Der Glöckner

Von

|

Drucken Drucken

Von Walter Rohrbach – Was für ein Theater: In Schwarzenburg fin­det ein Freilichttheater statt – schon wie­der! Dabei ist das nicht die ein­zi­ge Freilichtbühne in der Region – bei wei­tem nicht. Ein Lagebericht über Inhalt, Probleme und Konkurrenz der Freilichttheateraufführung «Der Glöckner».

«Esmeralda!» ruft es aus dem male­ri­schen Schlossgarten in Schwarzenburg. Eine grim­mi­ge, buck­li­ge Gestalt schwingt sich vor einer beein­drucken­den Kulisse auf den Baugerüsten empor um die Glocken ertö­nen zu las­sen. Es ist Quasimodo, und das insze­nier­te Stück, wel­ches vom Verein «Freilichtbühne Schwarzenburg» unter der enga­gier­ten Leitung des Regisseurs Alex Truffer auf­ge­führt wird, nennt sich «Der Glöckner». Theateraufführungen in Schwarzenburg haben eine lan­ge Tradition. Seit vier­zig Jahren wid­met sich der Verein «Freilichtbühne Schwarzenburg» der Darbietung von Theaterstücken. So sind bereits 32 Theaterproduktionen ent­stan­den, die in der Region eine gros­se Beachtung fan­den. Inszeniert wer­den Freilichtaufführungen der ver­schie­den­sten Art – Modernes wie auch Klassisches. Entsprechend lau­tet denn auch die Devise des Vereins: Eigenwilligkeit und Mut zu krea­ti­ven und neu­en Impulsen. Der tra­di­tio­nel­le Spielort des Theatervereins ist die «Thuja-Anlage», wel­che der Gemeinde 1968 vom Lehrer Hermann Binggeli geschenkt wur­de. Doch auch ande­re Spielorte sind mög­lich – so wur­den bereits die Klosterruine in Rüeggisberg oder, wie aktu­ell, das Schloss Schwarzenburg als Aufführungsorte aus­ge­wählt.

Vorlage für das auf­ge­führ­te Stück in Schwarzenburg ist der 1831 erschie­ne­ne Roman «Notre-Dame de Paris» von Victor Hugo. Auch in unse­rem Sprachraum erlang­te die dra­ma­ti­sche Geschichte unter dem Titel «Der Glöckner von Notre Dame» gros­se Bekanntheit. Bis heu­te gilt das Werk als einer der wich­tig­sten histo­ri­schen Romane der fran­zö­si­schen Romantik, wel­cher sich auch heu­te noch leicht und mit Spannung liest. Victor Hugo woll­te damit sein Idealbild eines Romankunstwerks rea­li­sie­ren, wel­ches für ihn Drama und Epos ver­ei­ni­gen soll. Packend am Roman ist die Darstellung meh­re­rer Handlungsstränge, wobei die «bekann­te» Liebesgeschichte mit Quasimodo, Phoebus, Frollo und Esmeralda nur einen die­ser Stränge dar­stellt. Viele wei­te­re Perspektiven, Leben und Gesellschaftsschichten wer­den benannt und beschrie­ben. So schil­dert der Roman das Leben der Pariser im Spätmittelalter und ist eine Art Reiseführer für Paris, in wel­chem Victor Hugo alle Ecken und Winkel der dama­li­gen Stadt beschreibt und ihre Geschichten schil­dert. Dabei dient ihm der erfun­de­ne Poet und Philosoph Pierre Gringoire als Erzähler, der als stän­di­ger Begleiter den Leser durch die ver­schie­de­nen Teile beglei­tet, und durch sei­ne eige­nen Ansichten, sei­ne Überlebensstrategien und sein Auftreten als Antiheld einen iro­ni­schen und eige­nen Humor in die Geschichte bringt. Victor Hugo hat nichts dem Zufall über­las­sen: In näch­te­lan­gen Streifzügen erkun­de­te er die Kathedrale Notre Dame in Paris bis in die hin­ter­sten Ecken, und mach­te sie zur gehei­men Hauptdarstellerin sei­nes Romans. Hier ent­wickelt sich auch die tra­gi­sche Liebesgeschichte, deren Entwürfe von Figuren und deren Charakterzügen Berühmtheit erlangt haben: Die Hauptfigur Quasimodo wird beschrie­ben als miss­ge­stal­tet, buck­lig und ein­äu­gig – sym­bo­li­siert aber nicht ein­fach ein «Monster», denn durch die Attribute Gutherzigkeit und Ergebenheit ver­leiht Victor Hugo auch dem «häss­li­chen» Quasimodo eine lite­ra­ri­sche Würde. Das ästhe­ti­sche Gegenstück zum Glöckner Quasimodo stellt die schö­ne Zigeunerin Esmeralda dar, wel­che jeden, der mit ihr in Berührung kommt, zu ver­zau­bern ver­mag, die den Inbegriff von Schönheit und Eleganz dar­stellt. Die bei­den ver­bin­det seit ihrem Kindesalter ein unfass­ba­res Vorkommnis. Quasimodos Eltern ent­führ­ten die klei­ne Esmeralda im Alter von vier Jahren und hin­ter­lies­sen statt­des­sen den «miss­ge­stal­te­ten» Quasimodo. Dieser ver­liebt sich bei einem spä­te­ren Aufeinandertreffen in die attrak­ti­ve Zigeunerin. Ebenso der düste­re Domprobst und Alchimist Claude Frollo, aus­ser­dem der Stiefvater von Quasimodo. Auch er möch­te das Herz der schö­nen Sinti erobern. Esmeralda hin­ge­gen ist in den Rittermeister Phoebus de Châteaupers ver­liebt, und hofft auf eine gemein­sa­me Zukunft mit dem gut­aus­se­hen­den Herzensbrecher. So ent­wickelt sich eine dra­ma­ti­sche Liebesgeschichte, die aus ver­schie­de­nen Blickwinkeln die Handlungen und die Gefühle der Protagonisten dar­stellt: Der eine ver­sucht Esmeralda mit Gewalt an sich zu reis­sen (Frollo), der ande­re ver­sucht durch Beistand ihr Herz zu gewin­nen (Quasimodo), und ein drit­ter (Phoebus) ent­ehrt sie und lässt sie im Stich – ein dra­ma­ti­sches Ende ist damit abseh­bar. Der Roman wur­de vom Publikum begei­stert auf­ge­nom­men, und in etli­chen Verfilmungen und Theaterversionen neu inter­pre­tiert.

Regie am dies­jäh­ri­gen Theater führt Alex Truffer, ein sym­pa­thi­scher, leb­haf­ter Regisseur mit viel Energie. Gekonnt lei­tet er die ver­schie­de­nen Szenen und ist um Rat nicht ver­le­gen. «Prozessorientiert» sei die Arbeitsweise für die­se Aufführung, argu­men­tiert er, mit viel Raum für Improvisation, denn insze­niert wird «sur­re­al». Die Geschichte bezieht sich nicht auf den ursprüng­li­chen Schauplatz – die Kathedrale Notre Dame – son­dern wird orts- und zeit­un­ab­hän­gig dar­ge­stellt. Damit ergibt sich viel mehr Raum für Interpretation und Phantasie, aber auch eine ande­re Herangehensweise an die Inszenierung. Dies war die schwie­rig­ste Aufgabe des Projektes, so Truffer. Denn die mei­sten Szenen erge­ben sich aus dem Proben her­aus, sie wer­den ver­än­dert, über­dacht und ange­passt. So ist die Arbeit mit den Darstellern eine ande­re, die­se hat­ten die Möglichkeit Inputs zu geben und durch «aus­pro­bie­ren» an der Gestaltung der Szenen mit­zu­wir­ken. Dennoch hat­te Truffer kon­kre­te Vorstellungen und wuss­te, wie gewis­se Szenen gespielt wer­den soll­ten: «Eine sur­rea­le Inszenierungsidee den Schauspielern wei­ter­zu­ge­ben, ist sehr anspruchs­voll. Meist hat­te ich das Bild im Kopf und wuss­te wie das Aussehen soll. Die Darsteller soll­ten nicht hin­ter­fra­gen, son­dern ein­fach machen. Es ist wie eine Augenbinde über­zu­zie­hen und mei­nen Anweisungen blind zu fol­gen, was eine gros­se Herausforderung war». Der gebür­ti­ge Basler ist grund­sätz­lich zufrie­den mit dem Ablauf der Vorbereitungen und schaut den kom­men­den Vorstellungen gelas­sen ent­ge­gen. Truffer ist bekannt dafür, dass er die Proben sehr «straff» gestal­tet. Während für ein Freilichttheater die­ser Grössenordnung nor­ma­ler­wei­se zwi­schen 60 und 70 Proben ange­setzt wer­den, führt er ledig­lich deren 42 durch. Dies bedingt aber, dass die Schauspieler den Text von Beginn an aus­wen­dig kön­nen, und sofort mit dem Spielen begon­nen wer­den kann. Hier zeigt sich eine wei­te­re Schwierigkeit der Freilichttheateraufführung: Aufgrund der begrenz­ten Anzahl von Proben fal­len schlecht­wet­ter­be­ding­te Ausfälle beson­ders ins Gewicht. Die Inszenierung ori­en­tiert sich stark an der Freilichtumgebung, und die Effekte mit Ton, Licht und Freilichtbühne kön­nen nur sehr bedingt auf einer Bühne drin­nen geübt wer­den. Wie ande­re Freilichttheater lebt auch die­se Inszenierung von der Atmosphäre und der spe­zi­el­len Kulisse: Die Bühne im Schlossgarten von Schwarzenburg wird ergänzt durch ein L‑förmiges Baugerüst und vier Kuben, wel­che ver­scho­ben wer­den kön­nen, wodurch als zusätz­li­che Darstellungsorte vie­le Möglichkeiten für das Schauspiel der Protagonisten eröff­net wer­den. Zusammen mit der unter­ge­hen­den Sonne und dem dazu pas­sen­den Lichtdesign ent­steht eine tra­gisch-roman­ti­sche Abendstimmung, wel­che die Inszenierung dank­bar unter­stützt.

Die ein­zi­gen sind sie nicht, wel­che in der Region eine Freilichttheateraufführung prä­sen­tie­ren. In der Bundeshauptstadt wird aktu­ell auch ein Stück von Victor Hugo auf­ge­führt: «Les Misérables». Das Freilichtspiel auf dem Münsterplatz in der Berner Altstadt wird eben­falls von Amateurschauspielern bestrit­ten. Ein wei­te­res berühm­tes Freilichttheater der Region sind die «Thuner Seespiele», wo der­zeit «Gotthelf das Musical» insze­niert wird. Alex Truffer lässt sich von die­ser «Konkurrenz» aber nicht beir­ren. Im Gegenteil, er fin­det die Entwicklung posi­tiv, dass die Freilichtbühnen auf so gros­ses Interesse stos­sen. Bezüglich der Konkurrenz mache er sich nicht vie­le Gedanken. Einzig bei dem Premieredatum habe er dar­auf geschaut, dass die­ses nicht mit dem Datum der bei­den gros­sen (Bern und Thuner Seespiele) Freilichtaufführungen kol­li­die­re. Bei iden­ti­schen Premieretagen mit einer der Produktionen wür­de man als Kleinprojekt nicht wahr­ge­nom­men wer­den, begrün­det er die Anpassung. Andererseits sei er sehr inter­es­siert, was in der Amateurszene lau­fe, und er schaue sich ger­ne ande­re Aufführungen an. Zudem ist Truffer Geschäftsführer der Gesamtschule für Theater (GTG), dadurch stark mit der Amateurschauspielszene ver­bun­den und in die­ser Funktion häu­fi­ger Gast bei Theatervorstellungen – Indoor wie Outdoor.

Es ist eine gelun­ge­ne Theatervorstellung, wel­che die über vier­zig Amateurdarstellerinnen und Amateurdarsteller prä­sen­tie­ren. Angenehm ist der gekonn­te Mix aus Tanz‑, Theater- und Gesangseinlagen. Denn auch die Tanzgruppe «Xpression», gelei­tet von Mikhail Tanja, ist beim Projekt betei­ligt, und unter­stützt das Ensemble mit gekonn­ten Tanzszenen. Eindrücklich ist die Figur des Quasimodo, wel­che in Doppelbesetzung abwechs­lungs­wei­se von Adrian Kurmann und Pascal Riedo gespielt wird. Keine ein­fa­che Rolle – muss doch ein ver­un­stal­te­ter Buckliger mit ver­zerr­tem Gesicht gespielt wer­den, der sich auf dem Baugerüst her­um­schwingt und des­sen Liebe von der schö­nen Zigeunerin Esmeralda uner­wi­dert bleibt. Ein schwie­ri­ger Akt für die bei­den Schauspieler, wel­cher aber gekonnt gelöst wird, ohne lächer­lich zu wir­ken. Überzeugend wirkt auch die attrak­ti­ve Zigeunerin Esmeralda, wel­che mit einer aus­ser­ge­wöhn­li­chen Ausstrahlung die Blicke auf sich zu zie­hen ver­mag. Eine Idealbesetzung; ist doch die 26-jäh­ri­ge Eva Sutter in Schwarzenburg gebo­ren und hat das Theaterspielen von ihrem Vater in die Wiege gelegt bekom­men. Frollo – gespielt von Marco von Gunten – glänzt mit sei­ner ein­drück­li­chen Bühnenpräsenz. Seine cha­rak­te­ri­sti­schen Gesichtszüge, die Ernsthaftigkeit sei­ner Gestik und Mimik ver­mö­gen die Zuschauer zu fes­seln. Es gelingt ihm auf über­zeu­gen­de Weise, den mäch­ti­gen, ver­zwei­fel­ten und ver­bit­ter­ten Charakter des Frollo dar­zu­stel­len. Spannend, sei­ner Wandlung und sei­ner Verzweiflung im Verlauf der Aufführung zu fol­gen. Mit Spielwitz macht ein wei­te­rer «Schwarzenburger» auf sich auf­merk­sam: André Weyermann. Für Truffer ist er die Entdeckung die­ses Projektes – und dies nicht zu unrecht. Der jun­ge Amateurdarsteller spielt den Bettler Clopin mit einer Leichtigkeit und bringt so Gelegenheit für Lacher und Schmunzeln in die Aufführung. Gesamthaft ver­mag das Dargebotene zu über­zeu­gen und nimmt den Zuschauer mit in eine Fantasiewelt, die Raum für eige­ne Gedanken und Bilder zulässt. Die musi­ka­li­schen Einlagen fügen sich wun­der­bar in das melo­dra­ma­ti­sche Stück ein. Angenehm ist der von Marcel Röthlisberger gespiel­te Chronist, wel­cher mit prä­gnan­ter Stimme und anspre­chen­dem Gesang erzäh­lend durch die Geschichte führt. Im Ganzen ist die Aufführung «typisch Truffer», ist man geneigt zu sagen: Eine Inszenierung näm­lich, in der Musik, Tanz und Lichtdesign tra­gen­de Elemente der Umsetzung dar­stel­len.

Die Freilichtbühne Schwarzenburg setzt auf eine klei­ne und fei­ne Inszenierung und bie­tet Platz für 220 Besucherinnen und Besucher. Gesamthaft wer­den 22 Vorstellungen durch­ge­führt, die das Prädikat sehens­wert ver­die­nen, und von den Leuten aus Bern und der Umgebung nicht ver­passt wer­den soll­ten.

Foto: zVg.
ensuite, August 2011

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo