Die Autokratien-AG: Die Gier, die glo­bal bin­det

Von

|

Drucken Drucken

Dr. Regula Stämpfli – Anne Applebaum ist die dies­jäh­ri­ge Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels. Grund genug, sich mit der Autorin und ihrem klu­gen Werk aus­ein­an­der­zu­set­zen.

Die Linken und die Rechten waren empört. Ausgerechnet Anne Applebaum soll heu­er den renom­mier­ten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels krie­gen! Die Linken schäum­ten, weil Anne Applebaum in lin­ker Wortwahl «neo­li­be­ral» und Jüdin (!) ist; die Rechten sab­ber­ten, weil Applebaum Putin durch­schaut. Wir demo­kra­ti­schen Normalas und Normalos freu­en uns über die Preisträgerin und gra­tu­lie­ren ihr hier­mit. Applebaum gehört zu den besten Sachbuchautorinnen, die wir im Westen haben: Sprache, Quellen, Fussnoten, Komposition, Aufklärung – alles stimmt, und sie nimmt einen mit auf eine histo­ri­sche Reise durch Russland und den Osten Europas, die erschüt­tert. Ihr neu­stes Buch «Autocracy, Inc.» beginnt mit dem Kapitel «Gier, die bin­det». Es tref­fen sich dar­in 1967 Kapitalisten und Kommunisten zwecks Errichtung der ersten Gas-Pipeline von der UdSSR nach Westeuropa. Damit beginnt die Neuzeit. Dahinter stand Willy Brandt, der mein­te, je enger die wirt­schaft­li­che Zusammenarbeit, desto näher die poli­ti­sche Verständigung. Dies hör­ten wir Antiglobalisierungsprotestlerinnen auch 1999 bei der Gründung der Welthandelsorganisation WTO: «Handel durch Wandel.»

Well, es soll­te anders kom­men, und wir wis­sen dank Anne Applebaum, wes­halb. Macht, Gier und Geld ver­let­zen Demokratien beträcht­lich. Früher über­nah­men die­sen Job Ideologien und Staatspropaganda: «Zu Beginn des Frühjahrs 1932 began­nen die Bauern der Ukraine zu hun­gern. (…) Kinder mit vor Hunger geschwol­le­nen Bäuchen, Familien, die Gras und Eicheln assen, Bauern, die ihr Zuhause auf der Suche nach Lebensmitteln ver­lies­sen.» Leichen lagen auf der Strasse, die Menschen waren zu schwach, um sie zu begra­ben. Die ört­li­chen Behörden mel­de­ten jedoch nach Moskau, alles sei in bester Ordnung. «Roter Hunger» von Anne Applebaum, 2017 erschie­nen, ist ein beklem­mend aktu­el­les Buch. Der Holodomor – die­ser ver­ord­ne­te Hungermord – war kein Werk der zari­sti­schen Bourgeoisie, son­dern das der sowje­ti­schen Kommunisten. Sie zer­stör­ten die Landwirtschaft, um die Industrialisierung mit Gewalt vor­an­zu­trei­ben, und waren dar­in erfolg­reich: Maschinen gegen Menschenleben. Mindestens fünf Millionen Menschen, dar­un­ter über 3,9 Millionen Ukrainer, ver­hun­ger­ten, ermor­det durch eine Politik, die sich «real exi­stie­ren­de Utopie» nann­te. Die Verantwortung für die­se Morde scho­ben die Stalinisten der «jüdi­schen Bourgeoisie» und flä­chen­deckend den Ukrainern und Ukrainerinnen in die Schuhe. So ent­le­dig­te sich das Regime der Kulturelite und mach­te die Ukraine zur Sklavenkolonie des Sowjetreiches. Museumskuratoren, Schriftsteller, Intellektuelle, Theologen, Künstler – sie alle wur­den gezielt ermor­det. «Roter Hunger» von Anne Applebaum zeigt: Die Ukraine wur­de im Holodomor ver­nich­tet, und zwar so wir­kungs­voll, dass Linksintellektuelle wie bspw. Richard David Precht heu­te, fast hun­dert Jahre spä­ter, im öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk behaup­ten, eine eigen­stän­di­ge Ukraine habe es nie wirk­lich gege­ben. Precht und ande­ren fehl­ge­lei­te­ten Weggefährten sei­en des­halb Applebaums Bücher drin­gend emp­foh­len.

Ihr Debüt zur UdSSR mach­te Applebaum, die mit einem ehe­ma­li­gen pol­ni­schen Aussenminister ver­hei­ra­tet ist, übri­gens im Jahr 2003 mit «Gulag: A History». «Ein Leben im Unbehausten», so beschreibt Anna Achmatowa ihr sowje­ti­sches Leben. Achmatowas Gedichte wur­den im Gulag von Mund zu Mund ver­brei­tet und ste­hen als Zitate am Anfang von Applebaums Werk. Das «Hauptverwaltungslager» – Gulag auf Deutsch über­setzt – dreht Menschen durch den kom­mu­ni­sti­schen «Fleischwolf». Alexander Solschenizyn beschreibt den Auftakt zum Gulag: «Die tra­di­tio­nel­le Verhaftung hat eine stun­den­lan­ge Fortsetzung, spä­ter, wenn der arme Sünder (der immer wie­der ver­geb­lich frag­te: «Warum ich?», Anmerkung laStaempf-
li) längst abge­führt ist und die bru­ta­le, frem­de, erdrücken­de Gewalt sich der Wohnung bemäch­tigt. Das sieht so aus: Schlösser auf­bre­chen, Polster auf­schlit­zen, alles von den Wänden run­ter, alles aus den Schränken raus, ein Herumwühlen, Ausschütten, Aufschneiden, ein Reissen und Zerren – und Berge von Hausrat auf dem Boden, und Splitter unter den Stiefeln. Und nichts ist ihnen hei­lig wäh­rend der Haussuchung! Während der Verhaftung des Lokführers Inoschin stand der klei­ne Sarg mit sei­nem eben ver­stor­be­nen Kind im Zimmer. Die Rechtshüter kipp­ten das Kind aus dem Sarg her­aus, sie such­ten auch dort. Sie zer­ren Kranke aus ihren Betten und reis­sen Verbände von Wunden.» Nach Durchwühlen der Wohnungen und Verhaftung folgt die Ermordung von Familienangehörigen. Nicht alle wer­den umge­bracht, schliess­lich sol­len die Angehörigen sehen, was ihnen eben­so will­kür­lich pas­sie­ren kann. So ver­brei­tet sich die Kunde des Bösen: damals bis heu­te. Einer mei­ner lin­ken Freunde hat das Bildnis Lenins im Bücherschrank ste­hen. Ein ande­rer «Mein Kampf», mit per­sön­li­cher Widmung vom Führer für den Grossvater. Beide den­ken sich dabei wenig. Sie klat­schen jedoch laut, wenn aus­ge­rech­net die für den Westen wich­tig­ste Demokratie, die USA, bei Precht/Lanz vom USA-Korrespondenten der ARD als «faschi­stisch» bezeich­net wird. Linken Boomern und Nazis ist offen­sicht­lich Stalin – wie damals zu Zeiten des Paktes mit Hitler – immer noch näher als George Washington.

Deshalb ist Anne Applebaum so wich­tig. Sie erin­nert uns Wohlstandsverwahrloste dar­an, wie schnell es gehen kann und wie dünn die zivi­li­sa­to­ri­sche Decke wird, wenn Kapital, glo­ba­le Dienstleistungen und Menschen in der Verfügungsmacht einer Handvoll Menschen lie­gen. Nebenbei wider­legt sie alle Klischees zur UdSSR. Das System «Gulag» hat­te sei­nen Höhepunkt mit­nich­ten in den 30er-Jahren, son­dern in den 50er-Jahren. Die Lager «för­der­ten ein Drittel des Goldes, den gröss­ten Teil von Kohle und Holz, und pro­du­zier­ten beträcht­li­che Mengen von nahe­zu allem, was in der Sowjetunion über­haupt her­ge­stellt wur­de». Es war «ein Staat im Staate» mit eige­nen Gesetzen, Sprachen und Sitten. Schon der Zar hat­te sich ähn­li­cher Methoden bedient, das neue Russland tut es bis heu­te. Doch Russlands Terror wird damals wie heu­te ver­nied­licht; die Linken legi­ti­mie­ren orga­ni­sier­ten Massenmord mit «Modernisierung», die Rechten jubeln jedem Führer zu. Und die Journalisten? Kümmern sich ums Gendern. Der natio­nal­so­zia­li­sti­sche Terror ist in Hollywood bis zum Erbrechen the­ma­ti­siert wor­den, jüngst im neu­en anti­se­mi­ti­schen Propagandawerk «Zone of Interest». Doch die UdSSR? Vielleicht ver­wei­gert sich Hollywood der Dramatisierung der Sowjetunion, weil der Kommunismus als Utopie wei­ter­hin Bestand hat. Schon Jean-Paul Sartre mein­te, er wol­le nie auch nur einen Satz über die Todesmaschinerie der UdSSR schrei­ben, um der «bür­ger­li­chen Presse und den Faschisten» kein Futter zu geben. Bertolt Brecht soll ange­sichts der Schauprozesse Stalins allen Ernstes gemeint haben: «Je unschul­di­ger sie sind, umso mehr haben sie den Tod ver­dient.» Seit Robespierre wer­den Massenmorde, fin­den sie im Namen einer Revolution statt, ver­nied­licht. Der Theatermacher Milo Rau ver­dien­te jüngst in Wien unend­lich viel Geld mit sei­nen Festwochen unter dem Motto «Revolution». Stalin gilt an Universitäten als defor­mier­ter Ausrutscher einer guten Idee und nicht als der sadi­sti­sche, hoch­in­tel­li­gen­te Kommunist, der er war.

Applebaums neu­stes Werk «Autocracy, Inc.», «Die Achse der Autokraten» (so der deut­sche Titel, ab Oktober 2024 im Handel), beschäf­tigt sich mit dem Erbe Stalins und der glo­ba­len Politik gleich­zei­tig. Das Buch ist eine prä­zi­se, sprach­lich bril­lan­te Abrechnung mit dem neo­li­be­ra­len Finanzkapitalismus und des­sen inter­na­tio­na­len Verwicklung mit den kor­rup­ten Autokraten. Diese funk­tio­nie­ren wie Big Business, inso­fern passt auch Donald Trump gut in den Reigen der ver­ei­nig­ten Kleptokraten-Unkultur. Unantastbar ist der glo­ba­le, höchst diver­se UBER-Reichtum. Weshalb? Wo kein Recht herrscht, gibt es über­all Verbrechen. Die glo­ba­le Kapital- und Finanzordnung ermög­licht den neu­en Totalitären – von kor­rup­ten inter­na­tio­na­len Hilfsorganisationen bis zu den völ­ker­recht­li­chen Institutionen –, west­li­che Demokratien von innen her­aus zu zer­stö­ren. Milliardenschwere Beihilfen inter­na­tio­na­ler Organisationen wer­den in die Vermögen olig­ar­chi­scher Familien und von deren klep­to­kra­ti­schen Elite umge­wan­delt. Unsere Steuergelder, nota­be­ne. Immense digi­ta­le Kommunikationsimperien för­dern zusätz­lich die Zersetzung unse­rer Demokratien durch die Autokratien-AG, die, neben den übli­chen Verdächtigen wie Nordkorea, China, Russland und Iran, durch­aus auch Big Business, Big Finance und Silicon Valley mit ein­schlies­sen. «Hass im Netz», schrei­en dann die Gutmenschen, nicht rea­li­sie­rend, dass sie per­fekt auf der Klaviatur der mani­pu­lier­ten Empörungs- und Gefühlsmaschinen von China, Russland, Iran und viel­leicht noch Nordkorea spie­len. Erweisen sich dann exi­stie­ren­de Demokratien als zu resi­li­ent – wie Hongkong, die Ukraine und Israel –, dann wird mit inter­na­tio­nal orga­ni­sier­ter Gewalt zuge­schla­gen. Die Propagandamaschine codiert gleich­zei­tig wei­ter, sodass das demo­kra­ti­sche Hongkong in der Pandemie aus­ge­löscht, die Ukraine von west­li­chen Intellektuellen als faschi­stisch und das ange­grif­fe­ne Israel als «Apartheidsstaat» ver­leum­det wird. Dies nicht nur von Individuen, son­dern von öffent­lich-recht­li­chen Institutionen, die, obwohl die Warnzeichen schon längst da waren, sich mit aller Wucht durch Sprechakttheorien und Kulturkriege haben infi­zie­ren las­sen. Kulturkriege, die die Antisemiten und Rechtsextremen übri­gens schon seit Jahrzehnten pfle­gen.  Anne Applebaum beschreibt, wie sich Big Business, Big Money und Big Code per­fekt für Kleptokraten, Diktatoren, Mullahs, Autokraten, Herrscher im mit­tel­al­ter­li­chen Stil mit post­mo­der­ner und post­ko­lo­nia­ler Rhetorik eig­nen. Oligarchen lei­sten sich pri­va­te Söldnerarmeen, digi­ta­le Bot-Sklavenarbeiter, Mordkommandos, die welt­weit ope­rie­ren. Apropos: Putin soll erst kürz­lich Soldaten nach Venezuela geschickt haben. Die «Autocracy Incs» ver­bin­det kei­ne gemein­sa­me Ideologie, nur der nihi­li­sti­sche Wille zu Macht und unan­tast­ba­rem Vermögen. «Autocracy, Inc.» lehrt uns alle, unse­re Demokratie zu schüt­zen. Wie? Applebaum lie­fert dazu eher theo­re­ti­sche, ich dafür prak­ti­sche Antworten: Tiktok ver­bie­ten, Autokraten, Mullahs und inter­na­tio­na­le Kapitalverbrecher auf Sanktionslisten set­zen, Handel nur mit sozi­al­öko­lo­gi­schem Wandel, finan­zi­el­le Transparenz aller inter­na­tio­na­len und völ­ker­recht­li­chen Organisationen und sofor­ti­ge Abschaffung der UNRWA, Einführung der digi­ta­len und finan­zi­el­len Transaktionssteuern, Zerschlagung der digi­ta­len Monopole im Silicon Valley, Stärkung aller demo­kra­ti­schen natio­na­len Rechtsstaaten, radi­ka­le Amtszeitbeschränkungen, radi­ka­le Universitäts- und Wissenschaftsreformen bei den Geistes- und Wirtschaftswissenschaften, ver­bun­den mit der Neukonzeption von öffent­lich-recht­li­chen Institutionen wie den natio­na­len Rundfunkanstalten. Klingt doch alles ganz ein­fach, nicht wahr?

Deutsche Ausgaben von Anne Applebaum:

- Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegen­sei­tig an der Macht hal­ten. 2024.
– Anne Applebaum: Roter Hunger. 2017.
– Anne Applebaum: Der Gulag. 2003.
– Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum anti­de­mo­kra­ti­sche Herrschaft so popu­lär gewor­den ist. 2022.

- Alexander Solschenizyn: Archipel Gulag. 1973.
– Anna Achmatowa: Werke. 1991.

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo