ihren bei­den letz­ten Werken ‚Impostures’ und ‚Les Affluents’ haben Sie ein neu­es Choreographie-Konzept ent­wickelt, das Sie auch bei [ob]seen ver­wen­det haben.
Also für mich ist die Choreographie jedes Mal wie ein Abenteuer. Ich ver­su­che, jedem Individuum genü­gend Zeit und Platz ein­zu­räu­men, damit sie ihre Eigenheiten in die Produktion ein­brin­gen und dabei ihr Potential best­mög­lichst ent­fal­ten kön­nen. In einem ersten Schritt wird dabei eine Gesamtstruktur ent­wor­fen, die, ähn­lich wie die Bleistiftskizze eines Kunstmalers, bevor er die Leinwand mit Ölfarbe trak­tiert, mehr intui­tiv erfolgt. Ideen, die wäh­rend die­ser Phase auf­kom­men wer­den auf­ge­nom­men und in einem zwei­ten Schritt geprüft, aus­ge­wählt und ver­fei­nert. Im nach­fol­gen­den Prozess kri­stal­li­sie­ren sich lang­sam die Aussagen, der Rhythmus und die Prioritäten her­aus, die dann in einem letz­ten Schritt in Bewegungen und Effekte umge­setzt wer­den. Das Konzept lässt einem viel Spielraum für Kreativität, ist aber zeit­in­ten­siv und hängt vom Engagement jedes Einzelnen ab.

Wo steht die Schweizer Tanzszene im Vergleich zum Ausland?
In der Schweiz hat es vie­le unab­hän­gi­ge Tanzgruppen, die sehr inter­es­san­te Produktionen erar­bei­ten und damit auch auf Tournee gehen. Ich den­ke, im Vergleich zum Ausland, ist es in der Schweiz nicht ein­fa­cher oder schwie­ri­ger, Erfolg zu haben, obwohl die finan­zi­el­len Mittel und die Förderung von der öffent­li­chen Seite recht limi­tiert ist.
Philippe Saire, herz­li­chen Dank für das Interview. Wie freu­en uns auf die Vorstellung am 20./21.September in der Dampfzentrale in Bern.

Biographie
Neben Stages im In- Ausland absol­viert der in Algerien gebo­re­ne Philippe Saire eine Tanzausbildung in moder­nem und klas­si­schem Tanz bei Philippe Dahlmann und Noemi Lapzeson. 1986 grün­det er eine eige­ne Tanzkompanie in Morges. Noch im sel­ben Jahr geht er mit sei­ner ersten Produktion enco­re tor­ri­de auf Tournee. Mit sei­nen anschlies­sen­den Performances par­esseux ver­ti­ges (1987) und 3 x rien (1987) gelingt es ihm das Interesse eines brei­te­ren Publikums zu wecken und er gewinnt den Nachwuchspreis Prix jeu­ne cré­a­teur de la Fondation vau­doi­se. Ab 1990 pro­fes­sio­na­li­siert er sei­ne Kompanie und ent­wickelt regel­mäs­sig min­de­stens eine neue Produktion pro Jahr, mit denen er welt­weit auf Tournee geht. Seit 1995 ist die Companie Philippe Saire in Lausanne, im Théâtre Sévelin 36 sta­tio­niert, eben­falss Austragungsort des Festival inter­na­tio­nal de dan­se de Lausanne.

Bild: Mario del Curto
ensuite, September 2003

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