Ich bin Penelope, Kassandra und Circe

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Von Dr. Regula Stämpfli - Die Weltgeschichte, anders erzählt, öff­net Perspektiven des Jetzt und der Zukunft. Lesen Sie des­halb Margaret Atwoods «Die Penelopiade», Christa Wolfs «Kassandra» und Madeline Millers «Ich bin Circe». Sie fül­len wich­ti­ge Leerstellen des femi­ni­sti­schen, klas­si­schen Altertums und ver­lei­hen den Frauen mäch­ti­ge Stimmen.

«Die Penelopiade» von Margaret Atwood erzählt die «Odyssee» aus der Sicht der gros­sen Weberin Penelope. Christa Wolf bekämpft mit «Kassandra» das Patriarchat, fei­ert das Matriarchat und beweint des­sen Scheitern. Madeline Millers «Ich bin Circe» befreit alle Frauen von patri­ar­cha­len Normen wie Angst und Hierarchie. Von die­sen drei Werken ist nur Millers neu. Die bei­den ande­ren stam­men aus einer Zeit, die als die gol­de­nen 1970er/1980er gelebt wur­de. Damals, als Guerilla Girls, Valie Export, Judy Chicago, Barbara Kruger, Marina Abramovic, um nur eini­ge zu nen­nen, den Kunstmuseen eine femi­ni­sti­sche Moderne bescher­ten, die von den Männer-Intendanten in den 1990er-Jahren, den Harvey-Weinstein-Filmen sowie «Sex and the City»-Tussen mit gros­ser Brutalität und Frauenhass beer­digt wur­de.

Lange galt Margaret Atwoods «Die Penelopiade» als unver­ständ­lich femi­ni­sti­scher Insider. Er wur­de im deutsch­spra­chi­gen Raum auch grot­ten­schlecht rezen­siert. Christa Wolfs «Kassandra» wur­de vom unsäg­li­chen Mülltonnen-Verwerter Denis Scheck erst kürz­lich  als zweit­schlech­te­stes Buch nach «Mein Kampf» von Adolf Hitler ver­brannt (!). Madeline Millers «Ich bin Circe» hat es weder in «Aspekte» noch in den «Literaturclub» geschafft: so viel zur Fehlkonzeption des deutsch­spra­chi­gen Feuilletons. Denn alle drei, wären sie bei Atwood und Miller nicht so feh­ler­haft über­setzt, sind gross­ar­ti­ge Werke.

«Die Penelopiade» schil­dert Odysseus’ Irrfahrten neu, aber dies­mal aus der Perspektive von Penelope, der Gattin des ver­schol­le­nen Helden. Zwanzig Jahre harrt Penelope aus, zehn davon mit 100 Bewerbern, die ihr Haus bela­gern und um ihre Hand anhal­ten. Sie wehrt sich mit einer List gegen den neu­en Eheschluss, der sie nur wie­der unter Männerherrschaft wer­fen wür­de. Sie webt sich sprich­wört­lich vom männ­li­chen Begehren frei. Ihr als tugend­haft aus­ge­leg­ter Wunsch, dem Schwiegervater ein Leichentuch zu weben, ver­schafft ihr Zeit. Tagsüber webt sie, nachts löst sie die Fäden. Erst wenn das Leichentuch fer­tig sei, so Penelope, wer­de sie einen Bewerber erhö­ren.

Margaret Atwoods Buch ist schreck­lich, brül­lend, lei­se, erschüt­ternd und bewe­gend gut. Die Geschichte wan­dert vom Abschied zum Wiedersehen mit Odysseus. Der Held rich­tet über­all Blutbäder an. Zuerst in Troja durch eine List, dann auf sei­nen diver­sen Stationen der zehn­jäh­ri­gen Rückkehr, schliess­lich zu Hause mit dem bru­ta­len Mord der zwölf ein­fäl­ti­gen, müh­sa­men Mittäterinnen des Patriarchats, der jun­gen Mägde. «Jetzt, da ich tot bin, weiss ich alles.» Penelope ent­larvt die Legenden um ihre Person. «Folgt mei­nem Beispiel nicht», rät sie den Angekommenen in der Unterwelt.  Zudem: «Ich brau­che kaum zu sagen, dass der Tod ein viel zu hoher Preis ist, sei­ne Neugier zu befrie­di­gen.» Wie oft möch­te ich die­sen Satz den miso­gy­nen Reproduktionstechnikern ins Gesicht schrei­en – doch dies nur neben­bei.  «Die Penelopiade» legt patri­ar­cha­le Gewalt scho­nungs­los offen. Die ermor­de­ten Mägde besin­gen Odysseus ganz anders als des­sen jahr­tau­sen­de­al­te Rezeption: «Mit Nutten und Nymphen nach Belieben, an allen Küsten die­ser See, hast du’s getrie­ben. Viel weni­ger taten wir, als was du getan, und doch star­ben wir hier.» Atwood schil­dert die Nöte der Frauen, die, egal was sie denn auch tun, es nie rich­tig machen. Dabei schont sie aber nie­man­den; nicht ein­mal ihre Heldin.

Womit wir bei «Kassandra» von Christa Wolf ange­langt wären. 1986 erhielt ich den damals begehr­ten «Ersten Fakultätspreis» mei­ner Universität. Der Schrift hat­te ich ein Zitat aus dem Werk vor­an­ge­stellt: «Die Männer, schwach, zu Siegern hoch­ge­puscht, brau­chen, um sich über­haupt noch zu emp­fin­den, uns als Opfer.» Besser kann frau die «stra­te­gi­sche Synthese des Geschlechts» wie ich mei­ne Dissertation dann 1999 been­de­te, nicht beschrei­ben. Christa Wolfs visio­nä­res Buch von 1983 schlug ein wie eine Bombe und beflü­gel­te die jun­ge Intellektuellen-Generation, zu der ich damals gehör­te. Sie beschreibt dar­in sowohl den West-Widerstand der jun­gen Menschen gegen die Stationierung der nuklea­ren Waffen mit­ten in Europa als auch die deso­la­te Situation der män­ner­mäch­ti­gen, par­tei­po­li­tisch ver­kru­ste­ten DDR. Die Intellektuelle des klas­si­schen Altertums, Kassandra, die für ihre Verweigerung, mit einem Gott zu schla­fen, bestraft wird, ver­kör­pert wie kei­ne ande­re alle Frauen, die den­ken. Sie kennt die Zukunft, sie weiss alles und nie­mand hört ihr zu. Ihr Ende ist wie ihr Beginn: männ­li­che Zurechtweisung mit Todesfolge. Christa Wolf wagt den Held aller Helden, Achill, als «das Vieh» zu bezeich­nen und ent­larvt Agamemnon als «Ehrenmörder» sei­ner Tochter, als Vergewaltiger, als einer die­ser Kotzbrocken, die uns auch heu­te lei­der täg­lich über den Bildschirm lau­fen. Kein Wunder, mag Denis Scheck «Kassandra» nicht. Denn wie ähn­lich ist er doch aus­ge­rech­net jenen Männern, die Kassandra mes­ser­scharf ent­zau­bert.

Die neu­ste Version des Trojanischen Krieges besingt Madeline Miller mit «Das Lied des Achill». Auch dies fas­zi­nie­rend, doch nie so mit­reis­send wie «Ich bin Circe». Leider ist auch die­ses Werk schlecht über­setzt. Deshalb emp­feh­le ich allen das Original. Die Geschichte der Nymphe ist die der Zauberin, die alle Männer in Schweine ver­wan­deln kann. Als ob dies Männer nicht eh schon wären! Dies ist auch Teil der fei­nen Ironie im Roman. Circe macht Fiktionen zu Realität und umge­kehrt. Sie ist eine «Pharmakis» – eine der Arznei, der Drogen, der Zaubersprüche Kundige. Die Nymphe Circe ist eine mäch­ti­ge Zauberin und muss des­halb ver­bannt wer­den. Denn sie ist zu häss­lich, um als Tauschobjekt den Göttern zu die­nen, zu gefähr­lich, um in Gesellschaft zu blei­ben. «Ich woll­te wei­ter­kom­men in mei­nem Leben, und jetzt bin ich hier, am Ziel. Ich habe die Stimme einer Sterblichen, nun will ich auch den gan­zen Rest.» Also macht sie sich eine Welt, wie sie ihr gefällt. Über Mangel an Besuchern und Besucherinnen kann sie sich nicht bekla­gen. Dort wird sie regel­mäs­sig von Hermes besucht und trifft schliess­lich auf Odysseus. Mit ihm zeugt sie drei Söhne, die in der Telegonie, dem ver­lo­re­nen anti­ken Epos, wei­ter­ge­spon­nen wird. Doch wie die­se Geschichte aus­geht, sei dem Roman über­las­sen. Eines vor­weg: Für Überraschungen ist gesorgt. «Ich bin Circe» zieht die Lesenden im Original in einen träu­me­ri­schen Sog, der die deut­sche Übersetzung lei­der nicht lei­stet. Dennoch emp­feh­le ich auch die­sen Roman.

Margaret Atwood, Penelopiade, München 2007.
Christa Wolf, Kassandra, Zürich und München 1983.
Madeline Miller, Ich bin Circe, München 2019.

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