Wo Erinnerungen ver­wei­len

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Von Anna Vogelsang – Man mag sagen, dreis­sig Jahre sei­en doch noch kein Alter für eine Kunstinstitution. Solche Meinungen sind berech­tigt. Einige Kunstsammlungen füh­ren ihre Geschichte über Jahrhunderte, man­che Galerien wer­den von einer zur näch­sten Familiengeneration wei­ter­ge­reicht. Wenn wir aber rück­blickend beden­ken, dass im Jahr 1984 die Fondation Cartier als erste Unternehmensstiftung zur Förderung der zeit­ge­nös­si­schen Kunst in Frankreich eröff­net wur­de, betrach­ten wir die­ses «beschei­de­ne» Jubiläum doch ein biss­chen anders. Neuland zu betre­ten, war nie und nir­gend­wo ein­fach. Das Sammeln zeit­ge­nös­si­scher Kunst ist nicht nur schwie­rig, son­dern auch äus­serst ris­kant. Man braucht dafür Fachkenntnisse, ein brei­tes Netzwerk, finan­zi­el­le Mittel, per­fek­tes Timing und vor allem das rich­ti­ge Gespür, sonst kann man in dreis­sig Jahren nicht ein Jubiläum öffent­lich fei­ern, son­dern die Sammlung auf dem Estrich lagern.

Die Fondation wur­de von Alain Dominique Perrin, dem dama­li­gen Präsidenten von Cartier International, gegrün­det. Ursprünglich dach­te Perrin an eine Stiftung zur Vertretung und Verteidigung von gei­sti­gem Eigentum der Kunstschaffenden. Aber er muss­te fest­stel­len, dass die Idee ein Flop wäre, denn die Künstler selbst inter­es­sier­ten sich wenig für den Rechtsbeistand. Der fran­zö­si­sche Bildhauer César (César Baldaccini, 1921–1998) mein­te gegen­über Perrin: «Schau, das ist sehr nett von dir, aber ehr­lich gesagt, es wäre mir lie­ber, wenn du einen Ort schaffst, wo wir aus­stel­len könn­ten.» Und so geschah es.

Die Stiftung befand sich die ersten zehn Jahre auf dem Landgut Domain du Montcel in Jouy-en-Josas süd­lich von Versailles. Der Ort war Artist Residence, Atelier, Skulpturenpark, Bühne und Galerie in einem. Um in eine neue Dimension über­zu­ge­hen, zog die Sammlung im Mai 1994 in den Glasbau von Stararchitekt Jean Nouvel am Boulevard Raspail in Paris um: Zeitgenössischer geht es rein archi­tek­to­nisch kaum mehr. In den ver­gan­ge­nen dreis­sig Jahren wur­den mehr als hun­dert Ausstellungen gezeigt, die Werke von rund 300 Künstlerinnen und Künstlern aus der gan­zen Welt erwor­ben und über 800 Werke in Auftrag gege­ben – eine kur­ze sta­ti­sti­sche Bilanz der Kunststiftung des Unternehmens für Luxusgüter Cartier.

Hervé Chandès, der Generaldirektor der Fondation Cartier, bestä­tigt, dass wäh­rend der drei Jahrzehnte kein ein­schrän­ken­des künst­le­ri­sches Konzept für die Ausstellungen und für den Erwerb vor­ge­ge­ben wur­de. Der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Ansatz der Fondation erlaub­te, alle Facetten des krea­ti­ven Schaffens von zeit­ge­nös­si­scher Kunst, pri­mi­ti­ver Kunst oder Pop Art bis Design, Mode, Performance, Wissenschaften und Architektur dem inter­es­sier­ten Publikum zu zei­gen. Die Themen, die kei­nen Platz in klas­si­schen Museen fan­den, wur­den von der Fondation Cartier in Szene gesetzt.

Die Ausstellung «Mémoires Vives» (leb­haf­te, leben­di­ge Erinnerungen), die die erste Hälfte des Jubiläumsjahres füllt, bestä­tigt dies, denn sie ist eklek­tisch, sowohl was die Kunstgattungen als auch die Heimatorte der Künstler betrifft. «Mémoires Vives» ist ein Versuch, die Emotionalität der Erinnerungen aus der dreis­sig­jäh­ri­gen Geschichte der Fondation in einer greif­ba­ren Form zu prä­sen­tie­ren. Noch bis September wer­den die Werke von James Lee Byars, Sarah Sze, Bodys Isek Kingelez, Agnes Varda, Alessandro Mendini, Cai Guo-Quiang, Jean-Michel Othoniel, Chéri Samba, Ron Mueck, Issey Miyake, um nur eini­ge Namen zu nen­nen, gezeigt. Seit der Eröffnung wur­de die Ausstellung per­ma­nent umge­stal­tet: So ver­weil­te bis vor kur­zem das Konzeptflugzeug «Kelvin 40» (2008) von Marc Newson dort, wo neu­er­dings das U‑Boot «Panama, Spitzbergen, Nova Zemblaya» (1996) von Panamarenko stran­de­te. Die Installation «Table Piece» (1975) von Dennis Oppenheim wich dem «Animal sans tête» (2001–2002) von Vincent Beaurin. «Mémoires Vives» ist kei­ne tra­di­tio­nel­le Retrospektive oder klas­si­sche the­ma­ti­sche Ausstellung. Denn Objekte wer­den nicht nach Zeit oder Künstler oder Länder aus­ge­stellt und gewech­selt, son­dern nach einem asso­zia­tiv wech­seln­den Erinnerungsprinzip. Für die Kuratoren mögen die­se Erinnerungssprünge logisch und ver­ständ­lich erschei­nen, für die Besucher viel­leicht nicht immer nach­voll­zieh­bar. Das täg­li­che neun­stün­di­ge Videoprogramm (Filme, Diashows, Interviews oder Archivdokumentationen), das im Parterre der Fondation bei Tageslicht auf einem von David Lynch spe­zi­ell dafür kon­zi­pier­tem LED-Bildschirm gezeigt wird, sowie ein viel­sei­ti­ges Rahmenprogramm machen aus der Ausstellung ein inter­dis­zi­pli­nä­res, mul­ti­me­dia­les Ereignis.

Um die­se eher unge­wöhn­li­che Idee der Retrospektive dem Publikum näher­zu­brin­gen und zu erklä­ren, wur­de eine Website ein­ge­rich­tet. Unter der Rubrik «30 years of sto­ries» wer­den der Sammlungsprozess und die mehr­jäh­ri­gen Beziehungen zwi­schen der Fondation und den Kunstschaffenden als ein Baumquerschnitt prä­sen­tiert. Von den ersten bis zur letz­ten Zusammenarbeit zwi­schen Kuratoren und Künstlern wer­den Verbindungen gezo­gen und von jeder Zeit gibt es eine kur­ze Geschichte. So kann man stö­bern und viel­leicht die eine oder ande­re Entscheidung für eine Kollaboration begrei­fen.

Ab Oktober 2014 bis März 2015 ver­wan­deln dann die Architekten Elisabeth Diller und Ricardo Scofidio die Hallen auf dem Raspail, indem sie mit Hilfe ver­schie­de­ner Medien die Grenzen zwi­schen Architektur und Design, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ver­wi­schen. Die Erinnerungen wer­den wei­ter gewo­ben.

Wie sieht die Zukunft der Fondation aus? Nun, es wer­den neue Pläne geschmie­det: Man spricht über einen zusätz­li­chen Standort, neue Ausstellungsräume für eine per­ma­nen­te Präsentation der Sammlung, über neue Artist Residencies und über ein eige­nes Kino. Hervé Chandès meint, dass die­se Änderung des Massstabs hel­fen könn­te, das Gleichgewicht zwi­schen der kon­ti­nu­ier­li­chen Mobilität und dem Gegenteil – der Immobilität – zu fin­den.

 

Mémoires Vives / Vivid Memories
Fondation Cartier pour l’art con­tem­po­rain, 261, Boulevard Raspail, 75014 Paris
Geöffnet Dienstag 11:00–22:00 h, Mittwoch bis Sonntag 11:00–20:00 h,
www.fondation.cartier.com
Bis 21. September 2014


Bild: Takeshi Kitano, Découverte exep­ti­on­nel­le! On a retrou­vé les plans des armes secrè­tes de l’ar­mée impé­ria­le japo­nais (Ausschnitt), 2009, diver­se Materialien. Foto©Anna Vogelsang

 

Publiziert: ensuite Nr. 140,  August 2014

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