EDITORIAL Nr. 105: Die Masse macht’s

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Von Lukas Vogelsang – Es ist wie­der Babylon-Zeit: Zu vie­le Menschen an zu vie­len Orten reden zu vie­le ver­schie­de­ne Sprachen – ver­ste­hen tun wir nichts mehr. Märkte bre­chen ein und desta­bi­li­sie­ren Gesellschaftsgefüge, poli­ti­sche Klüngel ver­su­chen sich selbst zu fin­den – vor allem sich sel­ber zu mobi­li­sie­ren, und über­all sind Massenbewegungen. Die «Massen» bestim­men Preise, Verhalten, Meinungen, Gedanken. In die­sen Massen ist es kaum noch mög­lich, das Einzelne zu sehen, nicht dran zu den­ken, gar ein Gefühl dafür zu ent­wickeln. Die Masse flu­tet über uns wie ein Tsunami und zer­malmt alles.

Die Massen sind auch in der Kultur und Kunst ein gros­ses Thema. Massenweise ersu­chen KünstlerInnen um die Gunst, mit mas­sen­wei­se Geld geför­dert zu wer­den, damit wei­te­re Massen von Kunst- oder Kulturgut ent­ste­hen kön­nen. Massen wünscht sich der Veranstalter in den Besucherrängen oder der Direktor in sei­nem Museum – und wenn die­se Massen aus­blei­ben, so wün­schen sie sich mas­sen­wei­se Anerkennung durch Subventionsverträge.

Die Kulturförderinstitutionen erhal­ten ent­spre­chend mas­sen­wei­se Gesuche, wel­che bear­bei­tet wer­den müs­sen. Sie hal­ten mas­sen­wei­se Sitzungen ab und füh­ren Gespräche, erfin­den mas­sen­wei­se Regelungen, Gesetze, Ausnahmen. In Massen fliesst dann Geld mit gutem Gewissen in mas­sen­wei­se gute Ideen, um Massen von Menschen wie­der zu beschäf­ti­gen und zu unter­hal­ten – damit neue Ideen ent­ste­hen und aufs Neue Massen beflü­geln.

Wir tra­gen Wasser vom See zur Quelle, ver­su­chen uns sel­ber vom Menschsein abzu­len­ken, mit Kunst, Kultur, Erfindungen, Bewegungen, Geld und all die­sen «Dingen aus­ser­halb von uns». Wir reflek­tie­ren schon lan­ge nicht mehr Menschen und Leben – wir reflek­tie­ren unse­re selbst­pro­du­zier­ten Spiegel. Spiegel im Spiegel – wer damit spielt ent­deckt rasch wie­der die Massen. Und genau da ste­hen wir im Moment. Unnötig zu erwäh­nen, dass in die­sen Massen unse­re Geschichten ver­sin­ken und ver­ges­sen gehen.

Der deut­sche Philosoph Walter Benjamin schrieb 1935/36 eine Abhandlung über «Das Kunstwerk im Zeitalter sei­ner tech­ni­schen Reproduzierbarkeit». Dabei geht es um die Industrialisierung und die dar­aus fol­gen­den Entwicklungen neu­er Technologien, wel­che eine schnel­le Vervielfältigung von Kunst erlau­ben. Neue Methoden ent­stan­den, um schnel­ler, ein­fa­cher und vor allem repro­du­zier­bar Kunst zu erschaf­fen. Das Einmalige, Einzigartige begann zu ver­ein­sa­men, ver­lor an Wert und künst­le­ri­scher Kraft. 75 Jahre spä­ter ste­hen wir vor dem Scherbenhaufen die­ser Massenentwicklung. Wir sind gewarnt wor­den und haben nicht zuge­hört – haben im Lärm der Massen die ein­zel­nen Stimmen nicht gehört.

Ist es also weit her­ge­holt, wenn ein Maya-Kalender von einem Wechsel im Jahr 2012 spricht? Wenn Yogis vor 50 Jahren visio­nier­ten, dass im 2011 der Übergang vom «Fischzeitalter» ins «Wassermannzeitalter» erfolgt ist? Erstaunt es noch, wenn Systeme der Reproduzierbarkeit zusam­men­bre­chen, wenn Geld sich nicht unend­lich ver­meh­ren lässt, wenn Wasser, Winde, Hunger und Seuchen über Kontinente hin­weg­zie­hen? Wenn uns die Energie aus­geht? Wenn uns die Kontrolle über die Massen ent­glit­ten ist?

Das Einzige, was uns erstau­nen soll­te ist, dass wir nie nackt vor den Spiegel ste­hen und uns sel­ber zuhö­ren.

Deswegen ver­su­chen wir seit 9 Jahren mit dem Kulturmagazin ensuite genau die­se Reflexion öffent­lich zu dis­ku­tie­ren: Das Magazin ent­steht aus der Kraft, die eine Stadt sel­ber pro­du­zie­ren kann. Auf die­sem Weg begeg­nen wir Stimmen und Menschen, denen wir auf «nor­ma­lem Weg» nicht begeg­net wären. In die­ser Ausgabe darf ich mit Stolz auf Alber Le Vice auf­merk­sam machen. Einige wer­den ihn als Vater vom «Kleinen Freudenhaus», einst in Thun, wie­der­erken­nen. Eine Wiederbegegnung die mich sel­ber sehr moti­viert.
Und in der glei­chen Positivmeldung kann ich ver­kün­den, dass ensuite wei­ter pro­du­zie­ren kann. Wir brau­chen immer noch Geld, aber wir haben erste Wege gefun­den, ensuite zu finan­zie­ren. Weitere Unterstützung ist aber immer noch gefragt. Ich bin mir übri­gens, lie­be LeserInnen, sehr bewusst, dass ensuite auch ein Massenprodukt ist…


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 105 Bern, September 2011

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