EDITORIAL Nr. 89: Vergangenheit

Von Lukas Vogelsang – Es gibt einen ein­fa­chen Trick, Kulturschaffende oder Kulturförderer auf die «Palme» zu jagen: Fragen Sie ein­fach: «Was ist Kultur?» oder noch bes­ser: «Warum soll Kultur wich­tig sein?» Diese Fragen dür­fen heu­te nicht mehr gestellt, geschwei­ge denn, noch dar­über nach­ge­dacht wer­den, sie gel­ten im Gesellschafts-Knigge als eine der Todsünden im Umgang mit gela­de­nen Gästen. Doch pro­bie­ren Sie es aus … Entweder wen­det man sich bei den Apérohäppchen mit schlech­ten Entschuldigungen ab, oder aber man bestaunt Sie ungläu­big – ungläu­big, dass Sie noch so hin­ter dem Mond sein kön­nen. Einige freund­li­che Menschen wer­den dann ver­su­chen, die­se Fragen mit ein paar faden Begründungen wie «das ist Bildung», «schafft Arbeitsplätze» oder ganz übel: «hat mit der gei­sti­gen Entwicklung einer Gesellschaft zu tun» … zu erklä­ren. Aber nach fünf Minuten ist das Thema erschöpft. Mit glei­chem Erfolg könn­ten Sie die Frage nach einem Gottesbeweis stel­len.

Irgendwie erschüt­ternd. Und es erstaunt mich auch nicht, dass die gros­sen Schweizer Denker mit Dürrenmatt und Frisch schlicht aus­ge­stor­ben sind und es ziem­lich ruhig gewor­den ist. Für das Denken ist kaum Platz in unse­rer Kultur. Ein klei­ner Rest nagt noch an den alten Büchern und Gedanken, doch vie­le sind es nicht mehr, und es gedeiht auch nicht eine neue Schweiz aus die­sem Gedankengut. Ich sehe sie zumin­dest nicht. Vielleicht hat die­se feh­len­de Kultur etwas mit den boden­lo­sen Boni zu tun oder mit der Politik, die nur noch für die Politik poli­ti­siert und nicht mehr für die Menschen, die davon betrof­fen sind. Vielleicht hat die­se Kulturlosigkeit damit zu tun, dass jun­ge Generationen ihre sozia­len Netzwerke ver­mehrt im vir­tu­el­len Raum statt in der Realität suchen.

Ich höre sie schon, die Stimmen, die mir jetzt erklä­ren wol­len, dass eben genau dies die neue Kultur sei. Immerhin, ProHelvetia und das BAK haben jetzt, zwar unge­fähr 20 Jahre zu spät, im Sinn, mit einem Budget von 1,5 Millionen Franken Ausstellungen, Publikationen und die Entwicklung «kul­tu­rell wert­vol­ler Spiele» zu för­dern. Reale Brett- und Gesellschaftsspiele wur­den bis­her nicht geför­dert – aber im vir­tu­el­len Raum gel­ten sie jetzt als begehr­te Förderungsobjekte. Je weni­ger Kultur und Kunst mit Menschen zu tun hat – so der Eindruck, der dar­aus ent­steht – umso lie­ber wird die­se geför­dert. Vielleicht eben gera­de des­we­gen, weil Kultur als Ware, Objekt, als Abstraktum und nicht als etwas Inhaltliches, mit Herz und Seele, etwas Lebendiges gilt. Eine inter­es­san­te Entwicklung.

Ich bin über die Rede von Friedrich Dürrenmatt gestol­pert, die er anläss­lich des Grossen Literaturpreises des Kantons Bern 1970 gehal­ten hat­te: «Ich kom­me mir heu­te sowohl als Kulturpreisträger wie auch als Theatermann frag­wür­dig vor. Die Fragwürdigkeit liegt weder in mei­nem geschei­ter­ten Basler Theaterexperiment noch im Preis. Sie liegt in der Kultur selbst und in der Frage, ob ein heu­ti­ger Staat über­haupt noch etwas mit Kultur zu tun habe, ob der Staat nicht dazu da sei, nur tech­ni­sche und sozia­le Aufgaben zu bewäl­ti­gen, ob die Kultur nicht aus­ser­halb der Kompetenz des Staates lie­ge und vom sozi­al betreu­ten Bürger pri­vat zu betreu­en sei.» Und etwas wei­ter unten dann: «Wie das Wetter ist auch die Kultur ver­än­der­lich und nur unge­nau vor­aus­zu­be­stim­men. Vor allem aber ist sie nicht, wir man im Westen und im Osten glaubt, ein Besitz. Wir mei­nen, dass wir Kultur besit­zen, wie wir Häuser, Vermögen oder Armeen besit­zen. Wir hal­ten uns für kul­ti­viert.» Sehr ein­leuch­tend dann noch dies: «Die Kultur Europas ver­än­der­te die Welt nicht in erster Linie durch ihre Kunstwerke, weder durch ihre Literatur noch durch ihre Architektur, son­dern durch ihr Denken.»

Schon 1970 waren also mei­ne Fragen ziem­lich prä­sent. Doch haben wir Dürrenmatts Rede und Aufruf als Leitbild für unse­re Kulturfragen und für unser Kulturverständnis mit­ein­be­zo­gen? Haben das Kulturschaffende, Veranstal-terInnen und die Kulturförderstellen über­haupt je gele­sen? 40 Jahre ist es her, und wir irren irgend­wie immer noch an glei­cher Stelle. Und was ist sie denn jetzt, die­se Kultur, die wir als so wich­tig erach­ten, dass wir kei­ne Begrifflichkeit dafür fin­den?


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 89, Mai 2010

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