Hiver noma­de

Von

|

Drucken Drucken

Von Sonja Wenger – Sie schei­nen fast ein biss­chen von der Welt zu sein, der 53-jäh­ri­ge Pascal und die 28-jäh­ri­ge Carole. Als Schäfer zieht das Paar im Winter wäh­rend rund drei Monaten hun­der­te Kilometer durch die Landschaften der Romandie, in Begleitung von acht­hun­dert Schafen, drei Eseln und vier Hunden. Sie schla­fen mit­ten im Wald unter Zeltplanen, waschen sich im Bach, und küm­mern sich 24 Stunden am Tag um ihre Herde. Sie sind stets auf der Suche nach dem letz­ten Gras unter den ver­schnei­ten Wiesen, und sind dabei allen Launen des Wetters aus­ge­setzt, wäh­rend sie durch eine sich ste­tig ver­än­dern­de und urba­ner wer­den­de Landschaft zie­hen.

Der Lausanner Musiker Manuel von Stürler hat eine sol­che Reise zum Inhalt sei­nes ersten Dokumentarfilms «Hiver noma­de» gemacht – und hat damit seit der Weltpremiere an der Berlinale 2012 das Publikum auf bis­her sieb­zehn Filmfestivals rund um den Globus bezau­bert. Nun kommt der Film auch hier­zu­lan­de ins Kino, und er ist nicht weni­ger als ein Glücksfall für das Genre, denn «Hiver noma­de» ist per­fekt. Ein makel­los gemach­ter Film, ein Geheimtipp für alle Menschen, die sich in ihrem Leben nach etwas Entschleunigung seh­nen, und sei es nur für ein­ein­halb Stunden im Kinosaal.

«Hiver noma­de» bedient die­ses Bedürfnis mit einer über­ra­schen­den Leichtigkeit, obwohl – oder gera­de weil – er kei­ner­lei Lagerfeuerromantik erliegt und die Dinge ein­fach so abbil­det, wie sie sind. Pascal und Carole sind bei­des star­ke Persönlichkeiten, die auch mal unbe­ein­druckt von der Kamera mit­ein­an­der strei­ten und ihre Arbeit tun, ohne gross dar­über zu spre­chen. Doch auch ohne vie­le Worte ist spür­bar, dass die bei­den über eine gros­se inne­re Zufriedenheit und eine star­ke Liebe zur Natur und zum Leben ver­fü­gen.

Dass der Regisseur dabei fast voll­stän­dig auf Hintergrundmusik ver­zich­tet und den rea­len Geräuschen der Natur allen Raum gege­ben hat unter­stützt das Bild der inne­ren Ruhe zusätz­lich. Genauso schlau hat er die Frage gelöst, die sich jedem Dokumentarfilmer stellt, der ohne Kommentar aus­kom­men will: Wie trans­por­tie­re ich jene Informationen, die nicht durch Bilder sicht­bar gemacht wer­den kön­nen? In «Hiver noma­de» geschieht dies fast bei­läu­fig durch den Austausch zwi­schen Pascal und Carole selbst, und zwi­schen ihnen und ihren Freunden, die sie auf ihrer Reise besu­chen, sowie bei Gesprächen mit Passanten.

Tatsächlich wecken die Schäfer mit ihrer Herde über­all Aufmerksamkeit. Meist ist es Neugierde und Sympathie, manch­mal aber auch Ablehnung, etwa wenn Bauern ihnen den Zutritt auf ihr Land unter­sa­gen. Entsprechend hat «Hiver noma­de» nichts Langweiliges oder Monotones an sich, im Gegenteil: Der Film ist vol­ler Ereignisse, Begegnungen und Überraschungen, bei denen das Publikum viel lernt über ein «for­dern­des Metier vol­ler Improvisation, das unein­ge­schränk­te Aufmerksamkeit der Natur, den Tieren und des Kosmos gegen­über vor­aus­setzt», wie es der Regisseur aus­drückt.

Und in der Tat ist es Knochenarbeit, eine solch rie­si­ge Schafherde, einen sol­chen unend­lich lan­gen Zug erstaun­lich eigen­wil­li­ger Wesen auf den schma­len Landstrassen vor­an­zu­trei­ben, ohne dass eines davon aus­büxt. Feinfühligkeit ist dabei fehl am Platz. Der Film ist denn auch nicht gemacht für Abenteuerromantiker oder zart­be­sai­te­te Tierliebhaberinnen. Schliesslich geht es beim Wanderzug ein­zig und allein dar­um, die Schafe so gut wie mög­lich zu mästen bevor sie auf die Schlachtbank kom­men. Entsprechend prä­sent sind denn auch die Geschäftsinteressen des Herdenbesitzers, der regel­mäs­sig vor­bei­kommt und ein paar Dutzend Tiere mit­nimmt. Am Ende des Films und des Winters ver­blei­ben Pascal und Carole nur noch weni­ge «Schäfchen», und bereits stellt sich bei ihnen die Sehnsucht nach dem näch­sten Wanderzug im kom­men­den Herbst ein. Genauso, wie sich das Publikum sehnt nach mehr Filmen die­ser Art, die man ganz ohne Pathos als eine «fan­ta­sti­sche Hymne an die Freiheit» bezeich­nen darf.

«Hiver noma­de», Schweiz 2012. Regie: Manuel von Stürler. Länge: 85 Minuten.

Foto: zVg.
ensuite, November 2012

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo