Gefangen in Hoffnung und Angst

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Von Lukas Vogelsang –  Unterdessen kur­siert die­ser Film bereits wie ein Gespenst durch die Medien. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga war nach der Filmvorführung betrof­fen und mein­te: «Es nützt nichts, wenn ich in mei­nem Büro wei­ne». «Vol Spécial» macht wirk­lich betrof­fen, aber nicht, weil der Dokumentarfilm bewusst so auf­ge­baut wäre, um uns emo­tio­nell auf­zu­wüh­len. Es ist eine gross­ar­ti­ge Leistung, dass hier alles sehr neu­tral geblie­ben ist – sofern über­haupt mög­lich. Was uns betrof­fen macht, ist die Begegnung mit ganz nor­ma­len Menschen, die in Gesellschaftssystemen kei­nen Platz zu fin­den schei­nen. Menschen, die ein­fach das fal­sche Los gezo­gen haben.

Es ist eine admi­ni­stra­ti­ve Verurteilung, wenn man als «Sans Papier» in die Obhut der Ausschaffungsbehörden gerät. Hier regiert die Bürokratie, nicht die Logik – dafür sind die Beamten nicht zustän­dig. Die Politik wie­der­um, wel­che ver­ant­wort­lich wäre, hat kei­ne Ahnung, wel­ches Chaos ihre Entscheidungen – oder eben Nicht-Entscheidungen – aus­lö­sen. Da war­tet ein Mensch, der jah­re­lang einem System gedient hat, AHV-Ausweis, Versicherungspolicen und eine Familie hier hat, auf den Daumen der Behörden: Heute, mor­gen, viel­leicht, irgend­wann in den 24 Monaten, die als Administrativhaft mög­lich sind. Schöne Überraschung: Vielleicht ver­lässt man die­ses «Gefängnis» auch mit einem «B‑Ausweis». Alles ist mög­lich. Die Tage bestehen aus Hoffnung und Angst – und viel mehr kön­nen die zustän­di­gen Betreuer nicht bei­tra­gen, als die Zeit so erträg­lich wie mög­lich zu gestal­ten.

Im Film steigt die Bewunderung für die­se Menschen, wel­che als Betreuer in die­sen Zentren arbei­ten. Sie ler­nen hier Menschen ken­nen, deren Geschichten, neh­men Anteil, tei­len irgend­wie die Verzweiflung – ohne auch nur im Mindesten Einfluss auf die Geschichten neh­men zu kön­nen. Der Film von Fernand Melgar ver­steht es, ein­fach «dane­ben zu ste­hen», die Menschen zu beob­ach­ten. Er stellt kei­ne Fragen, gibt kei­ne Antworten. Wir sehen als Zuschauer in die­sen Zwischenraum der Gesellschaft und dür­fen mit­füh­len. Eine Lösung ist nicht ein­fach und das ver­ste­hen auch die Zuschauer.

Der Film erzählt wenig dar­über, wie die­se Menschen an die­sem Ort gelan­det sind. Aber wäh­rend dem Film spü­ren wir, dass es ein­fach Menschen sind, die in ihrer Heimat nicht glück­lich waren, ihre Ursprungsländer nicht als Heimat anneh­men kön­nen. Menschen, die eine Chance gesucht haben, ihre Geschichte umzu­schrei­ben. Es sind Menschen, die einen klei­nen Platz zum Leben bean­spru­chen und die­sen aus­ge­rech­net in der Schweiz gefun­den haben. Der klei­ne Anspruch, ein Leben zu haben, wel­ches lebens­wert erscheint. Es wird uns auch klar, welch sur­rea­les Problem die­ser Anspruch dar­stellt. Irgendwann wäh­rend des Films erin­ner­te ich mich, dass vor kur­zem zwei Schweizer in Pakistan ent­führt wur­den. Auch sie wol­len ein­fach ihr Leben so leben, wie sie es sich vor­stel­len, und sind in ein Netz gefal­len. Die Medien berich­ten kaum mehr dar­über – für die Mehrheit ist die­se Geschichte Vergangenheit und ver­ges­sen. In unse­rer Schweiz leben ganz vie­le Menschen, wel­che wir in unse­ren büro­kra­ti­schen Wirren ver­ges­sen haben. Ja, wel­che auch in ihren Ursprungsländern ver­ges­sen gegan­gen sind. Und gibt es etwas Schlimmeres? Fragen wir doch die SVP, Meister dar­in, mit allen Mitteln zu ver­su­chen nicht ver­ges­sen zu gehen, getrie­ben von der Angst, zu kurz zu kom­men.

«Vol Spécial» ist ein doku­men­ta­ri­sches Meisterwerk und Pflichtstoff für Herrn und Frau Schweizer. Wenn wir am 23. Oktober 2011 wie­der an den Urnen ste­hen und an unse­rem poli­ti­schen Gleichgewicht schrau­ben … bit­te geht die­sen Film vor­her anse­hen.

Er läuft seit dem 27. September in den Schweizer Kinos.

Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2011

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