Ana Laguna und Mikhail Baryschnikov mit dem Béjart-Ballet

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Das rote Cocktailkleidchen um den Ohren tor­kelt Julio Arozarena lie­bes­trun­ken auf die Bühne. Er ist buch­stäb­lich der Dame sei­nes Herzens und ihrem Duft erle­gen. Er lässt sich zu Boden, schleppt sich auf allen Vieren über den roten Stoff, um sich sinn­lich dar­ob zu erge­hen. «Aria» heisst das Stück des neu­en künst­le­ri­schen Direktors, Gil Roman, das er am 20. und 21. Dezember in Lausanne prä­sen­tier­te. Der Béjart-Zögling und dedi­zier­te Nachfolger hat sich man­che cho­reo­gra­phi­sche Kunstgriffe vom Meister ange­eig­net. Sie die­nen, um Effekte zu erzie­len. Gleich zu Beginn hän­gen drei rot­lackier­te Schaukeln mit drei bezau­bern­den Damen, Beine keck über­ein­an­der­ge­schla­gen. Die Füßchen sind ange­spitzt und kein Mensch erwar­tet, daß dar­aus Bewegung ent­ste­he. Dafür bewe­gen uns sogleich die Goldberg-Variationen in Glenn Goulds Einspielung. (Play-Back zu den Tasten-Scheinübungen eines Tänzers in Pianistenpose). Wenn die Damen, «Les Ariane» (sic!) laut Programmheft, von der Schaukel glei­ten, sich stak­send neben­ein­an­der posi­tio­nie­ren und syn­chron die Rhythmen Bachs zur metri­schen Unterlage ihrer Neoklassik-Etüden redu­zie­ren, war­ten wir nur dar­auf, von der pas­sen­de­ren Musik Nine-Inch-Nails erlöst zu wer­den. Von den all­ge­gen­wär­ti­gen Hüftakzenten abge­se­hen ist cho­reo­gra­phisch kei­ne Handschrift abzu­le­sen. Schon gar kei­ne ein­heit­li­che. Mancher Ensembleeinsatz in natür­li­chem Pastell, der übri­gen Glanzästhetik unter­le­gen, spricht von der Kraft urtüm­li­chen Tanzes. Er erin­nert an die ergrei­fen­de Gruppendynamik Béjarts. Man kann in die­sen Momenten nach­voll­zie­hen, wie sinn­li­che Erfahrung einer Bewegung, ihres Schwunges die näch­ste gene­riert. Wenn z.B. eine unfor­mier­te Horde breit­bei­nig mit dem Rücken zum Publikum mit links dann rechts in ein tie­fes plié (Beinbeuge) stampft. Dem fol­gen im Puls, links dann rechts, seit­lich aus­schwin­gen­de Ellebogen. Sobald der letz­te Schwung zur Körpermitte zurück­fällt, nut­zen sie ihn, um aus dem tie­fen plié in die Höhe zu schnel­len. Bei der bril­li­an­ten Gruppe ist das ein hal­ber Meter, gekrönt vom rück­ge­bo­ge­nen Hals und dem Blick auf uns. Sonst aber darf das Ensemble um die Solisten krei­sen und ihren Scheinwerferkegel säu­men. Am Schluß (lei­der wie­der auf Bach), liegt es am Boden dar­nie­der. Bedeutsam senkt sich dann eine dicke rote Kordel, des­sen aus­fran­sen­de Enden jeder ergreift: das Béjart-Ballet zieht am sel­ben Strang.
Der Titel des ersten Balletts des mehr­tei­li­gen Abends «Le Casino des Esprits» ist wenig­stens expli­zit, und wir erwar­ten nichts Tiefgründiges. Es ist ein Auftragswerk Béjarts an sei­nen dama­li­gen Solisten und Assistenten, zum 50jährigen Bestehen des Balletts. Eine Reihung von Konzerten für Flöte, Streicher oder geist­li­che Chormusik von Vivaldi beglei­ten wahl­los das Ambiente eines deka­den­ten Venedig. Masken und zwei­di­men­sio­na­le Papp-Rokokoröcke sind nur da, um die Gesellschaft pro­for­ma gedeckt zu hal­ten. Doch bald ent­le­digt sie sich derer und sie kann frei mit den Kurtisanen ihren Lüsten fröh­nen. Eingestreute mario­net­ten­haf­te Bewegungen stel­len die ein­zi­ge Stilisierung der fort­wäh­ren­den kon­kre­ten Anmache dar. 

Kontrastprogramm bot dann Gastchoreograph Mats Ek mit «The Place». Ein aske­ti­sches 

Inven­tar, ein Teppich mit Tisch dar­auf, ist alles, was der Meister der Psychologie nötig hat, um ein dif­fe­ren­zier­tes Bild einer Beziehung zwei­er rei­fer altern­der Menschen zu zeich­nen. Unter den Teppich kann man 

viel Vergangenes keh­ren, man kann sich gleich dazu­le­gen, wie Ana Laguna es tat, um Mikhail Baryschnikov eine Solopartie zu über­las­sen. Er rückt sich ins rech­te Licht, zumal wenn er sich auf die Tischplatte hoch­schnellt. Sonst dient
 die­se, dem Partner zuvor­kom­mend die com­brés enar­riè­res (Rückenbiegungen) abzu­fan­gen oder sich schnel­ler zum Gegenüber (mit Windmühlen-Beinen) hin­über­zu­schwin­gen. Ihre Beziehung ist so viel­sei­tig wie ihr Umgang mit dem Mobiliar. Mal schleppt sie ihn samt Teppich quer über die Bühne, mal träu­men sie Seite an Seite einer Vision ent­ge­gen, hoch oben auf dem (mit Teppich) gedeck­ten Tisch. Ihr Angesicht sil­bern erstrah­lend. Doch enden wird es umge­kehrt: Der sech­zig­jäh­ri­ge Baryschnikov tritt ab, der Tisch trau­ert mit allen Vieren gen Himmel und Ana Laguna zuckt frag­men­tiert bis das Licht erlöscht. Mats Ek hat den Tanz ein­fühl­sam auf die bei­den Stars abge­stimmt. Sie brau­chen nicht spar­sam tan­zen. Und blei­ben ehr­lich. 

Was aber hat ein Mats Ek in die­sem Ballettabend zu suchen?

www.tanzkritik.net Originaltext

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