Das Land ohne Musik

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Von Moritz Achermann – 1914 ver­un­glimpf­te der deut­sche Publizist Oscar Schmitz England als «Das Land ohne Musik». Mit die­ser pole­mi­schen Aussage spitz­te er ein gän­gi­ges Klischee zu, das auf dem Kontinent über das bri­ti­sche Musikleben vor­herrsch­te: Nach dem Tod Henry Purcells 1695, so der all­ge­mei­ne Tenor, habe England kei­ne eigen­stän­di­ge Musik mehr her­vor­ge­bracht.

Komponisten wie Händel, Clementi oder Mendelssohn hät­ten seit­dem die eng­li­sche Musikkultur geprägt, wäh­rend die Werke bri­ti­scher Komponisten blos­se Imitationen jener Meister gewe­sen sei­en. Dass die­se Sichtweise stark über­zeich­net ist, liegt auf der Hand. Dennoch hat­ten es eng­li­sche Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts schwer, sich mit ihrer Musik gegen­über ihren aus­län­di­schen Konkurrenten zu pro­fi­lie­ren. Das bri­ti­sche Publikum bevor­zug­te ita­lie­ni­sche Oper und deut­sche Kammermusik.

Gehen wir aber erst ein­mal zurück in der Geschichte. Im 16. und 17. Jahrhundert flo­rier­te die bri­ti­sche Musikkultur. Die eng­li­sche Vokalmusik der Renaissance zeich­ne­te sich durch eine beson­de­re Harmonie und Formschönheit aus, eine Eigenschaft, die nicht zuletzt auf den Komponisten John Dunstable (1390–1453) zurück­zu­füh­ren ist. Dunstable wird zur ersten Generation der Franko-Flämischen Schule gezählt, jener Bewegung, die die euro­päi­sche Vokalmusik des 15. und 16. Jahrhunderts domi­nier­te. Besonders zwei Persönlichkeiten ragen aus der Gruppe von Komponisten her­aus, die in Dunstables Tradition rund um die Londoner Chapel Royal wirk­ten: Thomas Tallis (1505–1585) und sein Schüler William Byrd (1543–1623). Beide waren als Organisten an der könig­li­chen Kapelle ange­stellt und schu­fen in die­ser Funktion Klavier‑, Orgel- und vor allem Vokalmusik für den Gottesdienst. Dies wur­de ihnen je län­ger desto mehr durch die Reformationsbewegungen erschwert, die latei­ni­sche Motetten und Messen aus der Liturgie ver­bann­ten. Trotzdem zeigt sich ihre beson­de­re Stellung nicht zuletzt dar­an, dass Queen Elizabeth I. ihnen für 25 Jahre das Monopol auf Musikdrucke zuge­stand. Diesem Umstand ver­dan­ken wir heu­te eine Vielzahl über­lie­fer­ter Kompositionen, dar­un­ter Tallis berühm­te Motette «Spem in ali­um» für 40 unab­hän­gi­ge Stimmen, ein monu­men­ta­les Werk von atem­be­rau­ben­der Schönheit.

Eine zwei­te Renaissance
Seit jener glor­rei­chen Zeit riss die Tradition kir­chen­mu­si­ka­li­scher Kompositionen nicht ab. Ein Zeugnis davon legt William Henry Monk (1823–1889) ab, der als Chorleiter und Organist am Kings College in London tätig war. Sein Hymnus «Abide with me» gehört bis heu­te zu den belieb­te­sten Chorälen und bezau­bert mit sei­ner schlich­ten Schönheit. Trotz die­ser Kontinuität laste­te immer noch die Geringschätzung der euro­päi­schen Kollegen auf den bri­ti­schen Komponisten. So erstaunt es nicht, dass im auf­kei­men­den Nationalismus des aus­ge­hen­den 19. Jahrhunderts der Wunsch nach einer auto­nom-eng­li­schen Musikkultur auf­kam. Dieser erfüll­te sich mit den Komponisten rund um Charles Villiers Stanford (1852–1924) und Edward Elgar (1857–1934), die eine «New English Musical Renaissance» ein­läu­te­ten. Der aus Irland stam­men­de Stanford, des­sen umfang­rei­ches Œuvre Opern, Sinfonien und Kammermusik und Vokalmusik umfasst, setz­te sich stark mit sei­ner iri­schen Heimat und deren Traditionen aus­ein­an­der und band oft Volkslieder in sei­ne Kompositionen ein. Verschiedene Chorkompositionen ver­fass­te Stanford für den Chor des Trinity College, wo er Komposition unter­rich­te­te und jun­ge Komponisten wie Ralph Vaughan-Williams oder Gustav Holst präg­te. Er war bekannt und gefürch­tet für die Strenge mit der er die Werke sei­ner Schüler beur­teil­te. Schliesslich war es dann Edward Elgar, der mit Hits wie «Pomp & Circumstance» – bis heu­te eine inof­fi­zi­el­le Nationalhymne Englands – inter­na­tio­na­le Ausstrahlung erreich­te. Dass man Elgar nicht auf sei­ne popu­lä­ren Märsche redu­zie­ren darf, zei­gen sein berühm­tes Cello-Konzert oder die fünf Oratorien, die er im Laufe sei­nes schaf­fens­rei­chen Lebens kom­po­nier­te.

Im 20. Jahrhundert konn­ten sich die bri­ti­schen Komponisten end­gül­tig eta­blie­ren und ent­wickel­ten eine viel­fäl­ti­ge und rei­che Musiksprache. Eine Konstante blieb dabei das Komponieren von geist­li­cher Vokalmusik. Ein Zeugnis hier­für ist Benjamin Brittens «War requi­em» von 1962, das in Gestalt einer latei­ni­schen Totenmesse den Opfern des Kriegs ein Denkmal setzt. Es ist eine Komposition, die Tradition mit Moderne, for­ma­len Reichtum mit melo­di­scher Vielfalt und har­mo­ni­scher Klarheit ver­bin­det und somit die Linie eng­li­scher Kirchenmusik fort­setzt, wie sie seit der Renaissance gepflegt wur­de.

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2012

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