Oben und Unten – Alt und Jung

Von

|

Drucken Drucken

Was bleibt haf­ten von der 65. Ausgabe des Filmfestivals in Locarno? Der Abschlussbericht wirft Schlaglichter auf «L’enfant d’en haut», «Die Kinder vom Napf», «More Than Honey», «Das Missen Massaker» und «Vergiss mein nicht» Er fragt nach der Krise als (kaum vor­han­de­nem) Gegenstand in den Festival-Beiträgen und hin­ter­fragt die Vergabe des Goldenen Leoparden an «La fil­le de nul­le part». Nachdenklich stimmt auch die Notiz zum Experten-Forum, wel­ches sich in Locarno dem Zustand und der Zukunft der Filmkritik – on- und off­line – wid­me­te.

«Hat hier jemand eine Uhr?» – «Eine Uhr?» – geht die Frage über den Marktplatz der Eitelkeiten. So steht’s im «Woyzeck» von Georg Büchner, geschrie­ben 1836. Es hat sich am Drama nichts geän­dert. Es ist immer noch die Uhr, wel­che das Prestige trägt, wel­che die Menschheit auf den Arm nimmt und in Gehäuse und Uhrwerke schei­det. Im Schweizer Edelkurort Zermatt tei­len sich die Welt von Oben und Unten gar die­sel­be Hausfassade, reiht sich eine Mc Donalds-Bude Tür an Tür zu Luxusuhren zwi­schen 50’000 und 200’000 Franken. Der Markt für gol­de­ne Kleinode und ticken­de Zeitbomben sozia­ler Kluft bricht durch kei­ne Wirtschaftskrise ein. Was auch die Zunahme von Luxusuhrengeschäften an der Zürcher Bahnhofstrasse zeigt. Der Tages-Anzeiger publi­zier­te soeben einen Artikel über «Die Zeichen der Zeit». Nur der Mittelstand ver­dünnt und ver­läuft sich in tri­ste Hochhäuser tief unten in der brau­nen Ebene, ins Niemandsland der Armut. Im Durchzug und Grauschleier von Autobahnen und Industriebrachen. Während man in der Höhe, den weis­sen Arenen, der Unschuld des Schnees mit Kanonen nach­hilft. Um das Karussell des Tourismus in Gang zu hal­ten. Doch fah­ren längst nicht mehr alle Ski und sind auch kei­ne gan­ze Nation. Es ist zu teu­er gewor­den, nur noch einer Elite vor­be­hal­ten.

«L’enfant d’en haut» (CH 2012)

So han­delt «L’enfant d’en haut» (CH 2012, Regie: Ursula Meier) vom 12-jäh­ri­gen Simon, der das topo­gra­fi­sche Gefälle über­win­det und das sozia­le her­aus­for­dert. Indem er Skis und Klamotten von den Touristen klaut und ver­hö­kert, um allein mit sei­ner arbeits­lo­sen Mutter zu über­le­ben. Dabei gibt er Louise, die sich aus Not auch pro­sti­tu­iert, als Schwester aus. Simon orga­ni­siert sich krea­tiv, nutzt die Nischen, Schächte, Personaleingänge und Hintertreppen der Freizeitscheinwelt aus, geht eben­so «Geschäftsbeziehungen» mit aus­län­di­schen Hilfsköchen ein, wie er als klei­ner Robin Hood an die Kinder im Tal Schneebrillen und ‑hand­schu­he zu Schleuderpreisen abgibt. Er durch­schaut die käuf­li­che Freiheit der Touristen als Attitude und nutzt sie als Rollen- und Maskenspiel, um an die Statussymbole her­an­zu­kom­men. Dabei lernt der gewief­te Jung- und Kleinganove die schö­ne Kristin ken­nen, eine eng­li­sche Lady mit gleich­alt­ri­gen Söhnen. Doch mit denen gibt es kaum was zu reden. Zu gross ist der Unterschied zwi­schen Überleben und Zerstreuung. Eine Kindheit hat nur, wer sie sich lei­sten kann. Doch Kristin erscheint Simon als gute Fee von einem ande­ren Stern sei­ner Sehnsucht nach einem bes­se­ren Leben. Das die Besitzer von Verbier’s Luxuschalets im Schutz ihres Geldes pfle­gen – auch dank dem Fleiss einer Subkultur von «Chalet Girls» und por­tu­gie­si­schen Putzkolonnen. So führt der Zufall Simon und Louise, da die­se wie­der mal Arbeit fin­det, zur Reinigung just ins Anwesen von Kristin, die Simon ali­as «Julian» wie­der­erkennt. Nun könn­te sich sozia­le Versöhnung anbah­nen – etwa eine Hauswartung als feste Arbeit für Louise. Kristin könn­te Simon auch sein Flunkern als «Julian» angeb­lich begü­ter­ter Eltern nach­se­hen. Doch da fehlt im Badezimmer plötz­lich ihre Prunk-Uhr – und fin­det sich in Simons Hosentasche wie­der. Mutter und Sohn wer­den auf der Stelle ent­las­sen. Einmal mehr trennt eine Uhr die Klassen! –

Mit ihrem alpi­nen Roadmovie gewann Ursula Meier im Februar in Berlin einen Silbernen Bären. Inzwischen läuft es euro­pa­weit in den Kinosälen, über­rascht ein so kri­ti­scher Blick in einem Schweizer Film auf die eige­nen Verhältnisse. Die Westschweizer Regisseurin stu­dier­te in Belgien. So fin­det sich auch die sozia­le Sensibilität der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne («Rosetta», 1999) wie­der.

«Die Kinder vom Napf» (CH 2011)

Der «Sonderfall» Schweiz war zuvor lan­ge auch einer des Schweizer Spielfilms – im Wohlstand fehlt es angeb­lich an rele­van­ten Geschichten. Vermeintlich, denn auch da gibt es sol­che zur Genüge. Das bewei­sen unse­re Dokumentarfilmer, die immer wie­der auch inter­na­tio­nal beach­te­te «Preziosen» schaf­fen. Das Wort ist nicht ohne Grund ver­wandt mit «Präzision»: Es ist der genaue und beharr­li­che Blick auf die Wirklichkeit, der die Stoffe fin­det. So bewähr­ten sich in Locarno auch 2012 wie­der die CH-Dokumentaristen.

Alice Schmid schau­te ein gan­zes Jahr lang auf «Die Kinder vom Napf» (CH 2011), deren Alltag im zer­klüf­te­ten Luzerner Wilden Westen, wo man auch Gold schürft. Sie kon­den­sier­te aus 400 Stunden Drehmaterial 90 Minuten, wor­in Thomas (11) sagt: «Mein Hobby ist das Mausen. Letztes Jahr schaff­te ich 120. Ich fan­ge Mäuse, weil sie die Wurzeln der jun­gen Apfelbäume auf­fres­sen. Papi gibt mir 50 Rappen für jede Maus. Heute gibt’s Mausefallen, die sen­den Dir ein SMS, wenn eine in die Falle geht.» – Nina (11) wohnt mit ihrem Bruder Lukas (9) unter der «Breitäbnet». Flurnamen zie­ren den Arsch der Welt. Jeden Morgen führt ihr Schulweg mit der Luftseilbahn über die 200 Meter tie­fe Goldbachschlucht: «Einmal haben wir mei­nen Bruder ver­ges­sen. Weil wir immer sin­gen im Bähnchen. Wir waren schon in der Luft. Da sahen wir ihn anren­nen und win­ken. Grossvater stopp­te, wir kehr­ten um.» – In einem sol­chen Kleinkosmos, in ähn­li­cher Landschaft, wo das Leben und die Versorgung der Leute an einem Drahtseil hän­gen, ver­or­te­te auch Fredi Murer, einer der weni­gen Filmpoeten die­ses Landes, einst sei­nen Klassiker «Höhenfeuer» (CH 1985). – Und der Topos des (lan­gen) Schulwegs inspi­rier­te Abbas Kiarostami zu «Wo ist das Haus mei­nes Freundes?» (Iran 1988).

Woran liegt es also, dass die Schweizer Dokumentarfilmer ihr Garn nicht wei­ter­spin­nen? Sie sind doch schon da, bei den Geschichten! Warum sprin­gen nicht mehr Funken ihrer ver­dien­ten Recherchen über zum dra­ma­ti­schen oder gar komö­di­an­ti­schen Fach? Humor ist auch so eine Fallgrube! Welche Scheu hin­dert an der Umsetzung in die Fiktion? Warum klafft zwi­schen den Genres eine sol­che Lücke der Angst? – Was ver­ne­belt einer­seits den Spielfilmautoren den Blick auf exi­sten­zi­el­le Inhalte, macht sie nar­ziss­tisch und lebens­fern, wäh­rend ande­rer­seits Experten der Wirklichkeit, die KollegInnen von der Dokumentarabteilung nicht die not­wen­di­ge Distanz zu den Fakten, an inne­rer Freiheit gewin­nen, um sub­stan­zi­el­le Stoffe in einem Spielfilm poe­tisch zu ver­dich­ten?

«More Than Honey» (CH 2012)

«More Than Honey» (CH 2012) von Markus Imhoof, urauf­ge­führt auf der Piazza Grande zum Ausklang des dies­jäh­ri­gen Festivals, hat als Dokumentarfilm sogar das Zeug zum Weltbestseller bei Festivals, Sendeanstalten und Bibliotheken. Wie schon «Microcosmos – Le peu­ple de l’herbe» (France 1996) der Biologen Claude Nuridsany und Marie Pérennou. Damals wur­de die klei­ne Kreatur der Natur zum ersten Mal zum Hauptdarsteller. Nun flie­gen dank Imhoof auch noch die Bienen in fan­ta­sti­scher Grossaufnahme bei Bakersfield in Kalifornien durch eine unend­li­che Monokultur duf­ten­der Mandelbäume, um 90% der Welternte zu bestäu­ben. Bienenfleiss wird längst indu­stri­ell genutzt. So schmun­zelt John Miller, US-Gross- und Wanderimker, zum Summen sei­ner 15’000 Bienenvölker: «Das ist der Klang des Geldes.» – Dafür lässt er Bienen wie Wanderarbeiter auf Trucks Tausende von Meilen quer durch die USA kar­ren von einer Plantage zur näch­sten. Solche Ausbeutung bekommt dem Stock Market, aber nicht dem Stock. Viele Bienen wer­den anfäl­lig für Krankheiten, ver­en­den an töd­li­chen Parasiten. Inzwischen droht die Varroamilbe auch in Europa einen erheb­li­chen Teil der Honigproduzenten zu ver­nich­ten – im Doppelsinn, genu­in und wirt­schaft­lich!

Der Film por­trä­tiert auch einen kau­zi­gen Bergimker in den Schweizer Alpen, der auf die robu­ste alte Landrasse sei­ner Bienenvölker schwört. Was sich erst wie ein rüh­ri­ger Werbespot für Swissness ansieht, ähn­lich der Reklame für das Rezept von Appenzeller Käse, ent­puppt sich erschreckend als Beispiel für nicht nur bie­nen­völ­ki­schen Rassenwahn. Wobei die gegen jede frem­de Königin und Drohnen ver­tei­dig­ten loka­len Insekten schliess­lich an ihrer Inzucht ein­ge­hen!

Imhoofs Zugang zum Thema ist ein per­sön­li­cher. Was neben­bei wohl auch der Schlüssel ist zu jedem guten Film. Seine Grossvater war schon Imker und sei­ne Töchter sind es noch im fer­nen Australien, wo auch der Schwiegersohn nach gene­tisch über­le­bens­fä­hi­ge­ren Bienen forscht. Deren Gefährdung ist akut: «If the bee dis­ap­pears from the sur­face of the Earth, man would have no more than four years left to live», rech­ne­te schon Albert Einstein die Grünfläche der Erde hoch auf unse­re Ernährung. – Imhoof: «Die Bienen ster­ben nicht ein­fach an Pestiziden, Antibiotika, Milben, Stress oder Inzucht: Es ist die Summe von allem. Sie ster­ben am Erfolg der Zivilisation!» – So summt in China durch wei­te Landstriche wegen der exten­si­ven Chemiekeule kei­ne Biene mehr, müs­sen Menschen als Bestäuber her, um Blüte um Blüte zu betup­fen. Die Massenproduktion endet wie­der da, wo sie begann – in vor­in­du­stri­el­ler müh­se­li­ger Handarbeit. Markus Imhoof gelingt nichts weni­ger als eine am erlah­men­den Bienenfleiss und am ver­stum­men­dem Summen ver­an­schau­lich­te Zivilisationskritik, er iden­ti­fi­ziert mit wenig Worten aber mit haf­ten­den Bildern den Menschen als Ursache. Dafür dreh­te er mit einer enga­gier­ten Crew fünf Jahre lang auf vier Kontinenten. In China wur­den sie bei­na­he ver­haf­tet, dort hat selbst die Frage, war­um die Bienen nicht mehr sum­men, fata­le Folgen.

Noch kann man die natür­li­chen Bestäuber im Kino bestau­nen: «More Than Money» folgt den Bienen mit­tels Minihelikopter zum Paarungsflug, beob­ach­tet dank Endoskop-Objektiven ihr sonst ver­bor­ge­nes Innenleben, ihre tän­zeln­de Verständigung als Schwarmintelligenz im sozia­len Superorganismus, der zuneh­mend bedroht ist. Hoffnung kommt aus­ge­rech­net von den bekämpf­ten Killerbienen, einer wil­den Mischung aus Afrika und Europa über den Umweg bra­si­lia­ni­scher Labore. Diese ver­fü­gen über eine viel höhe­re Resistenz, aber schwär­men, wohin sie wol­len. Eine phi­lo­so­phi­sche Parabel zur Wachstums-gren­ze des Kapitalismus an der Natur, am Leben – auch mensch­li­cher Freiheit?

«Das Missen Massaker» (CH 2012)

Michael Steiner ist so einer: «A wun­der­boy of the Swiss Cinema» – mein­te Olivier Père, der künst­le­ri­sche Direktor des Filmfestivals von Locarno, wohl auch etwas iro­nisch, als der hel­ve­ti­sche Regiestar der letz­ten Jahre mit sei­nem Hofstaat auf die Piazza ins Rampenlicht trat, um vor der Premiere von «Das Missen Massaker» (CH 2012) Huldigung ent­ge­gen zu neh­men. Mit «Nacht der Gaukler» (CH 1996) mach­te er von sich erst­mals reden als Talent, zumin­dest in for­ma­ler Hinsicht. Man konn­te in den Schwarzweiss-Thriller noch man­ches hin­ein­in­ter­pre­tie­ren: etwa den Bezug zu Orson Welles’ Verfilmung des Kafka-Romans «Der Prozess» (USA 1962) und ande­re Anleihen mehr. Man konn­te sich ergöt­zen am Schnitt und noch hof­fen – auf Inhalte, die sich mit der Reife der Jahre viel­leicht erge­ben. Denn das Handwerkszeug hat Michael Steiner zwei­fel­los. Ob das schon genügt zum Filmautor?

So brach­te er uns in «Grounding» (CH 2006) die har­te Landung der Swissair und eben­so unse­rer natio­na­len Identität aus blau­em Himmel mit rot-weis­sen Kreuzen zu Gemüt. Aber so rich­tig gin­gen auch Literaturverfilmungen wie «Mein Name ist Eugen» (CH 2005), noch sein Skandalon bei der Produktion zu «Sennentuntschi» (CH 2010) unter die Haut. Dafür war der Blick auf die Verhältnisse zu skiz­zen­haft und sum­ma­risch. Verdichtung hat mit Genauigkeit zu tun, zeigt im Kleinen das Grosse, im Nahen das Ferne und fern das Vertraute, nicht umge­kehrt. Wahre Filmautoren haschen nicht nach Effekt, ver­mit­teln Magie auch in stil­len Bildern. Umso kri­ti­scher ist Steiners Missen-Kissen-Film auf RTL-Niveau zu hin­ter­fra­gen: Vielleicht ist Steiners Aufstieg aber auch ein mas­sen­kul­tu­rel­les Phänomen, surft da nur ein Schlaumeier in der Eventkultur auf einer infan­ti­len Popcorn-Wolke.

Für wie dumm hält so ein Aufguss an fil­mi­schen Zitaten das Publikum? Und noch erstaun­li­cher: Wie viel öffent­li­che und pri­va­te Förderung ermög­lich­ten so ein plum­pes Elaborat! Befinden sich die Kommissionen, wel­che Geld ver­ge­ben, in sol­cher Verzweiflung? Fehlt es im Deutschschweizer Film so sehr an Autoren, die was zu erzäh­len haben? Wissen die Kulturpfleger nicht, wohin mit den Mitteln? Nachdem man jah­re­lang für mehr kämpf­te und immer noch kämpft! – Auch die Kalkül der Erhaltung von Arbeitsplätzen der Condor Films als Produktionsfirma stellt dem gleich­zei­tig für sein Lebenswerk geehr­ten Produzenten Martin Fueter alles ande­re als ein acht­ba­res Zeugnis aus. Steiners bil­li­ger Reisser «mas­sa­kriert» nicht nur schö­ne Missen, son­dern auch nach­hal­tig den Ruf der Filmförderung!

«Starlet» (USA 2012)

Künstlerisch und mensch­lich erho­len konn­te man sich die­ses Jahr in Locarno etwa am lei­se­ren Film «Starlet» (USA 2012, Regie: Sean Baker), der eben­so von Missen han­delt – aller­dings der Pornobranche. Das San Fernando Valley, auch «Silicone Valley», «Porn Valley» oder «San Pornando Valley» genannt, zieht seit den 70-er Jahren aus allen Ecken der USA Provinzschönheiten in die Illusions-fabri­ken der Lust. Durch die­se Vororte von L.A. zie­hen sich end­los Strassenzüge, einer wie der ande­re. Anonym sind auch die zwi­schen­mensch­li­chen Beziehungen in einer Hype-Kultur von Kokain-Nasen, die jede Woche aus dem Nice-Body-Reservoir von 1’500 DarstellerInnen in 200 Studios 200 Schmuddelfilme dreht. Insgesamt erwirt­schaf­ten rund 6’000 Mitarbeiter mit 90% Anteil an der US-Adult Film Industry einen jähr­li­chen Umsatz von über 2 Milliarden US-Dollar, womit die­se der Traumfabrik des beklei­de­ten Films im nahen Hollywood (2010: 2,8 Milliarden Euro) bald den Rang ablau­fen. In die­sem Umfeld schlägt sich Jane (Dree Hemingway) mit ihrem Chihuahua-Hündchen «Starlet» durchs Leben. Bonanza scheint es nicht. Sie kauft sich Möbel vom Trödel und fin­det in einer Thermoskanne eine hüb­sche Summe alter Dollars. Zunächst will sie den Fund der alten Frau erstat­ten, die ihr den Trödel ver­kauf­te. Aber das klappt nicht, also sucht sie ihr auf ande­re Art Gutes zu tun. Auch das ist kein ein­fa­ches Unterfangen. So nähern sich Ernest Hemingways Grossenkelin ali­as Jane und die 85-jäh­ri­ge Besedka Johnson als bär­beis­si­ge Sadie über Hürden und Umwege an. Ihre Freundschaft unter Einsamen über die Kluft von 65 Jahren steht auf dem Prüfstand, als die Wohnungskumpelin Melissa, wie Jane auf dem Porno-Set tätig, aus Eifersucht petzt. Sadie ist schon dabei, ihre geplan­te Reise nach Paris, bis­her nur ein Kinotraum aus «Frühstück bei Tiffany» mit Audrey Hepburn an ihrer Küchenwand, plat­zen zu las­sen. Doch legt sie das Kleid wie­der in den Koffer zurück. «Starlet» ist ein wun­der­bar fein­füh­li­ger Film des American Independent Cinema über ech­te Gefühle im Mekka des Unechten, wo Menschen nur noch eine bum­sen­de Ware sind und wie aus Plastik lächeln.

«Vergiss mein nicht» (D 2010)

«Das geht abso­lut nicht, das stellt Menschen bloss!», ent­rü­stet sich ein Veteran von Auftragsfilmen an der Uferpromenade in Ascona. Doch das küm­mert die Wellen nicht. Denn Alzheimer ist seit Jahren in den Medien prä­sent. Es gibt Bücher von Betroffenen als letz­te Begleiter. Und doch ent­zieht sich Aussenstehenden die­se zuneh­men­de Realität, je mehr die Schlagzeilen dar­über häm­mern. «Vergiss mein nicht» (D 2010, Regie: David Sieveking) schliesst nun die­se Lücke als wäh­rend drei Jahren gefilm­te Nahaufnahme eines sol­chen Verlustprozesses. Ein eben­so behut­sa­mer wie scho­nungs­lo­ser Dokumentarfilm des Sohnes im Dialog mit sei­ner Mutter: «Du bist doch hier Zuhause.»«Hier? Keine Ahnung. Hier war ich noch nie.» – Das ist nur eine der bestür­zen­den Szenen im Elternhaus von David Sieveking. Auch Malte, sei­nen Vater, erkennt Gretel irgend­wann nicht mehr, was die Augen des eme­ri­tier­ten Mathematikers wäs­sert. So stellt sich tat­säch­lich die Frage nach dem Schutz ihrer aller Intimität. Aber sind nicht die Beteiligten am ehe­sten befugt, über die Verknüpfung von Sterben als Teil des Lebens mit dem Film – als Medium zur Öffentlichkeit – sel­ber zu ent­schei­den!

So schaf­fen Mikrofon und Kamera einen Weg aus der Ohnmacht vor Gretels zuneh­men­der Demenz zum Manifest der Liebe gegen grau­sa­me Vergänglichkeit. So sichert die Familie ihre Erfahrung vor dem Vergessen. Doch war­um soll man sich einen Film über ein so schwe­res Thema antun? – Sieveking: «Weil es auch Spass macht, sich damit zu beschäf­ti­gen. Alzheimer hat viel komi­sches Potenzial und lehrt einen so man­ches über das Leben. Es ist eine phi­lo­so­phi­sche Krankheit. Weil sie zeigt, wie es ist, wenn man sein Gedächtnis ver­liert.» – Also arbei­tet der Sohn mit Gretel und Malte auch die Geschichte sei­ner Eltern auf, deren Irrungen und Wirrungen der 68er-Generation mit einem 7‑jährigen Aufenthalt in Zürich als Fichierte des Schweizer Staatsschutzes. Als das Thema ihrer «Offenen Ehe» zur Sprache kommt, die stän­di­gen Eskapaden des Vaters auf Kosten sei­ner Frau, erwacht Gretel plötz­lich aus dem Dämmerlicht, als wären das mensch­lich Tiefste, die Liebe und ihre Narben von sol­cher Zerstörung bis zum Tod nicht betrof­fen. «Vergiss mein nicht.» erhielt den Preis als bester Film der Semaine de la Critique.

Was bleibt

Was sonst bleibt haf­ten von der 65. Ausgabe des Filmfestivals in Locarno? – Lyrische Stimmungen in «Not in Tel Aviv» (Israel 2012, Regie: Nony Geffen). Die «Nouvelle Vague» scheint im Pulverfass des Nahen Ostens wie­der zu auf­er­ste­hen. Wo soviel sinn­li­che Leichtigkeit mög­lich ist, film­äs­the­ti­scher Charme und Chuzpe auf­kommt, ist das «Unheilige Land» noch nicht ganz an den Bruderkrieg ver­lo­ren.

«Boa Sorte, Meu Amor»(Brasil 2012, Regie: Daniel Aragão) nimmt wie «Central do Brasil» (Central Station, 1999) dem ita­lie­ni­schen Neorealismus ver­bun­den, das «Cinema Novo» des Glauber Rocha wie­der auf – als unge­schmink­ter Blick auf die Zerrissenheit in der inzwi­schen sechst­gröss­ten Wirtschaftsmacht der Welt: zwi­schen Metropole und Hinterland, Tradition und Moderne. Letztere setzt denn auch star­ke Zeichen mit einer durch­ge­hend fes­seln­den Bildsprache und Tonspur.

«Lore» (Australien 2012, Regie: Cate Shortland) zeig­te erst­mals in Cinerama auf der Piazza die Flucht von Deutschen bei Kriegsende durch den brau­nen Morast innen und aus­sen. Eine dra­sti­sche Veranschaulichung, dass Tod und Gewalt im Kino nie­mals Selbstzweck, aber eben­so auch nicht zu ver­drän­gen sind – gera­de aus Achtung vor dem Leben. Wenn sich dar­aus ein gewalt­kri­ti­sches Bewusstsein ent­wickelt. So geschieht es mit der 15-jäh­ri­gen Lore, deren ver­blen­de­tes Bild des Nationalsozialismus und ihres «Führers» an Widersprüchen und dem Unrecht Risse zeigt und am Ende zer­springt wie der ver­lo­ge­ne Kitsch von Bambi-Figuren.

Das war’s dann, oder doch nicht? – Gab’s nicht noch eine Abwesende? Ein Gast, den Olivier Père und Marco Solari ent­we­der ver­gas­sen (es gibt dafür schon eine Schere im Kopf) oder tun­lichst ver­mie­den: Der die Kulinarik der Empfänge am schö­nen Lago hät­te stö­ren, zahl­kräf­ti­ge Sponsoren hät­te ver­grau­len kön­nen? – Also kam sie auch nicht, hielt sich ans Verbot – die Krise. Die bekannt­lich auch eine der Banken ist. Sie ver­steck­te sich die­ses Jahr so unauf­fäl­lig im Programm, als gäbe es sie nicht. Als gäbe es kei­ne Angst am und um den Arbeitsplatz – trotz der höch­sten Rate von (Jugend-) Arbeitslosigkeit seit Bestehen Europas. Bis auf «Compliance» (USA, 2012, Regie: Craig Zobel) im Internationalen Wettbewerb und «The Mass of Men» (GB 2012, Regie: Gabriel Gauchet) in der Sektion «Pardi di doma­ni» war die Arbeitswelt im fil­mi­schen Potpourri des Zeitgeists kaum ein Thema. Dafür sehr viel spek­ta­ku­lä­re Gewalt. Gibt es einen Zusammenhang? Gibt die Zeit ihren Geist auf?

So kann man auch den Entscheid der Jury des Hauptwettbewerbs zur Vergabe des «Goldenen Leoparden» durch­aus ver­ste­hen: als Ausdruck von Ratlosigkeit. Sie flüch­te­te vor dem rea­len Gespenst der Krise in ein alt­backe­nes Kammerspiel, zu einem geschwät­zi­gen Bücherwurm in eine Pariser Wohnung, ohne Kontakt zur Aussenwelt. Stattdessen sucht der pen­sio­nier­te Lehrer Michel (der Regisseur) in «La fil­le de nul­le part» (F 2012, Regie: Jean-Claude Brisseau) mit­hil­fe einer jun­gen Frau, die als schö­nes Geschöpf des Zufalls sein papie­re­nes Leben erhellt, nach Hausgespenstern, dabei brin­gen sie Tische zum Schweben und schwa­feln von Reinkarnation. So läp­pi­scher Eskapismus in die Welt der Wunder, gehäuft, wenn die Tatsachen der Welt schwie­rig wer­den, kann daher nicht ver­wun­dern.

Dafür heisst es nun, von den wun­der­ba­ren Bilderfluten Abschied neh­men, von dem Sog, der einen über zehn Tage und Nächte trug. Von dem Fieber, das einen gesun­der und run­der mach­te fast so weit wie der blaue Planet. Auch im Film zu rei­sen bil­det. Man wird vor­über­ge­hend ein ande­rer als zuvor. Die Sinne öff­nen sich, der sonst ver­hetz­te Blick ruht, Gehör und Nase ver­wei­len. So schafft die mensch­li­che Kunst als künst­li­che Verdichtung gera­de ihre Annäherung an das Natürliche – wie schon Leonardo da Vinci (1452–1519) ver­such­te, beweg­tes Wasser zu zeich­nen.

Das Ende der Zeit ist stets ein Anfang

«Do Film Critics Still Matter?» – war die rhe­to­ri­sche Frage, zu der fünf Experten in eige­ner Sache und nur eine Frau (!) mit gerun­zel­ter Stirn auf dem Podium sas­sen. Die Frage wird für sie dring­lich, denn nicht nur Frauen, son­dern bald auch jeder Leser tut im digi­ta­len Netz zu allem sei­ne Meinung kund. «Wer schützt da noch intel­lek­tu­el­le Kompetenz?» – Gemeint sind wohl eher Privilegien. – «Denn rich­ti­ge Filmkritik», war Mann sich auf dem Podium einig, «kön­ne nur in seriö­sen Medien statt­fin­den». – Das Internet zählt schein­bar nur in Ausnahmefällen dazu. «Es gibt zwar Blogs und acht­ba­re Stimmen in den Sozialen Medien», säu­sel­te Eric Kohn, sel­ber Chef-Filmkritiker von indieWIRE.com, einer Plattform im Web seit dem Sundance Festival 1997 als Gegenstimme des «Indie» (Independent American Film) zum «Hollywood Reporter»: Doch Filmkritik sei mehr, als sich bloss kund­zu­tun, «nötig ist eine ‚voice of aut­ho­ri­ty’ in Sachen Film» – eine «auto­ri­tä­re Stimme», um sich gegen die Amateurkritiker zu behaup­ten. Ein Berufsstand in der Defensive? – Was ist denn der ent­schei­den­de Gewinn im Zeitalter der Information? – Ihr brei­ter Zugang. Die Geheimtüren wei­chen Portalen. Wissen war ein­mal Macht. Hier dau­ert das noch: Nur wer von Empfängen weiss, kann dort Gutes kosten!

«L’altra Sala» heisst einer der Kinosäle des Festivals von Locarno. Nennen wir das Geheimnis der Kunst doch eben­so «L’altro Spazio». Gemeint ist der Raum und die Zeit, wel­che Kunstwerke des Films – alle Kunst – im besten Fall ver­mit­teln: Wir betre­ten einen ande­ren Raum, eine ande­re Zeit jen­seits unse­rer übli­chen Grenzen. Um die wir erst wis­sen, wenn wir sie über­schrei­ten. Womit auch Peter Mettler noch sei­ne Erwähnung ver­dient von «The End of Time» (CH 2012): eine im Lärm der Profilierungen unter­schätz­te medi­ta­ti­ve Expedition zu archai­schen Landschaften der Erde. So auch zum Riesenteleskop La Silla in der Chilenischen Atacamawüste. Wir schau­en durch das ein­sa­me Superauge in den unend­li­chen Kosmos – an die Grenzen und in die Tiefe unse­rer Wahrnehmung, zu dem also, was wir in unse­rem kur­zen Dasein für «wahr» neh­men. Den Weizen oder die Spreu. – Nun ist’s aber genug: Der Palazzo FEVI gehört wie­der dem Mehrzweck.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo