Der gros­se Liebesroman 2017

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Von Dr. Regula Staempfli - In mei­ner Jugend spiel­te Liebe kei­ne Rolle. Macht, Religion, Politik und Philosophie ja, doch Liebe? Nein. Selbstverständlich hat­te ich Freunde und durch­aus auch kör­per­li­che Freuden, doch das, was hin­ter der lackier­ten, spie­geln­den, gewölb­ten Oberfläche, jener Scheissromantik, die der Kommerz “Liebe” nennt, lau­ert, war­tet, auf Erfüllung hofft und das Leben ver­än­dert, genau das, nein, das kann­te ich nicht. Heutzutage wis­sen vie­le Menschen nichts mehr von Liebe – die Apps heis­sen schliess­lich auch Tinder, Elitepartner, Sapiosex und nicht “wah­re Liebe ist so fried­lich wie eine Revolution.”

Als 16jährige, auf dem Sprung ins Austauschjahr in Kalifornien, spür­te ich einen Hauch von jener Kraft, die Liebe inne­woh­nen kann, hat­te ich mich doch kurz vor Abreise neu ver­liebt. Doch die wah­re Liebe, die­se Unerträglichkeit in der Schwerelose des Seins, die­se Wucht, die nur Wenigen ver­gönnt ist, sie wirk­lich zu erle­ben, soll­te sich mir viel spä­ter offen­ba­ren.

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Weshalb erzäh­le ich Ihnen dies? Weil “Nina und Tom” zu den ergrei­fen­sten, schön­sten, zau­ber­haf­te­sten, klar­sten Liebesgeschichten gehört, die ich lesen und damit eigent­lich mit­er­le­ben durf­te. Sie steht mit Kunderas “Die uner­träg­li­che Leichtigkeit des Seins” und Shakespeares “Romeo und Julia” in einer Reihe, wes­halb ich die Häme, den Neid, die Kurzsichtig- und Bösartigkeit nicht ver­ste­he, mit denen die Kolleginnen und Kollegen den Autoren Tom Kummer abstra­fen. Tun sie dies, weil sie sel­ber in einem klein­li­chen Leben ohne Fiktion, Grösse, Gefühle oder gar Menschlichkeit, gefan­gen sind? Sind sie alle zu sehr typisch deut­schen oder deutsch-schwei­ze­ri­schen Frauen mutiert, die freud­los, stra­fend, kor­ri­gie­rend, immer das Beste wol­lend die Welt von sinn­lich-fro­hen Menschen säu­bern will?

Die Ablehnung von Kummers gross­ar­ti­gen Roman sagt viel über unse­re Zeit aus, des­halb hier ein Ausschnitt aus der ZEIT-Rezension:

“Nina ist Tomboy, Borderlinerin, Schweizerin, vor allem aber eine Männerfantasie. Sie liebt schnel­le Autos und knap­pe Kleidung. Pferde steh­len kann man nicht mit ihr, aber schon vor­mit­tags mit dem Gin-Tonic-Trinken begin­nen.” So beginnt Eva Biringer ihren Verriss von Kummers gros­sen Wurf unter dem hin­ter­fot­zi­gen Titel: “Der Tod, eine Realityshow.” Biringer sagt mit ihrem mikro­sko­pisch-bösen Blick auf Nina mehr über sich aus als über Tom Kummers Poesie, wie ein Mensch eben gese­hen wer­den kann, wenn er/sie geliebt wird. Obwohl in kei­ner Weise Ninas Körperbau ent­spre­chend, fand ich mich im Blick Kummers, wie er die Widersprüche von Frau-Sein seit den 1980er/1990ern beschreibt, durch­aus wie­der. Ninas Zähheit, Durchhaltewillen, Exzentrik mach­te den Klang der dama­li­gen Frauen aus: Wenn gepaart mit untrüg­li­cher Intelligenz waren wir dama­li­gen Frauen ver­dammt stark und muss­ten kei­ne Kalorien zäh­len oder für lee­re Wörter tota­li­tär kämp­fen wie vie­le jun­ge Frauen heut­zu­ta­ge. Selbst Dicke waren des­halb ener­ge­ti­sche Tomboys!

Liebe ver­wan­delt Menschen, zeich­net Spuren, die nicht der Materialität (ein für deutsch-schwei­ze­ri­schen Kontext unge­hör­tes Konzept…) ent­spre­chen und des­halb ist der Vorwurf der ZEIT-Rezensentin: “Ihr Körper bleibt trotz jahr­zehn­te­lan­gem Substanzmissbrauch nicht nur makel­los, son­dern ent­spricht dem frag­wür­di­gen Schönheitsideal eines aus­ge­mer­gel­ten Mädchen, mit baby­po­po­glat­ter, von teu­ren Hautcremes ver­wöhn­ter Haut. Statt nach Zigaretten schmeckt die Kettenrauchende nach ´nas­sen Blumen´” arche­ty­pisch pro­te­stan­tisch-bös­ar­tig und unend­lich von einer Kleinheit des Geistes zeu­gend.

Klar doch schmeck­ten Küsse in den 1990er Jahren manch­mal nach nas­sen Blumen oder sie “neck­ten, schmei­chel­ten, trie­ben scham­los Schabernack” (Shakespeare) – selbst wenn eine gan­ze Nacht nur gesof­fen, rum­ge­hurt und Pillen gewor­fen wur­de! Liebende sehen ihre Geliebten als Spiegel, als Sehnsuchtsort, als Unerreichtes, als Gegenüber, als Wunderwerke der Natur. Da ver­schwin­den Kilos, Jahrgangverhältnisse und Zentimeterangaben eben­so wie die Falten im Gesicht. Sie sind Ohrfeigen gegen die pro­te­stan­tisch-kapi­ta­li­sti­sche Gesellschaft, die jedem ein­re­det: Das Ideal, die Ware, die Ikone ist tau­send­mal schö­ner als Du.

Die ande­ren Vorwürfe gegen Tom Kummers wun­der­ba­re Liebesgeschichte stammt von Männern. “Tom Kummer beschreibt in Nina und Tom das Krebsleiden sei­ner Frau. Das Buch ist fas­zi­nie­rend pie­tät­los – und ent­hält natür­lich wie­der geklau­te Passagen.” Da fragt sich jede Leserin, wel­ches Buch Tobias Kniebe gele­sen hat. Natürlich ist Kummer ein Wiederholungstäter des copy-paste, ein ewi­ger Abschreiber und Plagiarist – aber dar­in so geni­al wie kei­ner sei­ner mies­ge­laun­ten, frau­en­ver­ach­ten­den und klug­scheis­sen­den Zeitgenossen. Selbstverständlich lie­ben alle Jonas Lüscher und has­sen Tom Kummer. Steril fabri­zier­te Eiseskälte statt saf­tig-imi­tie­ren­de Naturgewalt.

Kurz: In den bis­he­ri­gen Rezensionen zu Kummers Buch wider­spie­geln sich alle gras­sie­ren­de Zombie-Logiken unse­rer Zeit. Sie bil­den die Vermessung der Literatur eins zu eins ab, deren Rezensenten wie­der und wie­der nach mehr Kilo Futter anglo-ame­ri­ka­ni­scher Personenkult-Fastfood-Blabla schreit.

Deshalb: Lesen Sie kei­ne Rezensionen zu Tom Kummer, son­dern “Nina und Tom.” Es ist mein Sommerbuch für 2017 und erin­nert mich an die Amour fou, die Sie hof­fent­lich auch ken­nen. An die Liebe, die Familie, Berufs- und Wohnungswechsel über­lebt und für die Unendlichkeit ange­legt ist.

“Der Morgen, als Nina zum letz­ten Mal in den Spiegel schaut.” So begin­nen Leben, Liebe und die Ewigkeit.

Tom Kummer: Nina&Tom. Roman. Blumenbar im Aufbau Verlag, Berlin 2017.

PS: Anders als alle Szenies der 1980er/90er Jahre habe ich Tom Kummer nie per­sön­lich ken­nen­ge­lernt. Meine Hymne zum Buch ist also aus­schliess­lich dem Roman und nicht irgend­wel­chen Hip-In-Züri-Netzwerken geschul­det.

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