Dreihundertsiebzehn Schreibmaschinenseiten

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Von Peter J. Betts – Dreihundertsiebzehn Schreibmaschinenseiten, ein­sei­tig auf dickes Papier foto­ko­piert, hat mir ein Freund aus dem Baselbiet als Lektüre mit­ge­bracht. Eine gewich­ti­ge Angelegenheit, eig­net sich daher kei­nes­wegs als Bettlektüre; auf dem Deckblatt steht hand­schrift­lich: «Manuskript», dann, schön ein­ge­mit­tet, «von Nanon Barbey, Arisdorf» und wie­der hand­schrift­lich «Schweiz – CH 4422», und auf dem Schmutzblatt, wie­der in der glei­chen Handschrift: evtl. Titel «…und der Schnee deckt alles zu! – inti­mes Tagebuch – ». Was hat das mit der Politik der Kultur zu tun? Liegen nicht Millionen von Tagebüchern, mit viel Herzblut, zum Teil aus Langeweile geschrie­ben vor? Texte, mit denen sich Hinterbliebene oft aus den ver­schie­den­sten Gründen nicht aus­ein­an­der­set­zen wol­len oder kön­nen. Texte, die man meist nur mit ein biss­chen schlech­tem Gewissen spä­ter in die Altpapiersammlung gibt. Ich begin­ne mei­nem Freund zulie­be mit Lesen, ohne gros­sen Enthusiasmus. Schreibmaschinenschrift mit äus­serst weni­gen Fehlern: wer ist heu­te in der Lage, einen län­ge­ren Text ohne Korrekturprogramm zu schrei­ben? Also unzeit­ge­mäss? Die Protagonistin «ich»: Mutter Französin, Vater Waadtländer in finan­zi­ell eher knap­pen Verhältnissen; Mutter chro­nisch krank; man schickt die Tochter, im ersten Jahr des ersten Weltkrieges gebo­ren, als Teenager nach Deutschland zu Mutters offen­bar wohl­ha­ben­den Verwandten, die – obwohl ehe­ma­li­ge huge­not­ti­sche Exilanten – kein Französisch spre­chen. Grossbürgertum: Bedienstete, Luxus, edler Abstand zur klei­nen und bedürf­ti­gen Schutzbefohlenen, auch etwas wohl­do­sier­te Wärme, ver­mischt mit gön­ner­haf­ter und doch irgend­wie echt glaub­wür­di­ger Grosszügigkeit. Nanon lebt sich ein, nimmt eine Position zwi­schen den Bediensteten und der Herrschaft ein, hat Aufgaben und Pflichten mit beschränk­ter Weisungsberechtigung, spricht immer deut­sche­res Deutsch. Die kran­ke Mutter kann durch Vermittlung und auf Kosten der Verwandten in eine deut­sche Klinik ein­ge­wie­sen wer­den; inzwi­schen spricht man dis­kret von Geisteskrankheit. Dann Wirtschaftskrise, Verarmung, Machtübernahme. Die kran­ke Mutter kommt in eine öffent­li­che Klinik, noch weiss oder ahnt man nicht, dass ihr Leben in naher Zukunft ganz offi­zi­ell als unwert taxiert wer­den wird – mit den logi­schen Konsequenzen. In Deutschland wird die jun­ge Schweizerin zuneh­mend uner­wünscht. Rechtzeitig, durch Vermittlung des Schweizerkonsuls und vor Ausbruch des zwei­ten Weltkrieges, erkämpft sie sich bei der Deutschen Grossbank in Schanghai eine Stelle, wo sie ein gutes Jahrzehnt arbei­tet. Einmarsch der Japaner. Hiroshima. Rückwanderung in die Schweiz. Erneutes Fussfassen. Karriere. Erwerb des ehe­ma­li­gen Bauerngutes in Arisdorf. Pensionierung. Tod. Und was hat all das mit uns zu tun? Was mit Literatur? Übrigens hat­te ich bei der Lektüre gar nicht gemerkt, wann ich von der Pflichtübung weg in den Sog des Interesses, der Identifikation, des Engagements – mit dem Text als Ganzem – gera­ten war. Nanon ist seit frü­her Jugend eine pro­fes­sio­nell Entwurzelte mit star­kem Überlebenswillen. Ihre Mutter, ihre Verwandten waren auch Entwurzelte – bis in die Zeit der Zwangsemigration der Hugenotten zurück, bis heu­te, bis… Wo immer Nanon hin geweht wird, schlägt sie Wurzeln, wächst, erstarkt, bis der näch­ste Orkan die Flüchtigkeit des Festen demon­striert. Sie steht für Menschen mit «Migrationshintergrund», wie man es im Zeitalter poli­ti­scher Korrektheit aus­drückt. Nanon pflegt reges und abwechs­lungs­rei­ches Liebesleben, hält – unab­hän­gig davon – auch an Bindungen fest, wie immer fra­gil und für sie ambi­va­lent die­se sein mögen. Sie geniesst hem­mungs­los, kämpft ver­bis­sen, darbt, erkrankt schwer, hilft ohne Rücksicht auf sich sel­ber, lei­det, lacht, ist reich, ist arm, ist viel­fach bedroht, hat Angst und Mut – ist kei­ne Anpasserin und sicher nicht pfle­ge­leicht, nimmt sich, was sie braucht. Widersprüchlichkeit als har­mo­ni­sches und ener­gie­ge­la­de­nes Ganzes? Nanon als Buch steht für grösst­mög­li­che Wirklichkeit, ist eine rei­che Fundgrube: Elementarteilchen inter­agiert mit Elementarteilchen, erzeugt Energie mit unge­heu­rem Potential. Zum Beispiel prägt Entwurzeltsein unter­schied­lich­ster Provenienz immer mehr Menschen um uns alle her­um. Uns sel­ber? Nanon als Protagonistin steht, wenn wir es zulas­sen, für uns alle oder zumin­dest für das, was wir sein könn­ten – oder für Menschen, denen wir mit ungu­ten Gefühlen begeg­nen, wohl wis­send, dass wir uns nicht an nöti­ger Hilfe betei­li­gen. Migration stand ganz offi­zi­ell auch in der Schweiz im Zentrum, als die deut­schen Flüchtlinge gna­den­los abge­wie­sen und in den Tod geschickt wur­den. Migration steht auch heu­te für die Schweiz im Zentrum, etwa wenn der Nationalrat mit beacht­li­chem Mehr unter ande­rem beschliesst, dass für Menschen, die sich um Asyl bewer­ben, kei­ne Sozialhilfe mehr gewährt wird, son­dern nur «Nothilfe». Das Buch ist ohne Schwulst geschrie­ben; Tagebuchartiges und geschicht­li­che Sachverhalte aus indi­vi­du­el­ler Sicht durch­mi­schen ein­an­der; jeg­li­che Belehrung fehlt: wer es liest, lebt die eige­ne Interpretation, schafft die eige­nen Zusammenhänge, zieht die per­sön­lich rele­van­ten Schlüsse. Das Buch? Alle, die es angeht, soll­ten eigent­lich auch dar­an teil­ha­ben kön­nen. Im Grundsatz wenig­stens. Frau Barbey ist nicht, wie sich der Kreis um Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler einst sel­ber beschrie­ben hat, «jung und zart und früh gereift», son­dern gegen neun­zig­jäh­rig ver­stor­ben. Das Buch und die Autorin sind also nicht spek­ta­ku­lär, so dass man eine Hunderttausender Ausgabe ver­kau­fen könn­te, bevor die Autorin in der Versenkung ver­schwin­det. Das Buch wird wohl ein Stapel von drei­hun­dert­sieb­zehn maschi­nen­ge­schrie­be­nen und foto­ko­pier­ten Seiten blei­ben – nie­mand wird dahin­ter das Potential eines Bombengeschäftes wit­tern. Falls einem nicht der Zufall die Begegnung mit die­sem Stapel schenkt und damit eine Einsicht in das meist ver­bor­ge­ne Potential, das in den mei­sten von uns steckt, bleibt uns der Schatz ver­bor­gen. Bei die­ser geschenk­ten Begegnung merkt man viel­leicht, dass die­ser Stapel ein gei­sti­ger Teilchenbeschleuniger ist. Der Zufall hat mir fast gleich­zei­tig eine ande­re, nie erträum­te Begegnung geschenkt: aus­ge­rech­net das Stadttheater Bern hat unter der Regie von Bernhard Mikeska ein Schaufensterstück mit Texten von Peter Stamm rea­li­siert. Die Zuschauenden sit­zen in den Schaufenstern, schau­en auf Laube und Strasse (wo – auch – gespielt wird), wer­den dabei sel­ber zu Schauobjekten, von Laube und Gasse (und «Spielenden») her beschaut. Offenbar (ein Wunder?) gibt es Regisseure mit Sinn für Wirklichkeit, Sinn für Sinn jetzt selbst auch an gros­sen Häusern? Schauende wer­den zu Mittäterinnen und Mittätern. «Bretter, die die Welt bedeu­ten…» Bei Mikeska bestehen sie aus beleb­tem Sand- und Pflasterstein und befah­re­nen Tramschienen. Unvorhersehbares prallt auf Geplantes, inter­agiert, grösst­mög­li­che Wirklichkeit, eine Art gei­sti­ges Zyklotron. Wird hier ein Zeichen für ein Zukunftspotential gesetzt? Hommage an Carlo Lischetti und sein Heimkino? Ein Stadtheater Bern, das zu einem Zentrum für schöp­fe­ri­sche Menschen ganz all­ge­mein, auch zu einem Zentrum für die Künstlerinnen und Künstler von Stadt und Region wird? Vielleicht ber­gen die Antworten Hoffnung. Ich zitie­re Frau Bareys ersten und dann ihren letz­ten Satz: «‘Ja, da wird man es fin­den – so fällt es direkt ins Auge’, das dach­te ich, als ich ein Couvert mit mei­nen letz­ten Wünschen und Instruktionen an mei­nen Testamentvollstrecker senk­recht auf mei­nen Biedermeier-Sekretär stell­te…» Und drei­hun­dert­sech­zehn Seiten wei­ter: «… Meine Urne – wenn es soweit ist – soll in einem Waldfriedhof bei­gesetzt wer­den, wo im Frühling die Vögel zwit­schern und die Rhododendren blü­hen, wo im Sommer erquicken­de Kühle herrscht, im Herbst der Wind weht und die bun­ten Blätter fal­len: dann kommt der Winter… und der Schnee deckt alles zu.»

Foto: zVg.
ensuite,  August 2012

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