Editorial Nr. 197: Das Symbol

Von Lukas Vogelsang – Nicht durch den Brand der Notre- Dame, son­dern durch die Solidaritätswelle, mit­tels wel­cher in 48 Stunden eine Milliarde Euro gesam­melt wur­den für die Renovation der histo­ri­schen Kirche und womit eine unglaub­li­che Kraft demon­striert wur­de, ist es wär­mer gewor­den auf der Welt. Der Geldberg ist kom­plett absurd für ein Gebäude, wenn die­ses auch histo­risch und kul­tu­rell wert­voll ist. So viel hat nicht mal der Neubau der Elbphilharmonie in Hamburg geko­stet und schon dort waren es JuristInnen, die am mei­sten ver­dien­ten, nicht die Bau- oder Renovationsfirmen. Eine Milliarde – das muss man sich mal gut vor­stel­len – braucht einen enor­men Verwaltungsapparat, damit das Geld kor­rekt und zweck­ge­bun­den für die Sache aus­ge­ge­ben und ver­wal­tet wird. Wir kön­nen uns die Zahl im Kopf gar nicht bild­lich den­ken. Rund um die Notre-Dame gab es zum Teil Kommentare, die mein­ten, dass es wirk­lich wich­tig sei, die histo­ri­sche Orgel nach dem Brand wie­der zu put­zen. Sicher, das steht doch aus­ser Frage. Aber die Orgel hat das Feuer so weit schad­los über­stan­den – und für die Putzarbeiten der rund 8 000 Pfeifen kann man gut und ger­ne zwei Millionen bud­ge­tie­ren. Dann ver­blei­ben aber immer noch 998 000 000 Millionen.

Ich war einen Tag nach dem Brand in Paris und ein Taxifahrer erzähl­te mir mit Stolz, dass auch er gespen­det habe. In mei­nem Kopf begann ein Widerstand zu zap­peln. Ich erin­ner­te mich, dass wir erst vor ein paar Monaten mit der Gilets-jau­nes-Bewegung mit­fie­ber­ten und uns fast soli­da­ri­sier­ten. Frischen wir unse­re Erinnerung auf: Die Gilets jau­nes pro­te­stier­ten gegen den Staat und des­sen MachthaberInnen, weil die «Kaufkraft» von vie­len Französinnen und Franzosen am Ende eines Monats pre­kär unter deren Lebenswürde gesun­ken ist. Die Unzufriedenheit ist gross, die Symbolik eben­falls und die Diskussion war lan­ciert – sogar in ganz Europa. Beim Brand der unbe­strit­ten histo­risch und kul­tu­rell wich­ti­gen Notre-Dame wur­den innert 48 Stunden fast eine Milliarde Euro an den Staat gespro­chen für die Sanierung des Gebäudes. Plötzlich stan­den Superreiche, Mächtige und Mitglieder der Gilets jau­nes auf der glei­chen Seite. «Der klei­ne Mann», der noch ein paar Wochen zuvor ein Schild in die Höhe hielt, spen­de­te sein Geld, und die Superreichen, wie die Milliardärsfamilien Pinault (Gucci, Yves Saint-Laurent) oder Arnault (Dior, Louis Vuitton), insze­nier­ten sich mit Klotzbeiträgen. Das Geld fliesst aller­dings genau in die Richtung jener MachthaberInnen, wel­che es bis­her nicht für wich­tig hiel­ten, den MitbürgerInnen ein bes­se­res Leben zu ermög­li­chen: zum Staat. Das Geld wur­de gespen­det, und damit kann sich die fran­zö­si­sche Elite wie­der­um insze­nie­ren und den Machthabern aus dem Vatikan, wel­che vom Weltvermögen gut und ger­ne geschätz­te 30 Prozent besit­zen, ein Kirchensymbol bis zur Vergoldung sanie­ren. Wie absurd ist das denn! Wem hier kei­ne Fragen in den Sinn kom­men, dem ist nicht zu hel­fen.

Doch da ist noch ein ande­res Symbol auf­ge­taucht: Zwar sind uns Steine und Holzgebälk vor­der­grün­dig wich­ti­ger als alles Lebendige auf die­sem Planeten, doch Notre-Dame hat uns mer­ken las­sen, wie eigen­ar­tig wir gewor­den sind. Stein und Holz – in die­se Kategorie fal­len auch Roboter und Computerprogramme wie Facebook – sind kei­ne Menschen. So was muss man heu­te wie­der laut sagen. Doch Solidarität hat mensch­li­che Züge. Und die­se scheint mir in der emo­tio­na­len Überreaktion die­ser Spendenaktion sehr deut­lich sicht­bar gewor­den zu sein: Der Mensch ist nicht weni­ger soli­da­risch gewor­den in all den Jahren. Eine gute Nachricht! Er weiss nur nicht mehr, wie er damit umge­hen soll. Und bevor wir jetzt begin­nen, alles Mögliche nie­der­zu­fackeln, um durch die­se frei­ge­setz­ten Energien nach unse­rem Individualisierungswahn wie­der zu Gesellschaften zurück­zu­fin­den, soll­ten wir uns über­le­gen, wo wir ent­gleist sind, dass wir uns an unse­re Menschlichkeit nur noch durch Mahnmale erin­nern kön­nen.

Das gros­se Frühlingserwachen in die­sem April für mich war: Wir Menschen möch­ten eigent­lich mit­ein­an­der leben, aber wir wis­sen nicht mehr, wie. Vielleicht haben wir Angst bekom­men, weil wir in der Geschwindigkeit des Alltags die Kontrolle ver­lo­ren haben. Vielleicht haben wir uns mit zu viel Stein und Holz umge­ben und uns über­for­dert damit. Aber für mich war die Hoffnung sicht- und greif­bar. Grund genug also, in die­sem Sommer auf Menschen zuzu­ge­hen, auch auf jene, die wir nicht ken­nen oder die anders den­ken. Das wird mehr wer­den als nur ein Symbol aus Stein und Holz.


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 197, Mai 2019

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