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Wirb oder

Von Peter J. Betts – Wirb oder stirb, heisst heu­te die quer­beet prak­tisch unan­ge­foch­te­ne Devise. Und oft sind die Grenzen zwi­schen Werbung und Tiefsinn kaum wahr­nehm­bar. «Ihre Ohren wer­den Augen machen!»: klingt nach einer geist­rei­chen, ori­gi­nä­ren Idee, scheint zu alle­dem auch noch aktu­ell zu sein. Tiefsinn? Eine Trouvaille? Also ein Glücksfund? Eigentlich natür­lich: Sie hören und wer­den dabei sehend. Man weiss es, aber ist es einem bewusst? Der deut­sche Hörspielpreis der Kriegsblinden kommt mir in den Sinn: Man sitzt im Dunkeln vor dem Radio oder mit geschlos­se­nen Augen – oder eben blind. Eine Autorin, Schau‑, Hörspieler, eine Regisseurin, ein Tontechniker, eine Radioanstalt, das ein­ge­schal­te­te Kästchen in der Wohnstube, zau­bern gemein­sam etwas, das sie uns über den Äther zuschicken. Der Zauber berührt die Ohren. Er schal­tet unse­re inne­ren Augen ein. Unsere indi­vi­du­el­le, höchst per­sön­li­che Welt ent­steht. Das Fernsehen wäre dem kost­ba­ren Prozess hin­der­lich. Auch Kriegsblinde hat­ten ein­mal gese­hen, eine Welt von Bildern gespei­chert. Ihnen und den mei­sten von uns wird durch die Kreativität von aus­sen und jene der Hörenden sel­ber eine Welt geschenkt, die nur mit den inne­ren Augen gese­hen wer­den kann. Sie hören: «blau, blau­grün, weiss» und erle­ben dabei – durch die Begleitgeräusche unter­stützt – den Schiffsuntergang mit, als säs­sen Sie in der Kabine des unter­ge­hen­den Schiffes mit ver­klemm­ter Türe und immer klei­ner wer­den­der Aussicht durch das Bullauge. Das Konstrukt funk­tio­niert. Und jede und jeder sieht etwas Einmaliges, Anderes. Das Wort «rot», zum Beispiel, bedeu­tet für mich etwas ande­res als viel­leicht für den Verkehrspolizisten, der den Sünder anhält, oder den Torero (vor Jahren gab es eine Ausstellung in der Berner Schulwarte unter dem Titel: «Blau ist auch eine Farbe»…). Wenn z. B. mei­ne Frau und ich das Hörspiel erle­ben, sind die Welten, die bei ihr und bei mir ent­ste­hen, ver­schie­den. Das Konstrukt funk­tio­niert. Ausser für jene, die von Geburt an blind sind und sich auf ande­re Weise «Bilder» von einer auf Sehende aus­ge­rich­te­ten Welt erar­bei­ten müs­sen; für jene, die gehör­los sind; für jene, die – zuneh­mend mehr – «offe­nen Auges nichts sehen». Aber der genia­le Satz wird wäh­rend des Lucerne-Festivals in wenig genia­lem Kontext den Zuhörenden «zuge­flü­stert». Von einem Mann: die schlei­mig-sanf­te Männerstimme eines Sprechers, der glaubt, gelernt zu haben, irgend jeman­dem irgend etwas – das weder erwünscht noch nötig ist und kaum je gebraucht wer­den kann – anzu­dre­hen, so dass man als «Opfer» erst viel spä­ter merkt, was man heim­ge­schleppt hat, und nie begreift, war­um. Und was sagt der pro­fes­sio­nel­le Schleimer? Unter dem Titel «Weltklasse auf SRF2, prä­sen­tiert von Lucerne-Festival», sug­ge­riert er, dass man zu den Erleuchteten gehö­ren wird, falls man zur rich­ti­gen Zeit das Radio ein­schal­tet (oder «jeder­zeit auf Internet unter…»): die Berliner Philharmoniker in mei­nem Wohn- oder Schlafzimmer oder auf der Toilette. Das hat auch eine gute Seite: ich muss mir in den Pausen nicht das dümm­li­che Geplapper der Edelgekleideten anhö­ren, nicht das obli­ga­te «Cüpli» oder den «Original-Schampus» klas­sen­kon­form schlür­fen. Ich kann ein­fach hören, auch mit mei­nen inne­ren Augen, was Simon Rattle oder Claudio Abbado (Weltklasse erster Güte) mit ihren Orchestern anstel­len und umge­kehrt. Und wel­che Verkäuferin, wel­cher Grundschullehrer kann oder will es sich lei­sten, immer wie­der, ein­fach so, spon­tan gewis­ser­mas­sen, nach Luzern zu fah­ren und sich auch noch eine Eintrittskarte zu kau­fen, um als Gleichwertiger unter der Elite im Zuhörerraum bei die­sem ein­ma­li­gen Erlebnis als Teil der Elite dabei zu sein, da Dabeisein alles ist? Nicht nötig: «SRF2»ermöglicht es allen, die wil­lens sind. Einmaliges: rund um die Uhr. Exklusives: für alle. Und das hat nichts zu tun mit «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», gar nichts. «Weltklasse», das sind weder Sie noch ich. Anderseits: Wer oder was macht wen oder was zur Weltklasse? Wirb oder stirb, heisst heu­te die Devise. Nicht immer sind die Aufhänger so viel­schich­tig getrof­fen wie bei SRF2. Grundsätzlich wird auch dort ange­dreht, was man nicht braucht und höch­stens eine Pseudostatusverbesserung «ver­spricht». In Bern, zum Beispiel, gab es ein recht erfolg­rei­ches Coiffeurgeschäft. Es hat den Namen behal­ten und den Besitzer gewech­selt, und sein Angebot. Im letz­ten, durch­aus unbe­stell­ten, «Mail Letter» wirbt der ein­sti­ge Coiffeurladen (heu­te eine «…Group AG» für «Haar, Kleid, Bar, Spa») für «Himmlische Kollektionen!», behaup­tet: «Es ist wie­der Fashion Zeit.» Und prä­sen­tiert «hand­ver­le­se­ne Stücke direkt vom Laufsteg». Sie las­sen bei ihrem «tra­di­tio­nel­len Prosecco» die Gaumen der BesucherInnen durch «exklu­si­ve Appetithäppchen» – ver­wöh­nen. Sie sind offen­bar auch auf ein wohl tem­po­rä­res Engagement mit einem Gastgewerbebetrieb ein­ge­gan­gen und kön­nen so eine Ferienwoche am Murtensee anbie­ten mit der Anregung: «Lassen Sie sich ver­wöh­nen wie auf den Malediven.» Das Coiffeur «Spa Team» ergänzt dabei das übli­che Angebot der Gaststätte. Nun, scheint mir, wer im Herbst sich auf die­ses Murtensee-Maledivenangebot ein­las­sen will soll Taucherbrille und Flossen zuhau­se las­sen: die Sicht unter Wasser beträgt höch­stens sech­zig Zentimeter. Ein ande­rer Unglücksvogel mit sei­ner «email cam­paign» ist «Booking.com»: regel­mäs­sig erhal­te ich – unge­fragt – die unwahr­schein­lich gün­sti­gen Angebote für Ferien auf dem gan­zen Erdball, zusam­men mit der Versicherung, dass sie (wohl Booking.com) die­ses Angebot wirk­lich nicht jedem machen, selbst­ver­ständ­lich mit dem Piktogramm eines sti­li­sier­ten Kopfes mit erho­be­nem Zeigefinger vor dem Maul und vier Buchstaben «psst!»; auch hier: ich bin jemand gaa­anz Besonderes! Und «Bally Switzerland» wirbt kon­se­quent in Englisch, z.B. mit «The Exquisite Clutch», «Objects of Desire», «The Delfina Voyage Collection» usw. Auf höf­lich-sar­ka­sti­sche Bitten (Englisch und Deutsch), einen end­lich in Ruhe zu las­sen, reagie­ren sie nicht: einen Monat spä­ter hat man das neue Mail. In der Kulturszene: Eventitis. Für den Tagesgebrauch: Abfall in «schö­ner» Verpackung. Wirb oder stirb. Von Rudolf Farner stammt der legen­dä­re Satz aus den Fünfzigerjahren: «Gebt mir eine Million, und ich mache aus jedem Kartoffelsack einen Bundesrat.» Rudolf Farner war kein Linker, im Gegenteil. Er betrieb PR, als hier­zu­lan­de das Wort unbe­kannt war; damals sprach man noch abschät­zig, naiv, aber zutref­fend von «Gunstgewerblern». Aus der Schweiz woll­te er zur Zeit des Kalten Krieges eine schlag­kräf­ti­ge Atommacht machen. Diverse Rüstungsabstimmungen hat sein PR-Büro – zu Beginn der Fünfzigerjahre gegrün­det – gewon­nen. Sein Büro galt lan­ge Zeit als eine der mäch­tig­sten und wich­tig­sten Institutionen des Landes. Schriftsteller wie Niklaus Meienberg bis­sen sich an Oberst Dr. Rudolf Farner die Zähne aus. Natürlich war Farner ein erbit­ter­ter und erfolg­rei­cher Gegner der GSoA. Wie steht es um Economiesuisse? Man kann sich lustig machen über die dümm­li­che Werbeaktion bei SRF2, über Wahnvorstellungen im Frisiersalon, über die Abfallverwerter im Reisegeschäft, über die Lederfabrikanten, die nicht bei ihrem Leisten geblie­ben sind und sich zum inter­na­tio­na­len Konzern gemau­sert haben – aber, wie min­de­stens in den letz­ten sech­zig Jahren, die Werbung hat das Sagen und die Macht. Während die­ser letz­ten sech­zig Jahre hat sich so eine sehr eigen­ar­ti­ge Kultur der Macht ent­wickelt: das Gunstgewerbe zieht die Fäden in allen unse­ren Lebensbereichen. Auch in den vom Volk gewähl­ten Gremien gibt es fast nur abhän­gi­ge Kartoffelsäcke: Hampelfrauen (Männer sind selbst­ver­ständ­lich mit­ge­meint) – Marionettentheater. Das Volk klatscht. Politik, ein Spielfeld für die Werbung? Wundert es Sie, wenn dabei die Kulturpolitik, der Kulturjournalismus an Eventitis erkrankt sind. Wirb oder stirb? Stirb oder wirb? Was für Optionen!

Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2013