Interviews mit Alain Platel und Foofwa

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Anlässlich der schwei­zer Uraufführung von Pitié (2009) sprach Ensuite mit dem Choreographen.

Ensuite: Tanzcompanien expe­ri­men­tie­ren mit Behinderten, inte­gra­ti­ve Tanzgruppen spries­sen welt­weit aus dem Boden und Comunity Festivals holen sie auf ihre Bühnen wie unlängst in Bern, Genf und Zürich. Umgekehrt ähneln Werke von VIP-Choreographen wie William Forsythe in ihren Installationen zuneh­mend elen­dem Gewürm. Kürzlich mutier­te der Hoffnungsträger der Schweizer Tanzszene, Foofwa d’Immobilité, zu einem Fall mit neu­ro-patho­lo­gi­schen Symptomen der Chore. Was hal­ten Sie von der Entwicklung?

Alain Platel: Ist das ein Trend? Ich ken­ne nicht Forsythes Entwicklung. Aber ich kom­me aus einem ganz ande­ren Eck. Ich bin kein Tänzer-Choreograph und habe die weni­gen Tanzkurse, die ich besuch­te, vor Ewigkeiten gemacht, wie mir scheint. Für mich ist der Umgang mit die­ser Bewegungssprache eine Notwendigkeit. Sie rührt direkt von mei­nem ursprüng­li­chen Beruf her. Ich war Heilpädagoge und arbei­te­te jah­re­lang mit schwer­be­hin­der­ten Kindern. In den ersten Choreographien, die ich unter­nahm, hat­te ich die­se Körpersprache im Hinterkopf, getrau­te mich aber noch nicht. Seit vier-fünf Jahren set­ze ich sie ein.

Wenn sich ein Trend abzeich­net, wür­de mich das nicht beun­ru­hi­gen. Das gibt es in der Geschichte der Kunst immer wie­der, dann fol­gen Kopien von Kopien…Wichtiger ist es, dass see­len­ver­wand­te Künstler über Genre hin­weg ein­an­der inspi­rie­ren. So ent­deck­ten eine bel­gi­sche Bildhauerin und ich Gemeinsamkeiten in unse­ren Werken.

Ensuite: Eine Trendwen­de dage­gen scheint sich hin­sicht­lich der Technik abzu­zeich­nen. Sie kon­sta­tier­ten das in Belgien. Die Anfänge des zeit­ge­nös­si­schen Tanzes in Flandern, sag­ten Sie – und mein­ten damit auch die berühm­te Companie Rosas? -, waren ama­teur-inspi­riert. Auch Sie tru­gen zu die­ser Bewegung bei und pro­fi­tier­ten von ihrer Offenheit gegen­über tanz­frem­dem Einfluss. In der jüng­sten Produktion dage­gen tau­chen die Tänzer mal kurz kopf­über in eine Arabesque (hin­term Rücken hoch­ra­gen­des Spielbein) und dre­hen auch noch dabei. Entdecken Sie die Virtuosität?

Alain Platel: Ja. Zu Beginn arbei­te­te ich mit Amateuren. Dann begann ich pro­fes­sio­nel­le Tänzer hin­zu­zu­zie­hen. Die Konfrontation mit ihnen war sehr frucht­bar. Die Profis staun­ten über das instink­ti­ve natür­li­che Anpacken von Herausforderungen, die Amateure über den mei­ster­li­chen Umgang der Profis damit.

Im Allgemeinen aber zen­sie­ren sich die Tänzer in der Tanzszene selbst: «ich habe kei­ne gros­sen Écartés(seit­lich gespreiz­tes Bein ent­we­der auf einem Standbein oder in der Gretsche) zu machen, denn ich tan­ze ja in einem rüt­tel-schüt­tel-zeit­ge­nös­si­schen Tanz.» Als die­se Profis aber in mei­nen Proben in den Pausen lust­voll her­vor­presch­ten und sich an den vir­tuo­sen Show-Offs ergöt­zen, ist mir klar gewor­den, was für ein Potential da schlum­mert.

Insofern ich mich mehr und mehr von den sozio-poli­ti­schen Themen abwen­de und Reisen ins inne­re Seelenleben unter­neh­me, erschliesst sich mir mit der Virtuosität ein kom­ple­xes Instrumentarium, ein Kompass, eine les­ba­re Karte, ein Echolot mit Feinstabstimmungen. Mit der mei­ster­li­chen Körperbeherrschung sind schlicht mehr Nuancen zu erfas­sen. Sobald die Tiefe und Komplexität eines Gefühls son­diert ist, wird die Technik sie wie ein Vergrösserungsglas den Zuschauern erleb­bar machen. Das ist ein Entdeckungsabenteuer für mich, denn bis­lang glaub­te ich Gefühle eher durch Musik mit­teil­bar.

Einen Schlüssel zu den Gefühlen boten mir Filmaufnahmen des Psychiaters Arthur Van Gehuchte vom Anfang des letz­ten Jahrhunderts. Die Patienten, die sich der Worte nicht bedie­nen konn­ten, liess er in der Anstalt durch freie Räume der Anstalt bewe­gen und film­te sie. Als ich das Material mei­nen Tänzern zeig­te, sahen sie sofort: die Patienten drücken ihre Gefühle über Bewegung aus. Und vie­le Episoden boten den Tänzern einen Ausgangspunkt beim Erforschen von Ausdruckformen ver­wand­ter oder ähn­li­cher Gefühle. Was ich frü­her bei der Arbeit in den Anstalten nur ahn­te, ist für mich heu­te gewiss: die Zustände (wie epi­lep­ti­sche Anfälle) die­ser Patienten rüh­ren von ihrer Hypersensibilität. Sie sind emp­fäng­li­cher für die wesent­li­chen Dinge des Lebens.

In England sind Behinderte stark in der Gesellschaft inte­griert. In den Theatern ist viel Raum bei den Zuschauern für sie reser­viert. Und sie kom­men in mei­ne Vorstellungen zuhauf. Doch ein­mal, an einer bedeut­sa­men Stelle raun­te unge­hal­ten ein behin­der­ter Zuschauer in die Stille. Wie in einem Bann. Die Aufsicht beför­der­te ihn hin­aus. Das traf mich sehr. Schade, mei­ne Tänzer waren näm­lich vom unwill­kür­li­chen Röhren sti­mu­liert. Erst wenn Zuschauer die fremd­ar­ti­gen Bewegungen und Geräusche schät­zen ler­nen, wird Integration erfolg­reich sein.

Interview mit Foofwa d’Immobilié

Inzwischen hat sich das Enfant Terrible der Schweizer Tanzszene auf die Materie gestürzt. Genauer: auf die neu­ro­lo­gisch beding­ten Symptome Chore. Als Tänzer-Choreographen hat ihn eine ganz ande­re Motivation zu die­sem Experiment getrie­ben. Nicht ein sozia­les Anliegen, mit dem man sich künst­le­risch aus­ein­an­der­setzt, wie bei Alain Platel.

Ensuite: Sind auch Sie nun auf den Zug gesprun­gen, der die Randerscheinungen der Gesellschaft ästhe­tisch aus­schlach­tet?

Foofwa: Nein, also Moden in der Kunst inter­es­sie­ren mich gar nicht. Ich expe­ri­men­tie­re an so vie­len ver­schie­de­nen Fronten gleich­zei­tig, dass ich dafür nicht anfäl­lig bin, glau­be ich.

Ensuite: Was also war Ihr Beweggrund zu die­sem recht unan­sehn­li­chen Experiment, das Konvulsionen und krampf­ar­ti­gen Zuckungen nach­geht?

Foofwa: Ich war am Gefühl die­ser Symptomatik inter­es­siert, die­ser voll­stän­di­gen Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Das ist auch die medi­zi­ni­sche Analyse von Chore: die Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Ich woll­te wis­sen, wie man sich dabei fühlt.

Ensuite: Und?

Foofwa: Das Hin- und Hergeworfensein ist beäng­sti­gend. Man ist weni­ger der Akteur als viel­mehr der Bewegte. Man fühlt sich wie ein Objekt. Und da lau­ert Gefahr. Der Leib wird gebeu­telt. Dies alles zieht auch einen ganz spe­zi­fi­schen Geisteszustand nach sich. Man spürt den Sinn für die Realität schwin­den. Das ist recht tra­gisch.

Ensuite: Viele Choreographen oder Regisseure suchen den Weg, den ein Geisteszustand über den Körper (des Darstellers) für uns Zuschauer erleb­bar bahnt, d.h. aus­drückt. Sie suchen hier den umge­kehr­ten Weg. Den Weg von der Somatisierung zurück.

Foofwa: Ja. Und beson­ders über­ra­schend war, als sie sich ver­selb­stän­dig­te. Als ich wäh­rend der Probenphase nachts auf­wach­te und in Krämpfen lag.

Ensuite: Als Tänzer-Choreographen zeich­net Sie die­ses Experiment. Was sind die Folgen? (Vergessen wir nicht, Ihre Vergangenheit birgt eine soli­de und anspruchs­vol­le Ballettausbildung…)

Foofwa: Das ist in der Tat so. Indem ich mei­ne Stücke an mir aus­pro­bie­re, wer­den sie durch mei­nen Körper gekne­tet. Mein Körper ein­ver­leibt sich jede kon­kre­te künst­le­ri­sche Auseinandersetzung und ver­staut sie in eine Art leib­li­ches Gedächtnis. Das wird gewiss mei­ne wei­te­re Arbeit irgend­wie beein­flus­sen. Der unmit­tel­bar­ste Einfluss war aber in der Probenphase sicht­bar. Meine Mitarbeiter erleb­ten mich ner­vö­ser, kraft­vol­ler, aber auch gewalt­ge­neigt…

Ensuite: Im Rahmen des Genfer Musikfestivals war Chore mit sei­nen vor Ort wal­ten­den Musikern eine Art Performance. Sah das Publikum Ihre Bewegung als Choreographie?

Foofwa: Teils-teils. Aber die­se Ambiguität war wesent­lich für das Konzept. Es war nicht aus­zu­ma­chen, ob ich krank war, schau­spie­ler­te oder einen Tanz absol­vier­te. Der Musiker, der etwas abseits das Geschehen beob­ach­te­te, wäh­rend er an Schaltern her­um­ma­nö­vrier­te, glich einem Psychiater…

erschie­nen in Ensuite Nr. 80 S. 21–23:
www.tanzkritik.net Originaltext

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